Hallo ihr Lieben!
Heute geht es mal wieder ein bisschen um die Diagnostik, die durchgeführt wird um festzustellen, ob ggf. eine Autismus-Spektrum-Störung vorliegt. Wie ihr vielleicht wisst, ist das Diagnostikverfahren sehr umfangreich und langwierig. So umfasst es beispielsweise:
- Gespräche mit Angehörigen des Klienten
- Gespräche mit den Klienten selbst
- ggf. psychologische Tests zur Abgrenzung von anderen psychischen Erkrankungen
- Fragebögen
- IQ-Testung
- mehrere Testungen, die autistisches Verhalten "herauskitzeln" sollen.
- ggf. Beobachtungen im Umfeld des Klienten
Dazu kommt die Sichtung von Unterlagen des Klienten, zum Beispiel frühere Arztbriefe, alte Zeugnisse (in den Bemerkungen der Klassenlehrer lassen sich teilweise einige Anzeichen für Autismus finden), Entwicklungsberichte aus Schule und Kita. Es sind mindestens 3 Sitzungen notwendig, um die Mindestanzahl von Testungen durchführen zu können. Aber es ist wie schon gesagt die Mindestanzahl. Und dazu kommt natürlich noch die Auswertung der Testergebnisse. Wichtig zu wissen: die diagnostizierenden Psychologen sind übrigens nicht nur mit Autismusdiagnostiken beschäftigt, sondern betreuen auch noch andere Patienten. Entsprechend lange müssen die Menschen auf freie Termine für die Diagnostik warten. Für viele Betroffene eine belastende Zeit, denn man meldet sich ja nicht zur Autismusdiagnostik an, weil es einen einfach interessiert, sondern weil in der Regel ein gewisser Leidensdruck herrscht und sie sich Hilfe durch die Diagnostik versprechen.
Um dieses Problem zu lösen, haben sich die Psychologinnen in der Psychiatrischen Institutsambulanz in der ich betreut (und auch diagnostiziert wurde) eine Screeningmethode ausgedacht: das sogenannte Video-Interview. Dafür werden die Patienten zu einem Termin eingeladen, bei dem sie von einer Mitarbeiterin interviewt werden. Es werden dabei unterschiedliche Fragen zum bisherigen Leben, den Problemen im Alltag gestellt. Ein paar Fragen, die die empathischen Fähigkeiten der Menschen abprüfen sollen, sind auch dabei. Das Gespräch wird mit einer Videokamera aufgezeichnet. Man kann sie im Verlauf des Interviews relativ gut ignorieren, sie stört nicht besonders.
Als sicher diagnostizierter Autist habe ich das Interview als Testperson schon einmal mitgemacht, damit andere Diagnostiker und Diagnostikerinnen ein Beispiel dafür haben, wie eine autistische Person auf die Fragen reagiert und wie sie sich im Gespräch verhält. Anschließend durfte ich sogar Verbesserungsvorschläge für die Fragen einbringen, da ich den Eindruck hatte, autistische Menschen könnten mit den Fragen nicht so viel anfangen. Um das Ergebnis nicht zu verfälschen, werde ich hier keine Fragen "droppen" und auch nicht beschreiben, wie sich ein Neurotyp und ein autistischer Mensch voraussichtlich verhalten würden, obwohl ich das im Nachhinein natürlich erfragt habe. Aber: ihr müsst euch definitiv keine Sorgen machen: es ist keine Prüfung und ihr könnt auch nicht falsch antworten. Alle Antworten sind richtig, es geht einfach nur um die eigenen Sichtweisen und Erfahrungen.
Inwiefern soll das Interview das Diagnostikverfahren beschleunigen?
Der Clou an dem Videointerview ist, dass es nicht zwingend von den Psychologinnen durchgeführt werden muss, die auf die Autismusdiagnostik spezialisiert sind. Es kann problemlos auch von Studierenden durchgeführt werden, die gerade ein Psychologie-Studium absolvieren, aber auch von Ergotherapeuten, Physiotherapeuten oder Sozialarbeitern. Sicher ist es sinnvoll, wenn die Menschen schon bei einigen dieser Interviews zugeschaut haben, aber im Prinzip sind keine besonderen psychologischen Vorkenntnisse oder Erfahrung mit autistischen Menschen erforderlich. Denn sie dienen lediglich als Gesprächspartner und Fragensteller. Die Auswertung des Interviews führen dann nämlich wieder die Psychologen durch, die auf die Autismus-Diagnostik spezialisiert sind. Je nachdem, welchen Eindruck die Diagnostikleiterinnen haben, muss nun überhaupt nicht mehr die ausführliche Diagnostik durchgeführt werden, weil sich schon herauskristallisiert, dass keine Autismus-Spektrums-Störung vorliegt. Das heißt aber nicht, dass die Patienten dann "hängen gelassen" werden. Ganz im Gegenteil. Auch der Klient profitiert davon, wenn er nicht unnötig eine ganze Batterie an Tests mitmachen muss, an dessen Ende dann herauskommt: also Autismus haben Sie nicht, aber was genau Sie haben, müssen wir jetzt erst mal noch herausfinden. Stattdessen haben die Psychologen nach dem Sichten des Interviews bereits Ideen, welche psychische Einschränkung stattdessen vorliegen könnte und können dann dahingehend gezielt weitere Diagnostik betreiben, und anschließend zielgerichtet Therapien oder Unterstützung anbieten. Diese Tests sind aber in der Regel deutlich weniger umfangreich und zeitintensiv als die Diagnostik, die bei einer Autismus-Spektrum-Störung durchgeführt werden muss.
Warum geht die Diagnostik anderer psychischer Erkrankungen oft schneller?
Das liegt zum Einen daran, dass die Tests, die bei der Autismus-Diagnostik vorgeschrieben sind, einfach sehr zeitaufwändig sind. Sie bestehen zwar auch aus Fragebögen, aber einer der wichtigsten Pfeiler der Diagnostik ist die Verhaltensbeobachtung. Gerade erwachsene autistische Menschen haben aber gelernt, sich anzupassen, möglichst unauffällig zu sein und zu "maskieren", also spezifische Verhaltensweisen in Gegenwart von Fremden hauptsächlich zu unterdrücken. Um also überhaupt eine Chance zu haben, autistisches Verhalten zu entdecken, muss man eine gewisse Mindestzeit mit den Patienten verbringen und ihm eben Aufgaben geben, bei denen der Autismus sehr wahrscheinlich zum Vorschein kommt. Bei vielen anderen psychischen Erkrankungen erfolgt die Diagnostik mithilfe von standardisierten Fragebögen und strukturierten Interviews, weil diese Störungsbilder wesentlich leichter voneinander abzugrenzen sind und es klarere Diagnosekriterien gibt.
Ein weiterer Grund ist, dass es sich bei Autismus um eine Entwicklungsstörung handelt, die sich auf nahezu alle Lebensbereiche auswirkt. Kommunikation, Sozialverhalten, Wahrnehmung, Interessen, ggf. Intelligenz. Um die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung zu erhalten, müssen Betroffene in all den Bereichen eine gewisse Anzahl von Auffälligkeiten aufweisen. Man kann sich also nicht auf eine Hauptschwierigkeit fokussieren, sondern muss den Klienten und sein Umfeld zu all diesen Bereichen befragen, bzw. durch Tests die Kompetenzen in diesen Gebieten abzuprüfen. Bei den meisten anderen psychischen Erkrankungen lässt sich das Problem viel leichter identifizieren und abgrenzen. Wenn man einen Autisten fragt, was ihn denn im Alltag belastet, wird er voraussichtlich Schwierigkeiten haben, eine Antwort darauf zu finden, weil er eben so viele verschiedene Schwierigkeiten im Alltag hat. Bei vielen anderen psychischen Einschränkungen dagegen beschränken sich die Probleme in der Regel auf einen Lebensbereich und es lässt sich relativ gut abgrenzen, sodass man sich auf diesen Lebensbereich konzentrieren kann.
Der letzte Punkt: Die Autismus-Diagnose darf nur vergeben werden, wenn die Schwierigkeiten nicht durch eine andere Erkrankung besser erklärt werden können. Und viele Symptome die bei Autismus auftreten, treten auch bei anderen psychischen Erkrankungen auf, weswegen ggf. auch Differenzialdiagnostik betrieben werden muss. Liegt nicht vielleicht doch ADHS vor? Oder eine Sozialphobie? Oder eine geistige Behinderung? Die meisten anderen Störungsbilder haben wesentlich klarere Diagnosekriterien und es ist einfacher, sie von anderen abzugrenzen.
Wird das Videointerview bereits überall als Screening genutzt?
Nein. Bislang wird das Videointerview nur in der Psychiatrischen Institutsambulanz durchgeführt, in der ich betreut werde. Das liegt daran, dass die Diagnostikerinnen dieses Verfahren selbst entwickelt haben. Es ist eine Verknüpfung von vielen verschiedenen Tests die bereits "auf dem Markt" sind. Es ist ihr Versuch gewesen, eine Lösung für die langen Wartezeiten zu finden. Wenn sich aber herauskristallisiert, dass sich das bewährt, könnte es durchaus sein, dass das Konzept bald auch von anderen Psychologen und Psychotherapeuten eingeführt wird.
Habt einen schönen Tag.
Anne
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