Momente: Na komm, so schlimm ist das doch jetzt auch nicht...

Hallo ihr Lieben,

es gibt immer wieder Phasen im Leben, in denen ich mich frage, warum ich eigentlich eine Autismus-Diagnose bekommen habe. Phasen, in denen es einfach läuft: keine Reizüberflutung, wenig Probleme in sozialer Interaktion, kaum Schwierigkeiten mit Planänderungen, ... Und dann passiert eine vermeintliche Kleinigkeit und ich merke auf einen Schlag: die Diagnose ist korrekt. Ich habe definitiv Autismus und benötige die Unterstützung in der Selbsthilfegruppe / von Psychologen, die speziell für die Autismus-Spektrums-Störung geschult sind, auch wenn Außenstehende das teilweise gar nicht so verstehen. "Du bist doch im Gegensatz zu den anderen total fit, du brauchst das doch gar nicht." Viele Menschen im Autismus-Spektrum (insbesondere Autisten ohne Intelligenzminderung) haben im Laufe ihres Lebens viele Strategien erlernt, die es ihnen ermöglicht haben, mit alltäglichen Schwierigkeiten so gut wie möglich umzugehen und vor allem: möglichst unauffällig für die Außenwelt zu sein und sich nicht als Autist zu outen. Und meistens funktioniert das wirklich erstaunlich gut. Mit den Strategien können wir wirklich viele Schwierigkeiten abfedern und fallen dadurch auch entsprechend wenig auf. Das funktioniert allerdings nur, wenn der Rest unseres Alltags möglichst autistengerecht ist, also wenn wir ausreichend Ruhepausen bekommen, ein möglichst reizarmes (Arbeits-)umfeld zur Verfügung haben, wir uns mit unseren Spezialinteressen beschäftigen können und wir möglichst viel Sicherheit durch wiederkehrende Routinen / Rituale haben, die sich nicht ändern. Wenn das alles gegeben ist, können wir Momente, die den inneren Autisten normalerweise zum durchdrehen bringen würden, einigermaßen gut deckeln und im Verborgenen halten. Bei mir steht nächste Woche ein Urlaub mit verreisen auf dem Programm. - Ergo: eine Woche, die so ganz anders verläuft, als es in den sonstigen Wochen des Jahres der Fall ist, und die auch nicht so strukturiert und eindeutig nach Plan ablaufen wird, wie ich es möglicherweise tun werde. Mein Akku den ich für unvorhergesehene Momente oder die Bewältigung von zu vielen Reizen verwende, war also von vornherein schon nur noch zur Hälfte voll. Die restliche Hälfte ist schließlich dafür drauf gegangen, mich darauf einzustellen, dass die kommende Woche anders verläuft als üblich. So weit zur Einleitung.

Vor einer Woche hatte ich mich mit zwei Kollegen dazu entschieden, dass wir Donnerstag (sprich: gestern) gemeinsam Burger bestellen und essen. Wir hatten uns auf eine konkrete Uhrzeit geeinigt, am Mittwoch habe ich meinem Kollegen auch schon gesagt, was ich gern bestellen würde (er hatte sich bereit erklärt die Burger zu holen), alles war tutti abgesprochen. Es wurde Donnerstag und kurz vor halb zwölf kam plötzlich besagter Kollege ins Zimmer und fragte mich, ob Kollegin X denn schon bei mir gewesen wäre. Nee? Was ist denn? - Eine Lehrerin hatte spontan eine Runde gegeben, die beiden haben sich dort satt gegessen und brauchten nun (verständlicherweise) keinen Burger mehr. Er würde mir dennoch einen Burger holen, wir würden einfach ein anderes Mal zusammen bestellen. 

Was für die beiden (beide neurotypisch) eine Kleinigkeit war, für sie war die Verabredung zum Burgeressen einfach nur eine nette Gelegenheit, es sich an einem langen Arbeitstag gemeinsam gut gehen zu lassen, nun gab es im Lehrerzimmer bereits eine große Runde, dann eben Geburtstagsrunde. Macht auch satt. Ich dagegen hatte es als festen Termin in meinem Planer notiert - ein zentraler Punkt im Tagesablauf, weil meine Mittagspause nun mal so klassischerweise nicht verläuft. Mit der spontanen Absage, haben mich die beiden tatsächlich komplett ins Chaos gestürzt. Das Angebot, dass er mir allein einen Burger holt, habe ich abgelehnt - Burger essen war für den Tag fest mit den beiden Personen um 12:15 Uhr verknüpft. Alleine Burger zu essen, hätte den Plan nicht erfüllt, weil die anderen beiden ja nicht dabei gewesen wären. Gleichzeitig war ich aber auch nicht in der Lage zu sagen: "Na gut, dann hole ich mir jetzt halt was anderes." Ich hing komplett in der Schleife fest, dass wir uns fest zum Burger essen verabredet hatten und dieser Plan nun "zu Staub zerfallen" ist. Ich war wirklich dem weinen nahe, weil ich es so unfassbar unfair fand, dass sie einfach so spontan den Plan außer Kraft gesetzt haben. Besonders schlimm war, dass beide über meinen Autismus Bescheid wissen, hatte besagte Lehrerin doch eine Woche vorher noch gesagt: "Nee nee, wir müssen uns schon an Frau Gilberts Pausenzeiten halten, die kann nicht einfach so von ihrem Tagesplan abweichen." Sie hatte Autismus aus meiner Sicht also wirklich verstanden und wusste, dass ich gemachte Pläne einhalten muss. Für mich war diese spontane Planänderung tatsächlich ein Vertrauensbruch. Es war gar nicht mal unbedingt so, dass mir der Burger an sich so wichtig gewesen wäre - sonst hätte ich ihn ja auch einfach allein holen können, es war die Tatsache, dass der Plan von jetzt auf gleich gekippt wurde! Dieser Vertrauensbruch war wirklich ein massives Problem für mich. Denn eigentlich mag ich beide Kollegen furchtbar gern und wollte eigentlich, dass zwischen uns alles so bleibt wie es ist, aber ich war gleichzeitig so wütend, weil sie mich wissentlich ins Chaos gestürzt hatten. Mein inneres Koordinatensystem war einfach komplett aus dem Gleichgewicht geraten. Vor allem auch, weil ich nicht mehr wusste, ob ich den beiden eigentlich überhaupt noch vertraue, nach der Aktion. 

In meiner Verzweiflung habe ich zwei Freunde angeschrieben. Von beiden haben ich zu hören bekommen: "Doof, aber ist jetzt halt so, wenn du jetzt gar nichts isst, ist dir ja auch nicht geholfen. Hak es ab." Es war massiv frustrierend, dass sie mein inneres Chaos einfach nicht verstanden haben. Zeigt aber eben, dass sie Neurotypen sind und für sie eine solche Änderung eben kein Weltuntergang bedeutet. Auch besagter Kollege konnte meine Aufregung eigentlich gar nicht verstehen. Er meinte nur achselzuckend: "Wir machen das einfach ein anderes Mal." / "Wird schon wieder." / "Hab doch schon sorry gesagt." Er hat einfach GAR NICHT verstanden, wie verzweifelt ich war und hat meine Äußerungen auch nicht wirklich ernst genommen. Letztendlich hat mir ein Anruf bei einer der Psychologinnen geholfen, die die Autismusgruppe betreuen. Sie hat mir als allererstes erklärt, warum die Situation vermutlich entstanden ist (eine Geburtstagsrunde ist etwas, zu dem man aus sozialen Gründen nicht nein sagen kann und wenn man da entsprechend viel gegessen hat, passt ein Burger nun mal nicht mehr rein, und für sie wäre es eben nur eine Möglichkeit gewesen die Mittagspause zu verbringen.) Dann hat sie mir Tipps genannt, wie ich meine extreme Aufgewühltheit möglichst effektiv in den Griff bekomme, ohne in selbstschädigendes Verhalten abzurutschen (sich mit der einen Hand ganz fest am anderen Arm festhalten und so Tiefendruck auslösen, Center Shock essen). Zu guter Letzt hat sie mit mir erarbeitet, dass ich grundsätzlich eigentlich Hunger habe und was ich stattdessen holen kann und hat etwas gesagt, was mein inneres Chaos wirklich extrem abgemildert hat: "Sie müssen nur die Mittagspause überstehen, danach geht der Tag ganz gewöhnlich weiter!" In meinem Kopf war der ganze Tag durcheinandergebracht, weil der eine Punkt nicht mehr hingehauen hat, aber eigentlich hatte sie Recht. Es betraf ja tatsächlich nur die Mittagspause. Dadurch konnte ich die ganze Situation ein bisschen besser aushalten, wenn auch nicht deutlich besser. Das Telefonat hat mir mal wieder gezeigt: diese Psychologin arbeitet schon lange mit Autisten und weiß, was sie tun muss, um uns wieder auf die Spur zu bringen, wenn wir gerade im Chaos festsitzen. Es hat vor allem aber auch gut getan, dass sie Verständnis für mein Chaos hatte und es nicht kleingeredet hat. Danke an der Stelle an Frau H. Sie waren meine Retterin.

Welche Strategien habt ihr in solchen Momenten? Habt ein angenehmes Wochenende!
Anne

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