Willst du dich nicht mal hübsch machen?!

Hallo ihr Lieben!

"Willst du dich denn nicht mal hübsch machen?!" Irritierter Blick. Was will der Neurotyp denn jetzt schon wieder? Ich trage mein Tokio-Hotel-T-Shirt - ich fühle mich ausgesprochen hübsch! Und neulich bei der Gartenparty bei Tante Maike und Onkel Horst war das T-Shirt völlig in Ordnung! Jetzt fahren wir zwar zu Oma Inge, aber was macht denn das bitte für einen Unterschied?! Ach sie feiert ihren 70. Geburtstag? Ist doch toll für Oma Inge - was hat mein T-Shirt mit ihrem Alter zu tun? Sie bleibt doch trotzdem 70 Jahre alt!

Auch wenn das Beispiel hier fiktiv war, werden autistische Menschen und ihre neurotypischen Angehörigen diese Situation relativ häufig gemeinsam erleben. Die Neurotypen beschweren sich über ein, aus ihrer Sicht, unpassendes Outfit und die Menschen im Autismus-Spektrum sind schwer irritiert, weil sie mit diesem versteckten Vorwurf in der Regel überhaupt nichts anfangen können. Zumindest zeigt das der Austausch mit unterschiedlichsten autistischen Menschen, den ich bisher so gehabt habe. Diese Situation tritt übrigens genauso häufig auf, wenn die Neurotypen glauben, die Kleidung sei nicht witterungsgerecht. Heute möchte ich euch erklären, warum besonders Autisten sehr häufig in solche Konfliktsituationen mit ihren neurotypischen Mitmenschen geraten. 

Unterschiedliche Kriterien bei der Kleiderwahl

Neurotyp	Autist
Zu welchem Anlass ziehe ich die Kleidung an? → Geburtstagsfeier mit nicht-rundem Alter? Geburtstagsfeier mit rundem Alter? Beerdigung? Junggesellenabschied? Hochzeit? Grillparty bei Paul und Max? Sonstiger Anlass? → In welcher Umgebung werde ich mich befinden? → Wer ist an anderen Gästen da?	Zu welchem Anlass ziehe ich die Kleidung an? → Schwimmbad? Dann Kleidung die ich schnell ausziehen kann und auch im nassen Zustand gut wieder anbekomme. → Spielplatz mit der Nichte? Wird garantiert abenteuerlich - ich ziehe meine Jogginghose an - die darf dreckig werden und ich kann mich gut bewegen. → schnell einkaufen gehen? Nicht nackt? Ab dafür!
Welchen Eindruck hinterlasse ich bei anderen? → Wer KÖNNTE mich EVTL. sehen und was KÖNNTE der dann über mich denken? → Ich darf nicht besser aussehen als die Braut! → Hoffentlich sehe ich nicht overdressed oder underdressed aus…  → Passt die Jeans zu meinem roten Pullover oder sehe ich damit aus wie ein Kasper?	Grober Temperaturcheck  → Schnee? Na gut, dann heute vielleicht keine Turnschuhe. 35 Grad im Schatten? Dann evtl. kein Pullover…
	Kann ich die Kleidung mehrere Stunden am Stück ertragen, oder bekomme ich damit eine Reizüberflutung? * Die größte Adelung, die ich einem Kleidungsstück geben würde: “Stört nicht.” Neurotypen können sich nicht vorstellen, wie anstrengend ein Pullover sein kann, den man zu stark auf der Haut spürt… *
	Gefällt mir das Motiv auf der Kleidung? Passt die Farbe der Kleidung zu meiner Stimmung?

Ihr seht: Neurotypischen Menschen gehen bei der Kleiderwahl ganz andere Dinge durch den Kopf als Menschen im Autismus-Spektrum. Autisten sind eher auf Praktikabilität und Reizarmut bedacht, also im Groben, ob sie sich mit der Kleidung wohlfühlen. Neurotypen dagegen legen ihren Hauptfokus darauf, was die anderen Leute so von ihnen denken könnten. Aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsweisen der Gehirne von Neurotypen und Autisten sind die Grundideen von geeigneter Kleidung also schon mal völlig anders.

Unverständnis für Soziale Regeln

Ich weiß inzwischen, dass sich Neurotypen untereinander mithilfe ihrer Kleidung ohne Worte mitteilen, was sie voneinander halten. So können sie zum Beispiel Wertschätzung ausdrücken, wenn sie sich in der Oper einen Anzug oder ein Kleid anziehen, anstatt dort mit Jeans und T-Shirt einzutreffen. Oder wenn sie sich zu einem runden Geburtstag etwas ganz besonderes anziehen. (Was immer das auch sein mag - selbst wenn ich versuche mich besonders anzuziehen, sind die Neurotypen meist der Ansicht, dass die Kleidung eben nicht besonders schick, sondern eher sogar ungeeignet für den jeweiligen Anlass ist.) Aus meiner autistischen Sicht, ist das absoluter Blödsinn. Am Beispiel der Oper: aus meiner Sicht drückt man gegenüber den Darstellern Wertschätzung aus, indem man dem Geschehen aufmerksam folgt und nicht nebenbei mit dem Handy spielt. Oder wenn man eben zum Abschluss applaudiert und sich evtl. sogar noch ein Autogramm holt, anstatt wortlos aufzustehen und zu gehen. Oder bei einem runden Geburtstag: man kann genauso Wertschätzung ausdrücken, indem man sich ganz viel Zeit an dem Abend für das Geburtstags"kind" nimmt, eine ausgeklügelte Geburtstagskarte schreibt und sich Gedanken über ein passendes Geschenk macht. Nur weil ich (übertrieben gesagt) in Jogginghose zu ihrem Geburtstag zum runden Geburtstag meines Onkels gehe, heißt das doch nicht, dass er mir egal ist, sondern dass ich mich in Jogginghose am Wohlsten fühle und damit die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhe, dass ich recht lange dort bleiben kann.

Ganz ehrlich? Dieser Geheimcode mit dem Ausdrücken von Emotionen über Kleidung wird mir für immer ein Rätsel bleiben. Irgendwie fehlt mir die dazugehörige Übersetzung - demzufolge kann ich dieser sozialen Anforderung einfach nicht nachkommen. Und genauso wird es vermutlich auch anderen Autisten gehen.

                                                                                          Fazit

Wenn ihr mal wieder den Eindruck hat, dass wir Kleidung anhaben, die eurer Meinung nach überhaupt nicht zum Anlass passt: denkt daran, dass unser Gehirn andere Herangehensweisen an die Kleiderwahl hat und dass uns häufig die Entschlüsselungshilfe für den Kleidergeheimcode fehlt. Wir meinen es nicht böse. Wirklich nicht. 

Habt einen schönen Tag.

Anne