Hallo ihr Lieben,
heute möchte ich wieder auf eine Differenzialdiagnose eingehen. Wie ich schon mehrfach erwähnt habe, gibt es Diagnosen, die Autismus auf den ersten Blick ähneln, aber eigentlich völlig andere Ursachen haben und ganz anders behandelt werden. Warum wird Autismus manchmal mit der sozialen Phobie verwechselt? Um das besser verstehen zu können, möchte ich euch in eine fiktive Situation mitnehmen. Eine beliebige Person geht zum Briefkasten und findet eine Karte mit folgendem Text vor.
"Liebe(r) X, ich möchte dich zu meinem 20. Geburtstag einladen. Wir werden am 17.03. 18:00 Uhr bei mir im Garten eine Grillparty schmeißen. Was sollst du mitbringen? Einfach dich selbst, eine Playlist mit deinen Lieblingsliedern und gute Laune. Ich freu mich auf dich! Emily!"
Nun möchte ich euch die Reaktionen von zwei Menschen vorstellen. Beide Menschen sind selbstverständlich ebenfalls rein fiktiv, dienen aber gut dazu, den Unterschied zwischen den beiden Störungsbildern zu demonstrieren.
Larissa: Ach du Schreck - eine Riesenparty - und dabei kenne ich Emilys Freundeskreis doch noch gar nicht so lange. Und ist vielleicht sogar ihre Familie da? Was soll ich da denn anziehen? Gemütliche Klamotten, weil es im Garten stattfindet? Aber dann finden die Leute mich vielleicht underdressed... Und was ist, wenn ich mich wieder bekleckere? Ob ich vielleicht lieber schon vorher esse und dann sage, ich habe keinen Hunger? Aber dann ist das vielleicht unhöflich?! Schließlich ist es ja eine Grillparty. Aber Ina hat doch neulich gesagt, ich esse wie ein Ferkel!! Was könnte ich ihr schenken? Immerhin wird sie 20! Ich will auf keinen Fall zu geizig wirken... / Ein paar Tage später auf der Party: Wie peinlich ich mich gerade schon wieder versprochen habe - als ob ich nicht bis drei zählen kann. Jetzt gucken mich alle so komisch an. Ob ich tanzen soll? Aber ich kann doch eigentlich gar nicht so richtig tanzen... Lukas ist so süß - wenn der mich sieht, denkt er bestimmt, ich wäre der absolute Bewegungslegastheniker... Lieber nicht. Scheiße - hab ich jetzt was falsches gesagt? Wieso guckt Paula mich so komisch an? Mannomann, was für ein Stress.
Marius: Eine Einladung zur Grillparty? Und das schon in ein paar Tagen? Och nö... Morgen ist doch schon die Einweihungsparty von Pia. Und dann das Meeting am Donnerstag auf Arbeit - wo die ganzen Kollegen aus den anderen Standorten kommen... Diese Lautstärke die dort immer herrscht - und so unstrukturiert - wir könnten viel schneller durch sein. Und dann auch noch das Kaffeetrinken mit Oma... Wann soll ich dann bitte mal Zeit für mich zum auftanken haben? Ob ich vielleicht dafür den Spieleabend mit der Family absagen soll? Und überhaupt - viel zu wenig Informationen. Wer kommt da alles? Kann ich mich zwischendurch mal irgendwo zurückziehen um ein bisschen meine Ruhe zu haben? Und dann immer diese anstrengenden Gespräche... Was interessiert mich denn, wie die Bayern gespielt haben? Wenn man über Astronomie sprechen würde - das wäre wenigstens mit Inhalt! Was wird es wohl zu essen geben? Was mache ich, wenn mir das alles nicht zusagt? Ob ich mir meine Maiskolben mitbringen darf? Aber ich will ja auch nicht, dass alle denken, ich würde eine Extrawurst kriegen... Ich muss an Ohrenstöpsel denken - die unauffälligen! Und was nehme ich zum spielen mit? Den Fidget-Spinner musste ich letztens wieder jedem erklären, endnervig. Ach wenn ich doch nur krank wäre an dem Tag. Mannomann, was für ein Stress.
Von außen ähnlich - aber völlig andere Motive
Wir haben hier die Einladung von Emily zu einer netten Grillparty und zwei Menschen, die sich ganz offenbar beide mit der Idee nicht sonderlich wohlfühlen und sich so ihre Gedanken machen. Auf den ersten Blick also haben beide große Probleme mit sozialen Aktivitäten. In den geschilderten Situationen nehmen beide Personen an der Party schlussendlich teil, aber beide Störungsbilder können dazu führen, dass sich die Betroffenen komplett zurückziehen und sich komplett außerstande sehen, soziale Interaktionen zu bewältigen. Beide Betroffene können Schwierigkeiten dabei haben Blickkontakt aufzunehmen, Gestik und Mimik (also nonverbale Signale) zu deuten oder Smalltalk zu führen. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen...
Menschen mit sozialer Phobie:
Diese Betroffenen leiden unter der Angst, sich vor anderen Menschen zu blamieren oder in ihrem Ansehen irgendwie zu sinken. Jegliche Signale werten sie als negativen Eindruck gegen sich. Grundsätzlich wären sie absolut dazu in der Lage Smalltalk zu führen und Gesichtsausdrücke richtig wahrzunehmen. Das Problem ist, dass sie alles auf sich beziehen. Sie haben in der Regel ein sehr schlechtes Bild von sich selbst, also gehen sie davon aus, dass das auf ihr Umfeld ebenso zutreffen wird. Also gehen sie davon aus, dass sie das "Schlimmste" verhindern müssen. Bei Gesprächen glauben sie, dass sie permanent irgendetwas dummes sagen könnten. Jeder Versprecher führt dazu, dass Betroffene glauben, dass sie unglaublich dumm wirken. Ein komplett neutrales Gesicht bewerten sie als "genervt" und sie werden noch unsicherer, wie sie sich möglichst richtig verhalten sollen. Viele Betroffene fühlen sich dadurch entsprechend massiv nervös, der Körper reagiert mit Herzklopfen, Schwitzen, vielleicht Schwindelgefühle - das verunsichert und kann sich zu handfesten Panikattacken auswachsen.
Das Gute ist: man kann den Betroffenen mit Psychotherapie (z. B. kognitive Verhaltenstherapie) super helfen. Die Menschen werden angeleitet, ihre Gedanken zu analysieren und auf Plausibilität zu prüfen. Ist das wirklich realistisch, dass beim Abendbrot alle nur darauf warten, dass ich mich bekleckere? Oder interessieren sie sich eigentlich mehr für die Gespräche am Tisch oder ihr eigenes Essen? Ist mein Gegenüber wirklich genervt oder denkt er im Hinterkopf gerade darüber nach, was er heute noch einkaufen möchte? Oder hat der Chef ihn vielleicht geärgert und er hat einfach gerade keine gute Laune? Wie verhalten sich die anderen Leute in meinem Umfeld? Verhalte ich mich wirklich so anders als die? Menschen mit Sozialphobie hilft es in der Regel wenn sie mehrfach soziale Situationen durchmachen und merken, dass sie überleben und ihre Befürchtungen eigentlich gar nicht so unbedingt zutreffen.
Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung:
Das Hauptproblem der Menschen mit Autismus dagegen sind die vielen Reize, die auf sie eindringen, wenn sie sich eine längere Zeit in größeren Gruppen von Menschen aufhalten. Stimmengewirr, Gläserklirren, Besteckgeklapper, Musik, ... Dazu kommt, dass man nicht einfach nur anwesend sein muss, sondern die meisten Menschen nun einmal neurotypisch sind, sich mit Autismus nicht unbedingt auskennen und daher neurotypisches Verhalten von ihrem Gegenüber erwarten. Ein Mensch der einem beim Hallo sagen nicht mal in die Augen schaut und auch ansonsten irgendwie so komisch in der Ecke rumhängt, statt mal ordentlich abzutanzen und der, wenn man versucht ihn in ein Gespräch zu verwickeln eigentlich nur über die Ägyptische Kultur sprechen will, fällt da schon auf. Zugegeben: nicht alle Autisten weisen ein solches Verhalten auf. Das liegt daran, dass sie gelernt haben: wenn ich authentisch autistisch bin, muss ich mit vielen Fragen zu meinem Verhalten rechnen, wenn ich dagegen für 2 Stunden Neurotyp spiele, gehe ich im besten Fall als schüchtern durch und niemand fragt, warum ich so still bin. Das Neurotypspielen nennt man in der Fachsprache auch Masking und ist für Autisten enorm anstrengend. Fairerweise: es gibt natürlich auch Personengruppen, die entweder über den Autismus Bescheid wissen und das Verhalten einordnen können, oder allgemein sehr verständnisvoll sind und jeden Menschen so nehmen wie er ist - egal ob autistisch oder neurotypisch. Um das Masking besser aushalten zu können, setzen autistische Menschen in der Regel Maßnahmen zur Selbstberuhigung (auch Stimming genannt) ein. Das kann sein, dass sie sanft vor sich hinschaukeln, mit einem Fidget Spielzeug hantieren, evtl. vor sich hinsummen (passiert mir manchmal) oder vielleicht mit der Kuchengabel Muster in die Serviette malen. Das Verhalten ist mal mehr und mal weniger auffällig, und je nachdem mit welcher Personengruppe man zusammen ist, wird das dann ggf. eben kommentiert und hinterfragt, weswegen viele autistische Menschen ihre Maßnahmen zur Entspannung nicht danach aussuchen, was ihnen am meisten gut tut, sondern danach, was am unauffälligsten ist.
Dann gibt es da noch die Herausforderung mit der Verpflegung, die auf solchen Feiern angeboten wird. Viele autistische Menschen sind aufgrund sensorischer Besonderheiten nicht besonders aufgeschlossen bzgl. des Umfangs ihrer akzeptierten Lebensmittel. Sprich: sie essen sehr selektiv, es ist ihnen kaum möglich etwas zu essen, von dem sie Geschmack, Konsistenz, etc. nicht absolut sicher einordnen können. Es kommt daher nicht selten vor, dass Betroffene auf größeren Feiern Schwierigkeiten haben, etwas zu finden, das auf ihre Bedürfnisse passt.
Und: die meisten autistischen Menschen benötigen unglaublich viel Zeit für sich allein. Zeit in der sie die erlebten Eindrücke des Tages verarbeiten und gedanklich einordnen können, Zeit in der sie nach Herzenslust Stimming betreiben können, Zeit um sich mit Spezialinteressen zu beschäftigen, ... Das hat nichts damit zu tun, dass sie unsozial sind, sondern es liegt einfach in ihrem Störungsbild begründet. Pro-Tipp an alle, die eine Party veranstalten: versorgt den Autisten in der Einladung bereits mit so vielen Informationen wie möglich, das hilft ihnen, einzuschätzen, wie viel Ruhe sie vor und nach der Veranstaltung einkalkulieren müssen, ob sie vorher vielleicht etwas essen sollen, etc. Vorhersehbarkeit ist das absolute A & O.
Fazit
Beide Personengruppen haben völlig andere Hintergründe, warum ihnen eine Einladung zu einer Veranstaltung wie Geburtstag, etc. bzw. soziale Kontakte im Allgemeinen nicht unbedingt behagt. Wichtig: ich möchte hier nicht andeuten, dass ein Störungsbild heftigere Beschwerden macht als das andere oder die Personen weniger Leidensdruck haben. Herausfordernd ist beides. Aber es ist eben enorm wichtig, dass ein Facharzt oder Psychologe prüft, welches Störungsbild wirklich vorliegt und sich nicht pauschal selbst mit Autismus zu diagnostizieren. Es gibt einfach gravierende Unterschiede, die man auf den ersten Blick nicht erkennt. Aber genau dieser Unterschied ist enorm wichtig, um den Betroffenen das Leben zu erleichtern. Einem Menschen mit sozialer Phobie nützt es zum Beispiel in der Regel gar nichts, wenn er eine extrem gute Übersicht bekommt, was ihn auf der Veranstaltung erwartet, weil er ganz andere Problemfelder hat, während es einen Autisten im Gegenzug nicht interessiert, welche Mimik das Gegenüber gerade hat, weil es ihn ohnehin nicht interessiert, weil er es nicht einordnen kann.
Habt ein schönes Wochenende,
Anne
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