Hallo ihr Lieben!
Wie ich bereits in einem älteren Blogbeitrag (Autist(in) oder Hochsensibel) geschrieben habe, kann es Psychologen / Psychiatern aufgrund der Ähnlichkeit zu anderen psychischen Erkrankungen schwerfallen, Autismus korrekt als solchen zu identifizieren. Heute möchte ich euch ein weiteres Krankheitsbild vorstellen, welches immer wieder dazu führt, dass Menschen im Autismus-Spektrum falsch diagnostiziert werden: die Zwangserkrankung.
Was ist eine Zwangserkrankung?
Betroffene einer Zwangserkrankung leiden darunter, dass sie wiederkehrende belastende Gedanken oder den Drang haben, bestimmten Handlungen wieder und wieder nachzukommen. Es gibt verschiedene Formen, wie sich diese Erkrankung auswirken kann.
Kontrollzwang
Ursache für einen Kontrollzwang ist häufig ein sogenannter Zwangsgedanke. Ein Beispiel kann sein: "Habe ich den Herd wirklich ausgemacht? Wenn ich ihn vergessen habe, könnte ich daran Schuld sein, dass das Haus abbrennt!!" Reaktion darauf: die Person geht los und kontrolliert, ob der Herd ausgeschaltet ist. Soweit so normal. Die Unsicherheit, ob der Herd ausgeschaltet ist / das Bügeleisen wirklich aus ist, der Föhn ordnungsgemäß aus der Steckdose gezogen wurde, haben sicher alle Menschen schon mal erlebt. In so einem Fall nachzuschauen, ist meines Erachtens auch eine adäquate Reaktion darauf. Schließlich sind wir alle nur Menschen und können auch mal etwas vergessen. Zwangserkrankten mit Kontrollzwang genügt ein einmaliger Gang durch die Wohnung mit Kontrolle der jeweiligen "Gefahrenbereiche" nicht, sie müssen wieder und wieder durch die Wohnung gehen und kontrollieren, ob die Gefahr wirklich eliminiert ist, weil sie sich selbst nicht ausreichend vertrauen. Das führt nicht selten dazu, dass sie sich wirklich mehrere Stunden damit beschäftigen, den immer gleichen Kontrollgang zu absolvieren, ehe sie sich einigermaßen sicher sind, dass wirklich nichts passieren kann.
Wasch-/Putzzwänge
In diesem Fall leiden die Erkrankten unter der unfassbaren Angst, sich durch Berührung mit bestimmten Substanzen oder Erregern mit einer lebensgefährlichen Erkrankung anzustecken, oder gar zu sterben. Entsprechend versuchen sie alles, um "verdächtige" Gegenstände zu meiden. Gelingt das nicht, beginnen sie sich intensiv zu waschen und zu desinfizieren. Ist das aus ihrer Sicht nicht ausreichend, kann es sogar passieren, dass z. B. der Pullover, der mit der verdächtigen Substanz in Berührung kommt, weggeworfen werden muss. Die Idee, sich die Hände zu waschen, wenn man mit etwas Schmutzigem in Berührung kommt, ist ja eigentlich natürlich und macht absolut Sinn. Das Problem ist wie beim ersten Beispiel auch, dass einmal Hände waschen oder desinfizieren des Körperteils, das mit dem "kontaminierten Gegenstand" in Berührung gekommen ist, bei Weitem nicht ausreicht. Die Angst vor Ansteckung ist derart intensiv, dass die Betroffenen häufig stundenlang Hände waschen, desinfizieren, etc. müssen. Das geht natürlich einerseits ordentlich ins Geld, weil Seifen, Desinfektionsmittel und Co. natürlich auch kosten, zum anderen ist es aber auch einfach schädlich für die Haut und zu allem Überfluss einfach pure Zeitverschwendung. Denn natürlich steckt man sich nicht an, wenn man mit einem Schuh in einen Kaugummi getreten ist und diesen Schuh dann beim Ausziehen berührt.
Ritualzwänge
Betroffene dieser Zwangsstörungsform sind der festen Überzeugung, das Ihnen oder ihren Angehörigen etwas ganz schreckliches passiert, wenn sie nicht ganz bestimmte Rituale einhalten. Das kann zum Beispiel sein, dass sie nicht auf die Fugen auf dem Gehweg treten dürfen, oder dass sie Strecken nur in einer ganz bestimmten Abfolge absolvieren können, z. B. drei Schritte vorwärts, ein Schritt nach links, im Kreis drehen und von vorne. Es kann aber auch sein, dass sie eine Handlung mit einer gewissen Häufigkeit begehen müssen. So können sie beispielsweise erst das Haus verlassen, wenn sie genau 40x kontrolliert haben, ob der Herd auch wirklich aus ist, oder sie sind erst dann von der Kontaminierung befreit, wenn genau 35x die Hände in derselben Reihenfolge gewaschen wurden.
Warum werden Autisten manchmal versehentlich mit einer Zwangserkrankung diagnostiziert?
Das Zauberwort lautet: stereotype Verhaltensweisen. Eines der wichtigsten Diagnosekriterien für Autismus-Spektrum-Störungen. Unter stereotypen Verhaltensweisen versteht man ein Verhalten, das immer wieder und auf dieselbe Art und Weise wiederholt wird. Dieses Verhalten kann auf Außenstehende zwanghaft wirken und erscheint in der Regel sinnlos. Wenn autistische Menschen in diesem Verhalten unterbrochen werden, reagieren sie darauf in der Regel ungehalten, es kann bis zu Wutanfällen führen. Auf den ersten Blick ähneln sich also die Verhaltensweisen von Zwangserkrankten und Menschen im Autismus-Spektrum. Zumal auch Zwangserkrankte recht ungehalten reagieren können, wenn sie in ihrem Zwangsverhalten unterbrochen werden.
Außerdem fällt es Zwangserkrankten und Menschen im Autismus Spektrum schwer, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten. Beide Personengruppen sind häufig eher in sich gekehrt und lieber für sich - was aber selbstverständlich nicht auf alle zutrifft.
Worin liegt der Unterschied?
Der erste entscheidende Unterschied ist, dass autistische Menschen sich mit ihren Ritualen wohlfühlen. Sie haben nicht das Gefühl, dass sie diese oder jene Dinge tun müssen, damit nichts schlimmes passiert, sie tun es freiwillig, weil es ihnen gut tut. Es beruhigt sie und schafft Sicherheit. Dadurch wird die Welt für sie ein Stück weit vorhersehbarer. Sie sehen überhaupt kein Problem in diesem Verhalten, sondern setzen es bewusst ein, weil sie sich wohl damit fühlen. Für Zwangserkrankte dagegen liegt in ihrem wiederholenden Verhalten keineswegs Entspannung - es ist nur einfach das vermeintlich kleinere Übel zu den Problemen, die auf sie zukommen würden, würden sie den Zwangshandlungen nicht nachkommen. Sie werden durch die blanke Panik angetrieben. Wohltuend sind die ritualisierten Verhaltensweisen für sie leider gar nicht.
Auch die Gründe weswegen es beiden "Patientengruppen" (Autismus ist keine Krankheit im eigentlichen Sinne) eher Schwierigkeiten im Aufrechterhalten von sozialen Kontakten sind und sich lieber zurückziehen, unterscheiden sich stark. Für autistische Menschen sind soziale Kontakte häufig anstrengend, weil die Mehrzahl der Menschen um sie herum neurotypisch sind. Sie verwenden wie selbstverständlich Körpersprache und Sprachbilder und sind für autistische Menschen teilweise einfach verwirrend im Verhalten. Das liegt weniger daran, dass die neurotypischen Menschen irgendetwas falsch machen im Umgang mit Autisten - das Gehirn von autistischen Menschen verarbeitet Informationen und Reize einfach anders. Zwangserkrankte Menschen dagegen meiden andere Menschen dagegen, weil diese ihre Zwangshandlungen häufig nicht nachvollziehen können. Sie gehen davon aus, dass sie ihren betroffenen Mitmenschen am besten helfen können, in dem sie diese von den Zwangshandlungen abhalten (was tatsächlich in gewisser Weise nicht falsch ist), für die Betroffenen dagegen bedeutet die Unterbrechung quasi den Weltuntergang. Man mag gar nicht daran denken, was jetzt mit der Cousine passiert, wo sie auf die Fuge getreten sind... Das Konfliktpotenzial ist immens.
Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Störungsbildern überhaupt ist aber, dass Zwangserkrankte in der Regel keine Symptome wie Reizüberflutung beschreiben, sie können meistens problemlos die Körpersprache ihrer Mitmenschen deuten, verstehen Sprachbilder ohne Schwierigkeiten, sie wissen in der Regel ganz genau, welche sozialen Regeln es im Alltag gibt und halten diese, wenn der Zwang nicht gerade entgegensteht eigentlich mühelos ein. Was ich damit sagen will: nur weil sich einzelne Symptome einer Zwangserkrankung mit denen vom Autismus auf den ersten Blick ähneln, so haben die beiden Störungsbilder doch überhaupt nichts miteinander zu tun, weil erstens beim Autismus noch andere Symptome dazukommen, die bei Zwangserkrankten in der Regel nicht anzutreffen sind und zweitens der Grund für die Symptome völlig anders ist.
Fazit
Heute soll das Fazit eine Bitte an Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater sein: Bitte schaut genau hin, welches Störungsbild der Patient vor euch wirklich hat. Das ist für die richtige Behandlung unabdingbar. Denn was dem einen Klientel hilft, ist für die andere Patientengruppe quasi eine Vollkatastrophe. Menschen mit Zwangserkrankungen müssen lernen, dass ihnen auch ohne das Durchführen der Zwangshandlungen keine Gefahr droht und sie auch nicht für Unglück anderer sorgen. Das geht nur, wenn sie sich mit intensiver psychologischer Betreuung mit den angstbesetzten Situationen konfrontieren und danach den Zwangshandlungen aktiv nicht nachkommen. Bei ihnen ist es also tatsächlich wichtig, dass das Verhalten verhindert wird - immer natürlich unter der Bedingung, dass die Patienten psychologisch intensiv dabei betreut werden. Wenn man autistischen Menschen dagegen das Stimming untersagen, oder ihre Rituale durchbrechen würde, würde man ihnen eine hilfreiche Ressource entziehen. Denn nichts anderes ist Stimming. Mithilfe dieser Verhaltensweisen gelingt es autistischen Menschen im günstigsten Fall sich selbst zu beruhigen. Außerdem benötigen autistische Menschen ganz andere Unterstützung, um eine Verbesserung ihres Wohlbefindens zu erreichen. Sie müssen lernen, sich selbst zu akzeptieren und Techniken beigebracht bekommen, wie sie stressarm und ohne Reizüberflutung durch den Alltag kommen.
Habt einen schönen Tag!
Anne
Anne
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