Hallo ihr Lieben!
Ich arbeite an einer Schule für hörgeschädigte und gehörlose Schüler. Da ein Großteil unserer Kinder und Jugendlichen davon profitiert, wenn man mit ihnen über die Gebärdensprache oder lautsprachbegleitende Gebärden kommuniziert, werden an unserer Einrichtung sowohl für die Klassen, als auch für die Mitarbeiter regelmäßig Gebärdensprachkurse angeboten. Auch ich habe mich bereits daran versucht, bin aber aufgrund des Autismus leider daran gescheitert. Heute möchte ich darauf eingehen, warum nicht nur hörgeschädigte und gehörlose Menschen von der Gebärdensprache oder lautsprachbegleitenden Gebärden profitieren können, sondern auch Menschen im Autismus-Spektrum und warum es für Menschen mit diesem Störungsbild gleichzeitig so schwierig sein kann, Gebärdensprache zu erlernen.
Was ist die Gebärdensprache / was sind lautsprachbegleitende Gebärden?
Zu allererst: es gibt nicht DIE Gebärdensprache. Genau wie es in der gesprochenen Sprache auch der Fall ist, benutzen unterschiedliche Länder eine unterschiedliche Gebärdensprache. Auch innerhalb Deutschlands unterscheiden sich die Gebärden je nach Region - unter Hörenden: das ist mit Dialekten zu vergleichen. An unserer Schule wird die Deutsche Gebärdensprache - kurz DGS genutzt.
Die Deutsche Gebärdensprache ist keine Unterform der deutschen Lautsprache, sondern unterscheidet sich gravierend - die Grammatik ist beispielsweise eine ganz andere, der Satzbau ist anders, manche Wörter werden gar völlig weggelassen, es gibt ein eigenes Alphabet - nämlich das Fingeralphabet, ... Sie ist also eine Sprache die komplett eigenständig neben der deutschen Lautsprache existiert. Die Besonderheit ist, dass sie gänzlich ohne sprechen funktioniert. Stattdessen wird ausschließlich über (festgelegte) Mimik und Gestik gearbeitet - logisch, sonst könnten Gehörlose / Hörgeschädigte ja nichts damit anfangen. Bei lautsprachenbegleitenden Gebärden wird zu jedem gesprochenen Wort eine passende Gebärde gemacht. Sinn und Zweck der lautsprachbegleitenden Gebärden ist es, hörgeschädigten Menschen die deutsche Grammatik näher zu bringen. Wozu das Ganze? Hörgeschädigten Menschen fällt die korrekte Anwendung der Grammatik der deutschen Sprache häufig schwer - was daran liegt, dass die DGS (also die i. d. R. von ihnen genutzte Sprache) nun mal eine gänzlich andere Grammatik hat.
Nachteil der Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG) ist natürlich, dass die Kommunikation relativ lange dauert. Sie ist also nicht in jeder Situation geeignet. Deswegen gibt es noch eine dritte Form: Lautsprachenunterstützende Gebärden. Dabei wird keine Rücksicht auf die Grammatik genommen, sondern sie dient hauptsächlich dazu, hörgeschädigten Menschen zu helfen, die gesprochenen Informationen zu verstehen. Viele Hörgeschädigte können nämlich vom Mundbild ablesen, was ihr hörendes Gegenüber gerade sagt, das funktioniert jedoch nicht zu 100 %. Deswegen kann es helfen, wenn die wichtigsten Satzinhalte in Gebärden übersetzt werden.
Warum dürfte es autistischen Menschen schwerfallen, die DGS zu lernen?
Wer diesen Blog schon länger verfolgt, bzw. sich mit Autismus auskennt weiß, dass autistische Menschen nicht besonders begabt darin sind, Gestik und Mimik bei ihren Gegenübern zu erkennen. Das liegt an dem von mir häufig verwendeten Vergleich des anderen Betriebssystem, mit dem das autistische Gehirn im Gegensatz zum neurotypischen Gehirn arbeitet. Körpersprache und Mimik sind für sie wie eine Art eigene Fremdsprache, die sie nicht intuitiv verstehen, sondern aktiv darüber nachdenken und analysieren müssen, was sie sehen. Einige Gebärden sind tatsächlich sogar für autistische Menschen relativ einleuchtend - weil man sie theoretisch auch im Alltag verwenden würde. Ich kann das schlecht beschreiben.
Ich habe bereits mehrere Gebärdensprachkurse ausprobiert und habe leider immer wieder die Erfahrung gemacht, dass meine neurotypischen Mitstreiter irgendwie deutlich schneller Fortschritte gemacht haben. Anfangs bin ich immer noch relativ gut zurecht gekommen, was vermutlich auch daran lag, dass ich ja bereits einen gewissen Wortschatz aus dem vorangegangenen Kurs hatte, aber dann ist es immer so gewesen, dass die anderen Kursteilnehmer deutlich besser zurechtgekommen sind. Ich hätte mir eigentlich jede einzelne Gebärde detailliert aufschreiben müssen, um diese dann auswendig lernen zu können. Den anderen (übrigens neurotypischen) Kursteilnehmer kamen auch ohne diese Notizen zurecht und so hatte ich das Gefühl, die anderen mit meiner Schreiberei aufzuhalten. Außerdem ging irgendwie alles zu schnell. Ich hätte wesentlich mehr Wiederholung derselben "Vokabeln" benötigt, bevor mir die nächsten vermittelt werden. Das ist ja beim "normalen" Fremdsprachenunterricht wie z. B. Englisch auch so. Es werden die Vokabeln vermittelt und dann wird eine ganze Weile mit denselben Begriffen in den unterschiedlichsten Varianten. Erschwerend kam aber auch noch hinzu, dass es mir große Probleme bereitet hat, die Gebärden nachzuahmen. Das liegt daran, dass bei autistischen Menschen die Spiegelneuronen nicht so stark ausgeprägt sind, wie bei neurotypischen Menschen.
Zwischenfazit: die Gebärdensprache ist für autistische Menschen quasi eine doppelte Fremdsprache, weswegen es für sie grundsätzlich schwieriger ist, sie zu erlernen.
Wie könnte die DGS autistischen Menschen ohne Hörschädigung trotzdem helfen?
Angenommen man hat nun einen normalhörenden autistischen Menschen, der es gelernt hat, die Gebärdensprache zu verstehen: in welchen Situationen könnte die Gebärdensprache für diesen Menschen eventuell hilfreich sein?
Zum einen muss man wissen, dass Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung eine Reizfilterschwäche haben. Das bedeutet, sie können für sie relevante Reize nicht so gut von anderen in ihrer Umgebung befindlichen Reizen trennen. Ein passendes Alltagsbeispiel: in einem Raum befinden sich zwei Kollegen - der Autist und noch ein weiterer Mensch. Zufällig bekommen sowohl der autistische Mensch als auch der Kollege jeweils "Kundschaft". Es finden demzufolge zwei Gespräche parallel statt. Ich spreche aus Erfahrung: je nach Tagesform kann das nebenbei geführte Gespräch dazu führen, dass man seinem eigenen absolut nicht mehr folgen kann. Weil man einfach auf beiden Ohren mit derselben Lautstärke zwei akustische Signale empfängt. In solchen Momenten wäre die lautsprachunterstützende Gebärde aus meiner Sicht sehr hilfreich, weil man dadurch eben die Möglichkeit hat, sich auf eine Reizart zu konzentrieren, die in dem Moment nur einmal vorherrscht.
Eine andere Situation in denen kurze knackige Gebärden sinnvoll sein können wäre, wenn der autistische Mensch gerade eine Reizüberflutung hat. Es ist nichts anstrengender, als wenn einen im Status einer Reizüberflutung jemand versucht, mich durch permanentes Rufen meines Vornamens zu "erreichen", damit ich irgendeiner Handlung nachkomme, die der Neurotyp gerade für sinnvoll erachtet. Wesentlich besser würde es funktionieren, wenn man mich einmal antippt, einen super knappen sprachlichen Befehl gibt und die passende Gebärde dazu zeigt. Selbst wenn ich nicht mehr in der Lage bin zuzuhören, ist die Chance, dass ich noch irgendwie kooperieren kann, in jedem Fall größer wenn ich nur eine Geste verarbeiten muss, als wenn man mir in ganzen Sätzen versucht irgendetwas zu erzählen. Meine Freundin und ich nutzen das manchmal in der Straßenbahn, wenn ich gestresst bin. Sie sagt dann nur einmal kurz: "Anne?" und deutet meistens auf die Tür - also dass aussteigen angesagt ist, oder sie gibt mir einfach nur ein Zeichen, wie viele Stationen wir noch fahren, bevor wir aussteigen, wenn sie glaubt, dass ich gerade in meiner Welt abgetaucht bin. Überraschenderweise bekomme ich aber häufig noch sehr genau mit, wo wir uns gerade befinden... In jedem Fall ist es aber stressärmer...
Welche Situationen könntet ihr euch noch vorstellen, bei denen Gebärden auch gut hörenden autistischen Menschen weiterhelfen könnten? Schreibt es gern in den Kommentarbereich - und ansonsten: habt ein schönes Wochenende oder XYZ - je nachdem wann ihr den Beitrag lest.
Anne
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