Schwierigkeiten von gläubigen autistischen Menschen

Guten Tag!

Vor einer ganzen Weile habe ich schon mal einen Beitrag zu dem Thema Können Autisten gläubig sein? geschrieben. Aber darum soll es heute nicht gehen. Heute möchte ich über Schwierigkeiten berichten, die gläubige autistische Menschen haben können. Ich kann in allererster Linie nur für mich und für den "Alltag" in christlichen evangelischen Freikirchen sprechen, da ich keine Erfahrungen mit anderen Glaubensrichtungen und den Gegebenheiten in deren Gotteshäusern habe. Ich schieße einfach mal los. :)

Wortwörtliches Sprachverständnis von Autist: innen

Autistische Menschen neigen dazu, Informationen bzw. Kommunikation, die an sie herangetragen wird (egal ob schriftlich oder mündlich) wortwörtlich aufzufassen. Sie haben Schwierigkeiten Ironie, Sarkasmus, Witze und Metaphern richtig zu deuten. Schlicht weil sie nicht merken, dass eigentlich etwas anderes dahinter steckt, als es auf den ersten Blick scheint. Wer schon einmal in der Bibel gelesen hat, wird aber feststellen, dass die Bibel fast ausschließlich mit Sprachbildern und Metaphern arbeitet - ein echtes Problem für autistische Menschen. Ich habe schon mehrere Bibelübersetzungen probiert (dank des digitalen Zeitalters ist es ja inzwischen problemlos möglich, zwischen den einzelnen Übersetzungen in Sekundenschnelle hin- und her zu switchen und die zu nutzen, die man in dem Moment am besten versteht) und dennoch sitze ich immer wieder da und denke mir: "Äääh... ???" Ich lese etwas und kann mir das zumindest wortwörtlich vorstellen, aber was will man mir damit sagen?? 

Ich weiß ganz genau, dass es eine Metapher ist, aber was bringt mir das, wenn ich sie nicht übersetzen kann? Ich sitze teilweise auch im Lobpreis (Lob Gottes durch Gesang und Musik) und kann mich überhaupt nicht darauf einlassen, weil ich mich von dem wörtlichen Verständnis ablenken lasse. Ein Beispiel "Wir tragen dich (Jesus)!" Wie jetzt - tragen? In der Bibel ist doch nirgendwo eine Stelle, wo beschreibt, dass wir Jesus irgendwo hingetragen haben?! Ich musste mitten im Lobpreis meine Freundin fragen, die mir dann gesagt hat, dass damit gemeint ist, ihn im Herzen zu tragen, also unsere Gedanken und Handlungen an Jesus ausrichten, was für mich schon wesentlich mehr Sinn gemacht hat. 

Was hilft bzw. könnte helfen?

Es ist komplett utopisch, aber: Ich würde mir eine Autist: innen-Bibel wünschen, die ohne sprachliche Bilder arbeitet. Die ausschließlich beschreibt, was die Menschen in der Bibel mit Gott im Allgemeinen und Jesus im Besonderen erlebt haben und welche besonderen Dinge passiert sind, sowie welche Ratschläge für das alltägliche Leben gegeben werden, bzw. was Gott sich für ein Verhalten von uns wünscht. Eine Alternative, weil es ohne sprachliche Bilder vermutlich nicht geht, wäre dass direkt hinter dem sprachlichen Bild eine Erklärung steht, was damit gemeint ist und was es quasi auf "deutsch" bedeutet. Das würde die Bibel wesentlich fetter machen (sie ist ja jetzt schon dick), aber erstens ist das zumindest bei der digitalen Variante kein Problem und zweitens würde es autistischen Gläubigen das Verständnis wesentlich erleichtern und das Wort Gottes besser zugänglich machen.

Ansonsten hilft es mir eigentlich immer ganz gut, Andachten und Predigten anzuschauen, weil dort in der Regel das sprachliche Bild übersetzt wird und erklärt wird, wie es alltagstauglich zu verstehen und umzusetzen ist. Es gibt ja schließlich Gott sei Dank auch nichtautistische Menschen, die diese Sprachbilder verstehen und dann erklären. :)


Es sind häufig zu viele Menschen auf einem Haufen.

Autistische Menschen stehen ja bekanntermaßen eher nicht so auf größere Menschenmengen. Das liegt unter anderem daran, dass sie Probleme mit der sozialen Interaktion haben. Viele Kirchen bzw. Gemeinden sind allerdings ziemlich groß (haben sehr viele Mitglieder). Das kann Menschen mit Autismus-Spektrum tatsächlich abschrecken und dafür sorgen, dass sie nicht trauen, an Gottesdiensten in Präsenz teilzunehmen, was schade ist, weil das natürlich auch den Austausch mit anderen gläubigen Menschen einschränkt. Ich habe in einer wirklich kleinen Gemeinde zum Glauben gefunden, allerdings bei Dresden, wo ich meine Ausbildung absolviert habe. In Leipzig habe ich noch keine passende Gemeinde für mich gefunden - typisch Großstadt sind die Gemeinden hier wirklich groß, bzw. ist der Altersdurchschnitt in den kleinen Gemeinden deutlich über 50 Jahre und ich bin gerade 27 Jahre alt geworden. Ich denke, ihr wisst was ich meine. Aus dem Grund nutze ich jede Chance, wo ich nach Dohna fahren kann und dort Gottesdienste in meiner "alten Gemeinde" besuchen kann. 

Was hilft bzw. könnte helfen?

Hier hat Corona ausnahmsweise mal einen echten Vorteil gehabt. Ja: ernsthaft. Denn durch die Pandemie haben fast alle Gemeinden Onlinegottesdienste eingeführt. Es gibt sogenannte Livestreams, die dafür sorgen, dass man den Gottesdienst ganz bequem von zu Hause verfolgen kann, ohne die Barriere dass man plötzlich so viele Menschen um sich rum hat. Außerdem kann man die Predigten meist nachgucken bzw. nachhören, was den Vorteil hat, dass man die Predigt in seinem eigenen Tempo verfolgen und verarbeiten kann, weil man ja jederzeit auf Pause drücken kann. Den Pastor/Pfarrer kann man nicht einfach mal eben auf Pause stellen. 😂 Ihr wisst schon wie ich das meine. Meine absolute Bitte ist: auch wenn die Zahlen fast überall rückläufig sind: bitte behaltet dieses zusätzliche Angebot auch nach der Pandemie bei. Das sorgt für unglaublich viele Menschen für Barrierefreiheit, nicht nur für Autisten sondern auch für zum Beispiel Menschen mit Angststörungen oder Sozialphobie. Denn so haben sie die Chance einen Gottesdienst zu erleben, aber in ihrer sicheren Umgebung zu bleiben. Richtig toll wäre natürlich, wenn man den Livestream in soweit ausbauen könnte, dass vielleicht sogar der Lobpreis mit drin ist...

Ein anderer Kompromiss wäre, dass es ein extra Raum gibt, in dem Menschen die Schwierigkeiten mit der Situation haben, dass zu viele Menschen um sie herum sind, den Gottesdienst für sich verfolgen können, aber eben trotzdem vor Ort sind um sich hinterher mit einer kleinen Anzahl an Leuten auszutauschen. Das ist ja technisch eigentlich kein Problem... 


Zu viele Reize lenken von der Predigt ab.

Viele Menschen = viele Reize (Stifte klicken durch Mitschreiben der Predigt, Ablenkung weil vielleicht jemand rausgeht, umherrutscht, sprechen mit anderen Leuten) = Ablenkung. Autist: innen haben eine Reizfilterschwäche, was bedeutet, dass sie Schwierigkeiten haben, wichtige Dinge von unwichtigen zu trennen. Sie nehmen alle Reize in gleicher Intensität wahr und werden dadurch vom wesentlichen (hier: Predigt) abgelenkt. Das Problem kann aber behoben werden:

  • Es könnte helfen, die Stimme des Pastors / Pfarrers direkt auf dem Ohr zu haben. Zum Beispiel über Kopfhörer die mit dem Mikro gekoppelt sind. Es gibt aber auch sogar sogenannte FM-Anlagen, die die Hintergrundgeräusche ausblendet und nur die Stimme des Sprechenden direkt aufs Ohr überträgt. Eigentlich ist sie für Hörgeschädigte mit Hörgerät gedacht, es gibt sie aber auch für Hörende, da gibt es noch ein Zusatzstück, dass man wie Kopfhörer ins Ohr stecken kann. Die Kopfhörer würden aber schon extrem helfen. Und zwar nicht nur Autist: innen, sondern auch z. B. Menschen mit ADHS/ADS oder Konzentrationsschwäche, aber logischerweise auch Hörgeschädigten.
  • schriftliche Zusammenfassung was in der Predigt gelaufen ist, damit das noch mal nachlesen kann nach der Predigt (Ein Konzept ist ja meist ohnehin da - die wenigsten predigen völlig frei und ohne Notizen...)
  • Predigten zum Nachhören auf youtube oder Website oder Podcast-Dienst stellen

Austausch mit anderen Gläubigen häufig schwierig

Nicht alle Autist: innen wollen sich völlig abschotten und haben überhaupt keinen Bock auf Kontakt zu den anderen Gemeindemitgliedern. Ich zum Beispiel wünsche mir das häufig sogar richtig doll, scheitere aber immer wieder an meinem Autismus. Ich möchte mit anderen über Gott sprechen und über ihre Erfahrungen. Das Problem ist, dass ich meistens sehr wahrscheinlich komplett anders wirke. Ich bin oft ziemlich aufgeregt wenn ich mit anderen Menschen in Kontakt kommen möchte, besonders wenn ich diese Menschen noch nicht so gut kenne oder nur selten sehe. Das führt dazu, dass ich sie meist gar nicht erst anspreche. 🙈 Aber selbst wenn ich angesprochen werde, ist das noch kein Garant dafür, dass die Kommunikation glückt. Denn ich kann kein Smalltalk und weiß außerdem nicht worüber man so sprechen könnte, dazu kommt die Aufregung - dadurch antworte ich meist sehr kurz und knapp, und stelle keine Anschlussfrage, wodurch das Gespräch meist nicht über "Hallo" bzw. "Bist du gut hergekommen, was machst du gerade so?" hinausgeht, obwohl ich das so gern tun würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich abweisend wirke, aber das will ich überhaupt nicht, ehrlich nicht. Ich kriege es nur nicht besser hin. :-( Leider kommt es auch vor, dass ich nach dem Gottesdienst einfach abhaue, nicht mal tschüss sage, weil ich die Leute so schlecht kenne, dass ich mich absolut nicht traue mit ihnen in Kontakt zu treten, obwohl ich am Anfang des Gottesdienstes genau das vor hatte.  Ich könnte mir vorstellen, dass auch andere autistische Menschen diese "Baustelle" haben. 

Was könnte helfen?

Es müsste in allen Gemeinden einen Guide für Menschen geben, die Schwierigkeiten mit der sozialen Interaktion haben, der ihnen hilft, mit den anderen in Kontakt zu kommen. Der zum Beispiel mitgeht und die Anbahnung des Gesprächs übernimmt und darüber aufklärt, dass Autismus vorliegt und die Kommunikation dadurch schwieriger ist, aber das Interesse daran durchaus gegeben ist. Eine andere Möglichkeit wären vielleicht auch Anstecker mit der Aufschrift "Ich möchte angesprochen werden und mich austauschen!" Das nimmt die Hürde, selber auf die Menschen zugehen zu müssen. Und ist vor allem auch für die anderen Gemeindemitglieder praktisch, weil sie dann wissen, dass es überhaupt Sinn macht. 

Was könnte gläubigen Autist: innen sonst noch helfen?
  • Feste Ansprechpartner, die (fast) immer zur Verfügung stehen, falls Fragen oder Schwierigkeiten auftreten. An die gewöhnen sich selbst die schüchternsten Menschen und haben so eine gewisse Sicherheit.
  • Es sollte grundsätzlich auf der Website der reguläre Gottesdienstablauf veröffentlicht werden. Das dient der Vorhersehbarkeit und spendet Sicherheit. 
  • In der Gemeinde sollte jegliche Kommunikationsform akzeptiert werden (sowohl mündlich als auch schriftlich). In Dohna zum Beispiel ist es wunderschön. Man kann einfach mit Kommunikationskarte oder Notizbuch oder Zettel auf Personen zugehen und die Leute antworten ganz normal darauf, als wäre die Frage mündlich an einen herangetragen worden. Dennoch versuche ich es eigentlich dort immer mit sprechen, weil es dort auch nicht schlimm ist, wenn ich unflüssig spreche, die Leute nehmen sich die Zeit und hören zu. Eine wundervolle Gemeinschaft.

Ich wünsche euch einen schönen Tag.
Anne

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