Autismus und Depression - wie kann man das erhöhte Risiko der Erkrankung minimieren?

Hallo ihr Lieben!

Im letzten Beitrag habe ich ja geschrieben, dass viele Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung ein größeres Risiko haben, an einer Depression zu erkranken - Stichwort: Komorbidität. Aber: nur weil man ein erhöhtes Risiko dafür hat, heißt es noch lange nicht, dass es auch zwangsläufig passieren muss. Das Risiko auf dem Heimweg als Fußgänger von einem Auto erfasst zu werden ist auch höher, als wenn man mit dem Bus nach Hause fährt - aber das heißt noch lange nicht, dass jeder Fußgänger vom Auto erfasst wird. Schließlich gibt es Möglichkeiten, das Risiko für einen solchen Unfall zu minimieren - z. B. in dem man beim Straße überqueren die Ampel nutzt, auf dem Fußweg bleibt und nicht träumt. Genauso hat man auch als autistischer Mensch die Möglichkeit Maßnahmen zu ergreifen, die das Risiko senken, an einer Depression zu erkranken. Heute soll es darum gehen.

Verständnisvolles Umfeld

Nichts ist für das psychische Wohlbefinden eines Menschen wichtiger, als Kontakt zu Menschen zu haben, die ihn genauso nehmen wie sie sind. Bei denen man sich nicht verstellen muss, bei denen man einfach man selbst sein kann. Menschen, bei denen auch die Macken und Eigenarten völlig in Ordnung sind. Da geht es Neurotypen, wie neurodivergenten Menschen völlig gleich.

Schule, Beruf, Familie - vor allem in diesen Lebensbereichen ist es schier unmöglich, nur Menschen um sich herum zu haben, mit denen man sich super versteht, dieselben Interessen teilt, quasi (Sprichwort) ein Herz und eine Seele ist. Das ist unrealistisch und das wissen wir glaube ich alle. Und, das ist auch ganz wichtig zu erwähnen: in 98 % aller Fälle meinen es Menschen, die wenig Verständnis für Autismus und den einhergehenden Besonderheiten haben, nicht böse. Menschen mit Autismus sind speziell. Verstehen wir immer, warum wir z. B. gerade eine Reizüberflutung haben oder warum wir diesen oder jenen Weg zwangsläufig nutzen müssen und nicht davon abweichen können, auch wenn ein anderer Weg vielleicht kürzer ist? Oder: ganz anders gefragt: verstehen wir jedes Verhalten der Neurotypen? Auch wenn man vielleicht mal von der neurotypischen Welt gefrustet ist, sollte man das immer im Hinterkopf behalten. Das führt übrigens auch zu einer Steigerung des Wohlbefindens... 

Aber jetzt zu meinem eigentlichen Ratschlag: ihr seid nicht gezwungen, mit diesen Menschen eure überwiegende Zeit zu verbringen. Ihr seid eures eigenen Glückes Schmied. Baut euch Stück für Stück ein "Freizeit"-Umfeld. Nutzt einen Supermarkt, wo die Kassierer es entspannt sehen, wenn ihr die Büchsen im Regal (sortenrein) nach Verfallsdatum sortiert. Die gern mal ein Auge zudrücken und für euch die Kasse mit der geraden Zahl eröffnen, wenn ihr euch damit wohler fühlt. Sucht euch Freunde, die euch genauso nehmen, wie ihr seid - ich empfehle an der Stelle vor allem Autisten... Es gibt kaum eine tolerantere Menschengruppe als autistische Personen. Sucht euch einen Hausarzt, mit dem ihr auch per Mail kommunizieren könnt, der sich Zeit nimmt und jede Berührung im Vorfeld ankündigt und der auch akzeptiert, dass manche Untersuchungen für euch nicht möglich sind. Sucht euch vertrauenswürdige Arbeitskollegen, bei denen es okay ist, wenn ihr mit Zettel kommuniziert und bei denen ihr euch auch mal ausweinen könnt, wenn die Dienstberatung euch wieder völlig überreizt hat. Das sind jetzt natürlich alles nur Beispiele, die nicht auf eure Bedürfnisse zutreffen müssen. Aber ihr werdet sehen: wenn ihr euch häufig in Bereichen aufhaltet, wo die Menschen euch und eure Bedürfnisse ernst und darauf Rücksicht nehmen, werdet ihr euch insgesamt wohler fühlen.

Beschäftigung mit Spezialinteressen

Auch ich war mal unter anderem wegen einer Depression in Psychotherapie. Wenn es mir besonders mies ging, fragte meinte Therapeutin mich stets: "Wann haben Sie zuletzt Ihre Hörspieltabelle bearbeitet? Wann waren Sie zuletzt im Keller und haben mit Ihrem Sand gerieselt? Tun Sie sich etwas Gutes!" Ich habe es anfänglich selbst massiv unterschätzt, wie wichtig das regelmäßige Beschäftigen mit den Spezialinteressen für das emotionale Wohlbefinden ist. Warum ist das so? Zum einen füllt es die inneren Akkus wieder auf, weil es einfach total entspannt. Während der Beschäftigung mit unseren Lieblingsthemen gelingt es, die komplette Außenwelt auszublenden und dazu gehören auch etwaige negative Gedankenspiralen. Spezialinteressen sind vorhersehbar, es erwarten einen keine negativen Überraschungen. Es ist schlicht und einfach wie Wellness für das Gehirn. Und es funktioniert absolut zuverlässig. Wenn es mir nicht gut geht und ich mache mir ein Hörspiel an, beruhige ich mich innerhalb kürzester Zeit merklich. Ganz wichtig ist: lasst euch von niemandem einreden, euer Spezialinteresse wäre komisch, nicht altersgerecht, unnötig, oder was manchen Neurotypen sonst noch so dazu einfällt. Es gibt so ein Sprichwort: Wer heilt, hat Recht. Das kommt aus der Medizin und bezieht sich meines Erachtens auf Heilverfahren, die wissenschaftlich noch nicht so wirklich erforscht sind. Wenn die Heilmethode funktioniert, ist es völlig egal, ob es wissenschaftlich erwiesen ist, dass sie funktioniert - das Endergebnis zählt. Und dasselbe gilt bei Spezialinteressen auch. Ihr müsst keinen Nobelpreis mit eurem Interesse gewinnen - ihr sollt Spaß dabei haben und euch entspannen, das ist das einzige Ziel - mit welchem Thema ihr das erreicht, ist völlig egal. 

Ausreichend Ruhepausen und Reizabschirmung

Bei Neurotypen behandelt man eine Depression in der Psychotherapie überwiegend mit dem folgenden Konzept: raus aus der Bude und aus dem Bett - probiere ein neues Hobby aus, triff dich mit Freunden! Die Idee dahinter: Wenn ich im Bett herumliege, kann ich keine positiven Aktivitäten durchführen. Ich merke nicht, wie schön das Leben eigentlich ist und fühle mich zusätzlich einsam, weil ich ja kaum mit Menschen in Kontakt komme, wenn ich mich nur zurückziehe. Es ist also im Prinzip nur logisch, Patienten das genaue Gegenteil zu verordnen, damit sie wieder die Erfahrung sammeln, dass das Leben eigentlich ganz hübsch ist und es viel cooler ist, rauszugehen, als sich zurückzuziehen und Trübsal zu blasen. Zugegeben: das ist jetzt sehr einfach heruntergebrochen, aber ungefähr so, funktioniert die Depressionsbehandlung bei Neurotypen und in der Regel geht das Konzept ganz gut auf. Bei autistischen Menschen dagegen, kann genau dieses Behandlungskonzept paradoxerweise zu einer Verschlechterung der Symptomatik führen. Das Schlüsselwort: Erschöpfungsdepression. Hier komme ich wieder mit meinem geliebten Bild des inneren Akkus. Der innere Akku eines autistischen Menschen entlädt sich vor allem durch: Überreizung (Autisten haben eine Reizfilterschwäche, sie nehmen also deutlich mehr wahr, als ihre neurotypische Umwelt.), ständiges Maskieren (Neurotyp spielen - kostet immens Kraft.), soziale Interaktionen (für Autisten deutlich anstrengender als für Neurotypen - Stichwort: Probleme mit dem Verstehen von Ironie, Sarkasmus und Sprichwörtern, mangelndes Verständnis von Körpersprache, etc.) und Veränderungen, auf die sie sich einstellen müssen. Es ist immens wichtig, dass autistische Menschen ausreichend Gelegenheit haben, sich zurückzuziehen, Reize zu minimieren und einfach für sich sein zu können  - sprich: ihren Akku wieder aufzuladen. Haben sie zu wenig Gelegenheit ihren Akku aufzuladen, ist er irgendwann schlicht und einfach leer. Und was passiert bei einem leeren Akku? Es geht erst mal gar nichts mehr. Im elektronischen Bereich würde man sagen: der Laptop, das Handy oder was auch immer, gehen einfach aus. Und genau so ist es auch bei autistischen Menschen. Irgendwann ist Feierabend und es bleibt keine Energie mehr für irgendwas. Und dann entstehen Depressionen. Die Betroffenen haben keine Energie mehr für etwas anderes als nur noch Rückzug. Deswegen ist das Therapieziel bei Depressionen autistischer Menschen (und auch neurotypischer Menschen mit Erschöpfungsdepression) überwiegend, dass die Patienten lernen, sich ausreichend Erholungspausen zu gönnen und mit ihren Energiereserven zu haushalten, statt sie noch mehr sozialen Kontakten auszusetzen. 

Psychoedukation

Ich kann euch nur wärmstens ans Herz legen: beschäftigt euch mit dem Störungsbild des Autismus. In aller Regel wird nach Diagnosestellung Unterstützung durch den diagnostizierenden Psychologen angeboten. Mein Ratschlag: nutzt dieses Angebot und lasst euch darüber aufklären, was Autismus eigentlich bedeutet und welche Auswirkungen er hat. Lasst euch erklären, was vielen autistischen Menschen hilft, besser im Alltag klar zu kommen und stellt Fragen. Warum seid ihr so, wie ihr seid? Diese Aufklärung über eine psychische Erkrankung und deren Umgang damit, nennt sich Psychoedukation und ist eigentlich immer ein wichtiger Bestandteil einer Psychotherapie. Denn nur wenn die Betroffenen verstehen, was eigentlich der Auslöser für die ganzen Herausforderungen im Alltag sind und wie sie damit umgehen können, verinnerlichen sie: Es ist nicht meine Schuld, dass mir dieses oder jenes immer wieder passiert. Ich bin nicht falsch. Es gibt auch andere Betroffene mit diesen Besonderheiten und ich bin nicht machtlos. Ich habe die Möglichkeit aktiv dazu beizutragen, dass es mir besser geht. Wenn man das alles weiß, gelangt man zu einer deutlich größeren Selbstakzeptanz, was wiederum das Depressionsrisiko senkt. 

Austausch mit Gleichgesinnten - z. B. Selbsthilfegruppe

"Ich heiße Lars. Und komm vom Mars. Bei mir sieht alles anders aus." Das ist eine Zeile aus einem recht alten Lied. Was hat dieses Lied mit Autismus zu tun? Menschen mit Autismus haben sehr häufig das Gefühl, dass sie irgendwie nicht in die Gesellschaft reinpassen, die sie umgibt. Sie sind häufig mit Missverständnissen konfrontiert und bekommen immer wieder gespiegelt, dass ihre Wahrnehmungen irgendwie anders sind, als die ihrer Mitmenschen. Und dass sie sich außerdem irgendwie so komisch verhalten manchmal. Das führt verständlicherweise zu Frust und Traurigkeit bei den Betroffenen. Und genau an diesem Punkt kann eine Selbsthilfegruppe Wunder bewirken. Denn dann merkt man ganz schnell: "Holla - da gibt es ja noch andere, die genauso sind wie ich! Ich bin nicht der einzige Außerirdische auf diesem Planeten. Und die anderen fühlen auch noch so ähnlich wie ich!" 

Fazit

Auch wenn autistische Menschen wirklich ein höheres Risiko haben, an Depressionen zu erkranken, haben sie doch einige Möglichkeiten, um das Risiko zu minimieren. Am allerwichtigsten ist: akzeptiert euch selbst, seid lieb zu euch selbst und gebt euch ausreichend Möglichkeiten eure Akkus wieder aufzuladen, dann seid ihr schon auf einem sehr guten Weg. 

Habt einen schönen Tag.
Anne

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