Autismus und Depressionen

Hallo ihr Lieben!

Kennt ihr das Sprichwort: "Hast du 💩 am Schuh, hast du 💩 am Schuh."? Es bedeutet in einfachen Worten ausgedrückt: Passiert uns etwas negatives, wie zum Beispiel ein Missgeschick, führt das meistens zu weiteren negativen Dingen. Ein Beispiel: Ihr wacht auf und stellt fest: "Orr nee, ich habe verschlafen!", also springt ihr auf, seid verständlicherweise etwas kopflos und stoßt euch erst mal den kleinen Zeh am Hocker vor eurem Bett... Oder stellt euch gern ein anderes klassisches Missgeschick vor - wie die hektische Tasse Kaffee - mit der ihr euch natürlich das Hemd vollkleckert - also Hemd wechseln gehen - verdammt, dann kommt ihr ja noch später auf Arbeit... Die beschriebenen Situationen werden auch gern als Murphys Gesetz bezeichnet. Es ist total erwartbar und tritt mit (gefühlt) 99 % iger Wahrscheinlichkeit immer ein: wenn ihr verschlaft, passiert garantiert mindestens ein Missgeschick. Man könnte auch sagen: Missgeschicke sind eine Komorbidität von "verschlafen" - oder auch: es ist nicht selten, dass einem vermehrt Missgeschicke passieren, wenn man verschlafen hat. Der Begriff Komorbidität wird häufig in der Medizin verwendet und bedeutet, dass eine Krankheit häufig auftritt, wenn bereits Krankheit XY vorliegt. Es bedeutet keinesfalls, dass das zwangsläufig so ist, aber es wird bei diesen Krankheiten / Störungsbildern eben sehr häufig beobachtet, dass sie in Kombination mit anderen Erkrankungen auftreten. Ein klassisches Beispiel ist die psychische Erkrankung Depression bei Menschen, die bereits eine Autismus-Spektrum-Störung haben. 

Was ist eine Depression?

Eine Depression ist eine psychische Erkrankung, die durch eine anhaltende Niedergeschlagenheit, einen deutlichen Verlust von Interesse oder Freude und oft von Antriebslosigkeit gekennzeichnet ist. Hinzu kommen können Symptome wie Schlafstörungen, Appetitveränderungen, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und negative Gedanken. Es handelt sich um eine ernstzunehmende Störung der Stimmungslage und des Affekts, die das Erleben, Denken und Verhalten beeinträchtigt und behandlungsbedürftig ist.

Weswegen ist die Wahrscheinlichkeit einer Depression bei autistischen Menschen erhöht?

Ich werde gleich Beispiele aufzählen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass sie nicht auf alle Autisten zutreffen, aber um das Thema greifbarer zu machen, sind Beispiele nun mal erforderlich. 
  • wenig Gleichgesinnte
Autismus ist relativ selten, die Mehrzahl der Umwelt von autistischen Menschen wird daher aus Neurotypen bestehen. Es fehlt ihnen an Gleichgesinnten, die ihre Alltagsherausforderungen teilen, die ebenfalls teilweise nicht verstehen, warum die Leute um sich herum, sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Es mangelt an Möglichkeiten, gegenseitig Strategien auszutauschen, um die Alltagsherausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Nicht umsonst sagt man: "Geteiltes Leid ist halbes Leid." Besonders schwierig wird es, wenn die autistischen Menschen noch nicht einmal diagnostiziert sind. Denn dann verstehen sie nicht mal, warum sie ständig Missverständnissen unterliegen, warum sie immer wieder für Verhaltensweisen ermahnt werden, die ihnen eigentlich doch so gut tun, bzw. die doch so gar nicht ihren Instinkten entsprechen. Sie glauben dann, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt, dass sie falsch sind. Ein häufiger Vergleich der von autistischen Menschen benutzt wird: "Ich gehöre zu einer anderen Spezies, ich bin falsch auf diesem Planeten." Das macht natürlich traurig, oder verunsichert zumindest sehr stark. Ich empfehle daher, diagnostizierten Autisten dringend, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Es tut so unfassbar gut, wenn man merkt: da sind noch mehr, die so sind wie ich. Ich bin nicht falsch, mein Gehirn arbeitet nur ein bisschen anders und es gibt noch weitere Gehirne mit derselben Funktionsweise. 
  • Gefühl der Einsamkeit
Ein wichtiges Diagnosekriterium für die Autismus-Spektrum-Störung ist die Schwierigkeit mit sozialen Interaktionen. Es ist dabei ein weitverbreiteter Irrglaube, dass autistische Menschen ohnehin überhaupt kein Bedürfnis nach sozialer Interaktion haben und lieber für sich sind. Das stimmt nicht! Sie wissen nur nicht, wie sie es am besten anstellen könnten... Was wären geeignete Gesprächsthemen? Wann wäre ein guter Zeitpunkt? Die Person redet ja schließlich gerade. Wie begrüße ich die Person? Gebe ich unaufgefordert meine Hand? Spreche ich einfach los? Ein anderes Hindernis ist es, wenn die Person, mit der die autistische Person in Kontakt treten möchte, sich in einer Gruppe von anderen Menschen befindet. Größere Gruppen werden von Menschen im Autismus-Spektrum nämlich häufig als ziemlich anstrengend empfunden. Warum? Es ist schwierig, mehreren Sprechern gleichzeitig zu folgen, dazu kommt, dass man in größeren Gruppen eher versehentlich berührt wird, als wenn man nur mit einer einzelnen Person in Kontakt tritt. (Viele autistische Menschen haben eine Abneigung gegen Körperkontakt.) Teilweise scheinen die Gruppenmitglieder auch eine Art Geheimsprache zu verwenden, die autistischen Menschen meist verborgen bleibt. (Stichwort Sarkasmus, Ironie, Sprichwörter) Man sieht: es gibt zahlreiche Hürden, die autistische Menschen nehmen müssen, um erfolgreich einen sozialen Kontakt aufzubauen (und zu halten). Und gerade normalintelligente autistische Menschen spüren, dass sie "anders als die meisten" sind und Probleme haben, mit anderen in Kontakt zu treten. Das Wissen darüber, löst aber natürlich ihre Schwierigkeiten nicht, wodurch sie sich häufig einsam fühlen, aber keine Ahnung haben, wie sie das negative Gefühl beseitigen können. 
  • Erschöpfung durch Maskieren
Hier ist keine Karnevalsmaske gemeint. Maskieren bedeutet: der autistische Mensch spielt einen Neurotypen. Warum sollte man das tun? Nicht nur autistische Menschen erleben das Phänomen, dass sie sich über das "komische Verhalten" der Neurotypen wundern, es beruht auf Gegenseitigkeit. Auch die Neurotypen können häufig nicht einordnen, warum ihr autistisches Gegenüber offensichtlich so gar kein Interesse daran hat, sich an soziale Regeln zu halten, so komische Bewegungen machen (da gucken die anderen Leute immer so, das ist doch peinlich!), warum sie immer wieder auf dieselbe Strecke zur Schule bestehen (sollen sie doch nicht immer so ein Theater machen), oder so "kühl" sind, und ihnen jegliche Umarmungen verweigern. Die neurotypischen Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass man stressfreier durch die Welt geht, wenn man sich möglichst unauffällig verhält. Also versuchen sie ihr autistisches Gegenüber dazu zu bringen, sich ebenfalls unauffälliger zu verhalten und weisen sie deswegen recht häufig auf das "unerwünschte / komische / auffällige" Verhalten hin und bitten sie, das zu unterlassen. Sie meinen es wirklich gut, bzw. wissen es nicht besser. Den meisten autistischen Menschen tun die ständigen Ermahnungen aber weh. Weil sie es doch irgendwie eigentlich nicht ändern können und ihre Mitmenschen ja nicht ärgern wollen. Vor allem kommt aber bei ihnen an: "Du bist falsch. So wie du bist, bist du nicht in Ordnung." Was tun sie? Sie fangen an, sich zu verstellen, bemühen sich, soziale Verhaltensweisen auswendig zu lernen und zu kopieren, Stimming zu unterdrücken, um genau diesen Ermahnungen zu entgehen. 

Das Problem ist: Maskieren ist für autistische Menschen unfassbar anstrengend, weil es so gar nicht ihrem natürlichen Verhalten entspricht. Sie müssen also eine enorme Denkleistung erbringen und es fehlt ihnen die Möglichkeit, sich durch Stimming zu erholen. Wenn man das Maskieren nur für einen sehr begrenzten Zeitraum durchführt und seine inneren Akkus anschließend wieder aufladen kann, indem man authentisch autistisch ist, Reizminimierung durchführt und sich mit Spezialinteressen beschäftigt, mag das gehen. Wenn man aber zu häufig maskiert, verlernt man, was einem überhaupt gut tut. Und dann erschöpft man zunehmend mehr und verliert tatsächlich auch das Gefühl für die eigene Identität - eigentlich logisch, wenn man die ganze Zeit eine andere Person spielen muss, oder? 

Chronische Erschöpfung ist einer der Hauptauslöser für Depressionen und andere psychische Erkrankungen. 

  • Schwierigkeiten in der Erkennung und Regulation von Emotionen
Ein Phänomen, dass ebenfalls gehäuft bei autistischen Menschen auftritt ist, dass sie Schwierigkeiten haben, eigene Emotionen zu identifizieren und sie zu regulieren (also sinnvoll darauf zu reagieren). Es ist immens wichtig, besonders auf negative Gefühle wie Traurigkeit / Wut / Erschöpfung schnellstmöglich zu reagieren und mit Gegenmaßnahmen zu beginnen. Also zum Beispiel weinen, Tagebuch schreiben, mit jemandem über seine Gefühle sprechen, Sport treiben, ins Kissen schreien, sich zurückziehen, schlafen, ... Wenn diese Gegenmaßnahmen nicht betrieben werden, stauen sich immer mehr negative Gefühle an, was ebenfalls das Risiko für eine Depression erhöht. 

  • Mobbing / Ausgrenzung
Davor sind leider auch viele diagnostizierte und "geoutete" autistische Menschen nicht gefeit. Ich möchte darauf jetzt gar nicht spezifisch eingehen, aber es ist nun einmal leider ein ebenfalls großer Risikofaktor, an einer Depression zu erkranken. Es gibt leider immer wieder Menschen, die nicht damit umgehen können, dass Menschen in ihrem Umfeld sich nicht so verhalten, wie sie das sonst so gewöhnt sind. Und die sich dann einen Spaß daraus machen, ihr Gegenüber immer wieder mit diesen Eigenarten aufzuziehen, oder gezielt Aktivitäten machen, die für die autistischen Menschen anstrengend sind. Beispielsweise wird dann gezielt im Arbeitsumfeld für Trubel gesorgt, die autistischen Menschen werden gezielt erschreckt (weil die dann immer so witzig ausrasten) oder es werden ständige Änderungen der Sitzordnungen vorgenommen, ... Dass es zu Depressionen führen kann, wenn man immer wieder provoziert oder mit seinen Grenzen konfrontiert wird, wundert glaube ich niemanden. 

Zusammenfassung

Ihr seht, es gibt zahlreiche Punkte im Leben von autistischen Menschen, die störungsspezifisch sind und das Risiko, an Depressionen zu erkranken, erhöhen. Das bedeutet aber nicht, dass zwangsläufig jeder autistische Mensch definitiv an Depressionen erkrankt. Es gibt nämlich auch für autistische Menschen viele Möglichkeiten Depressionen zu vermeiden, oder zu behandeln. Darum wird es im nächsten Beitrag gehen. 

Habt einen schönen Tag.
Anne 


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