Autismus und Safe Foods - die Sache mit den Rezeptänderungen

Hallo!

"Was wollen wir heute / am Mittwoch essen?" Eine völlig gewöhnliche Frage, wie sie in den meisten Familien regelmäßig besprochen wird, wenn es darum geht, gemeinsam z. B. das Mittagessen zu planen. Puh... Schwierige Frage, es gibt so viele leckere Rezepte, die man alle mal wieder kochen könnte. Meist wird es letztendlich auf das Lieblingsessen der Familienmitglieder hinauslaufen, manchmal kommt aber auch etwas völlig neues auf den Tisch, weil zum Beispiel die Schwester ein neues Gericht auf Instagram entdeckt hat. Es gibt aber autistische Menschen, denen die Frage seehr leicht fällt, weil die Auswahl an Gerichten / Lebensmittel die in Frage kommen, sehr gering ist. Sie haben sogenannte Safe Foods, Lebensmittel, die von Geschmack und Mundgefühl für sie tolerierbar sind. Ich zum Beispiel habe auch meine Safe Foods, ich habe eigentlich mein komplettes Leben lang zum Abendbrot immer nur Schnitte mit Butter und Schinken / Zaziki gegessen, dasselbe gab es zum Frühstück (manchmal auch Cornflakes), und ansonsten so ein paar Standartgerichte wie zum Beispiel Nudeln mit Tomatensoße, Spinat mit Kartoffeln und Ei, Griesbrei, Milchreis, Suppe, etc. Aber an sich habe ich nicht viele Lebensmittel, die ich zu mir nehme. 

Im BBW Dresden ging das Problem teilweise schon beim Frühstück los. Ich habe nur Baguettebrötchen oder im Notfall Toast gegessen. Wehe die hatten Lieferschwierigkeiten und es gab statt Baguettebrötchen nur Kaiserbrötchen... Das konnte in komplettes Chaos ausarten und mich völlig aus der Bahn werfen. Die liebe Kassenfee war aber unfassbar bemüht und verständnisvoll. Wenn sie gemerkt hat, dass die Brötchen knapp werden, hat sie mir immer zwei zurückgelegt (das hat sie auch mit ihren Kolleg: innen abgesprochen), oder sie hat mir direkt an der Kasse einen Teller mit Weißbrot bereitgestellt, dass ich nicht auch noch die zusätzliche Denkarbeit "Was nehme ich jetzt stattdessen" leisten musste. Bei meinem ersten Arbeitgeber haben sich meine Lieblingskollegin und ich mal den Spaß gemacht und ich habe aufgeschrieben, welche Lebensmittel ich toleriere. Spoiler: sie passen auf eine beidseitig bedruckte A4-Seite (handbeschrieben, untereinander aufgeführt). 

In einer bestimmten Phase habe ich allerdings weitaus weniger Speisen toleriert, sondern tatsächlich ausschließlich angebratene Nudeln mit Ei / Tomatensoße und Toast. Mit ganz viel Überredungskunst ging auch mal etwas anderes, z. B. Suppe, aber das war die Ausnahme. Ich habe nur meine sogenannten Safe-Foods gegessen. Gerichte, die für mich sicher waren, die von Geschmack und Textur im Mund in Ordnung gegangen sind und wo ich sicher war, dass ich sie vertrage. Mehr ging nicht. Ich hätte weitaus mehr vertragen, aber mein Kopf hat es nicht zugelassen. Bei mir war es nur eine Phase, danach habe ich wieder Stück für Stück mehr Lebensmittel zugelassen, bis wir jetzt bei der Doppelseite angekommen sind. Es gibt aber auch autistische Menschen, die kommen wenn es hochkommt auf eine viertel A4-Seite mit großer Handschrift. Und das dauerhaft. Sie schaffen es nicht, sich an neue Lebensmittel heranzutasten, da kann man noch so intensiv auf sie ein- und ihnen gut zureden... Das liegt unter anderem an folgendem:

- Probleme mit Veränderung

Autist: innen sind sogenannte Gewohnheitstiere. Sie leben unter dem Motto: "Nur keine Überraschungen oder Veränderungen!" Warum das so ist, habe ich schon mal in einem Beitrag zu Routinen geschrieben, es würde jetzt den Rahmen sprengen. "Probier doch einfach mal!" Das geht nicht so einfach wie es auf Anhieb klingt! Man kennt das Gefühl des neuen Lebensmittels im Mund noch nicht, weiß nicht, wie es schmeckt, wie weich oder hart es ist... Außerdem hat man das ja noch nie gegessen, und überhaupt. 

- Über- / Unterempfindlichkeit im Mundbereich

Da fällt mir zum Beispiel getoastetes Brot ein. Schon bei Neurotypen ist das Bedürfnis da unglaublich unterschiedlich. Mein Kumpel zum Beispiel isst Toast grundsätzlich nur ungetoastet, meine Mutti und ich toasten immer bis zum Anschlag. Mit dem Brot was ich esse, kann man im übertragenen Sinne jemanden erschlagen. 😂 Weiches Brot / Brötchen mit Butter dagegen kann ich überhaupt nicht essen - da wird mir richtiggehend schlecht. Oder Kartoffelbrei - keine Chance. Kann ich vom Mundgefühl her überhaupt nicht ertragen. Selbst gequetschte Kartoffeln funktionieren gut, aber Kartoffelbrei ist viiiiel zu weich, da zieht sich schon bei der Vorstellung alles in mir zusammen. Griesbrei und Milchreis dagegen gehen in Ordnung. Aber dort hat man eben auch Stücke drin. Genauso verhält es sich mit Würzung... Es gibt autistische Menschen, die haben eine Über- oder Unterempfindlichkeit im Mundbereich, das bedeutet, dass sie gewisse Geschmäcker oder Konsistenzen überhaupt nicht akzeptieren / aushalten können. Demzufolge ist manches Essen eigentlich von vorn herein tabu. 

Kleinste Änderungen sorgen für extreme Unsicherheit.

Es gibt also Menschen mit Autismus, die ohnehin schon eine unfassbar eingeschränkte Auswahl an Lebensmitteln haben. Nun kann es aber passieren, dass die Firma, die das Produkt herstellt urplötzlich die Rezeptur ändert, weil sie der Meinung sind, dass es den Geschmack oder die Konsistenz verbessert. Oder dass sie das Aussehen der Verpackung ändern (aus welchen Gründen auch immer). Für die meisten Menschen ist so etwas kein großes Problem. Meist ändert sich der Geschmack ja nicht wirklich gravierend und eine neue Verpackung sollte ja nun wirklich kein Problem darstellen, solange das Produkt identisch ist, ist das ja egal. Für oben beschriebene Autist: innen kann das das absolute AUS für dieses Lebensmittel bedeuten. 1) Wie wirkt sich die Rezeptänderung letztendlich aus? Haben sie jetzt plötzlich neue Gewürzmischungen? Hat sich die Konsistenz verändert? 2) Wer versichert mir, dass das Produkt in der neuen Verpackung wirklich noch identisch ist? Es ist nicht mehr das, was ich gewohnt bin!!! Es kann durchaus passieren, dass sie nicht in der Lage sind, sich auf das neue Produkt einzustellen. Zack - wieder ein Punkt weniger auf der Liste der tolerierbaren Lebensmittel. Eine Tatsache, die Eltern autistischer Kinder wirklich verzweifeln und hilflos machen kann. Denn wenn immer weniger Lebensmittel auf der Liste stehen und dann vielleicht auch noch durch so etwas Produkte ausgelöscht werden, ist es wirklich schwierig zu erreichen, dass die Kinder genug essen... 

Was kann man im Fall einer Änderung tun um das Produkt doch noch zu retten?

Ich gehe jetzt mal nicht auf das Thema "Wie bringe ich mein autistisches Kind dazu, neue Lebensmittel zu tolerieren?" ein, dazu habe ich schon mal in einem anderen Beitrag etwas geschrieben. Viel wichtiger ist: mitunter hat man die Chance, das Lebensmittel doch noch zu retten - mit den sogenannten "Tricks 17"... Achtung: KEINER der Tipps ist eine absolute Erfolgsgarantie, es kommt auf die Empfindlichkeit bzw. Aufmerksamkeit des Betroffenen, sowie eine Prise Glück an. Mit allen Tricks wird der Betroffene "überlistet", aber was ist in dem Moment wichtiger? Ein Safe Food und damit eine größere Auswahl an tolerierbaren Lebensmitteln erhalten, oder die Wahrheit? Meines Erachtens die Sicherheit des Safe Foods. Aber letztendlich schreibe ich ja ausschließlich Vorschläge - was davon umgesetzt wird, muss ja letztendlich jeder für sich entscheiden.

  • Bei reiner Verpackungsänderung: umpacken in gewohnte Verpackung
Wenn man ein autistisches Kind hat, dass extrem sensibel auch auf äußere Veränderungen von Dingen reagiert, ist es immer ratsam, leere Verpackungen aufzubewahren. Zum Beispiel Cornflakes-Packungen, Ketchupflaschen (ausgewaschen versteht sich), Saftflaschen, ... Denn wenn sich wirklich nur die Verpackung geändert hat, kann es funktionieren, dass man dem Kind gar nichts von der Verpackungsänderung erzählt und das Produkt einfach umfüllt und in den gewohnten Verpackungen anbietet. So fällt es gar nicht auf und alles ist gut für das Kind. Oder man regelt es direkt von Anfang an so, dass man Safe Foods nicht in den ursprünglichen Verpackungen belässt, sondern gleich in eine neutrale Verpackung umfüllt. Zum Beispiel gibt es ja für Cornflakes auch Aufbewahrungsboxen. Wenn man das immer macht, fällt eine Verpackungsänderung gar nicht auf... 

  • Verändertes Produkt zum probieren geben, ohne etwas dazu zu sagen
Angenommen es gab eine Rezepturänderung der Lieblingscornflakes (das ist heute mein Lieblingsbeispiel) kann man die Verpackung mit dem aufgedruckten Hinweis zunächst mal verstecken, und zum Frühstück eine Schale mit den "neuen" Cornflakes anbieten, aber einfach nichts dazu sagen. So tun, als wäre alles in Ordnung. Mitunter hat man nämlich Glück und das Produkt hat sich überhaupt nicht so stark verändert, dass man das überhaupt mitbekommt. Auch autistische Kinder merken das nicht immer - trotz ihrer extrem ausgeprägten Wahrnehmungsfähigkeit. Wenn das Kind sie widerspruchslos ist und alles gut ist, kommt einfach Tipp 1 zum tragen und alles bleibt gut und unproblematisch. Man muss nur konsequent die fremde Verpackung verschwinden lassen, aber das ist vermutlich das kleinere Übel.
  • Hersteller anschreiben (oder Internetaufruf machen) und nach alten Beständen fragen
Die überwiegende Mehrzahl aller Hersteller von Lebensmitteln oder sonstigen Produkten sind immer offen, wenn man ihnen den Hintergrund erklärt. Einerseits weil das eine gute Werbung für die Unternehmen ist, andererseits, weil die meisten einfach auch wirklich menschlich sind und helfen wollen. Manchmal hat man Glück und es existieren noch Altbestände des Produktes, die noch nicht in die Läden verbracht wurden. Das gilt zum einen für das Produkt an sich aber auch für alte Verpackungen (falls man diese noch nicht gesammelt hat vorher). Oder, wenn es wirklich wichtig ist, kann man auch einen Internetaufruf machen, z. B. auf Twitter oder Facebook und das Problem schildern. Bei allen Beiträgen, die ich zu diesem Thema gelesen habe, standen innerhalb kürzester Zeit dutzende Kommentare drunter von Menschen, die angeboten haben, ihre Bestände zuzuschicken um es dem Kind zu erhalten. Einfach probieren, die meisten sind unfassbar hilfsbereit.
  • Langsam an veränderte Rezeptur gewöhnen
Nun könnte man berechtigterweise fragen: ja und? Dann schicken sie uns vielleicht 20 Packungen zu und danach ist Schicht im Schacht, weil alle und das Safe Food ist trotzdem zerstört für das Kind. Das muss nicht passieren! Man kann dann nämlich das neue Produkt schrittweise in "homöopathischen Dosen" mit dem Produkt vermischen, dass die neue Rezeptur hat. Das Kind einer Mama, der ich auf Twitter folge hatte eine Art Kakao als Safe Food, von welchem die Rezeptur geändert wurde und so für das Kind untrinkbar wurde. Ich weiß nicht mehr, wie sie es gehandhabt hat, aber man kann versuchen, wenn man vom Hersteller oder von lieben Menschen aus dem Internet noch das Safe Food bekommen hat, zum Beispiel die überwiegende Menge des gewohnten Kakaopulvers zu nutzen, aber schon mal eine Prise des neuen Kakaopulvers zu benutzen. Wenn das akzeptiert wird, steigert man es schrittweise. Immer nur gaaanz wenig, damit es am Anfang überhaupt nicht auffällt. Das Unterbewusstsein wird sich aber an den neuen Geschmack gewöhnen und irgendwann kann man das Kakaogetränk vielleicht komplett mit dem neuen Pulver anbieten und alles ist gut. Es muss nicht funktionieren, aber es ist zumindest eine Chance.

Ich wünsche euch, dass ihr oder eure Kinder möglichst viele Safe Foods für immer genießen könnt oder eine gute Lösung dafür finden könnt.

Habt einen schönen Tag!
Anne

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