Autismus in Büchern: Buntschatten und Fledermäuse

Hallo ihr Lieben!

Heute möchte ich euch eine Autobiographie eines Autisten vorstellen: Buntschatten und Fledermäuse. Empfohlen wurde es meiner Mutter von der Psychologin, die meine Autismus-Spektrums-Störung diagnostiziert hatte, um einen ersten Einblick in das Thema zu bekommen und besser nachvollziehen zu können, warum Autisten sich so verhalten, wie sie es eben tun. Für diesen Zweck eignet sich das Buch aus meiner persönlichen Sicht tatsächlich nicht, aber dazu später. Jetzt erst einmal ein paar:

Eckdaten zu Buch und Autor

Wie im oberen Absatz bereits gesagt, handelt es sich bei diesem Buch um eine Autobiografie von dem am 02.07.1963 geborenen Axel Brauns. (Oder, wie der Autor selbst es formulieren würde: am 183. Tag des Jahres 1963.) Das Buch ist schon älter, die Erstveröffentlichung war im Jahr 2002. Mir liegt die 19. Auflage des Goldmann Verlags vor. 

Direkt auf der ersten Seite, noch vor dem Titel steht ein Text, bei dem mir die sprichwörtliche Feder wächst: "Dieses Buch dürfte es genau genommen gar nicht geben, denn Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit zu kommunizieren sind die Merkmale eines Autisten." Geballter Schwachsinn. Bei Autismus handelt es sich um eine Spektrums-Störung. Es gibt Betroffene, die tatsächlich nicht in der Lage sind, verbale Botschaften zu übermitteln, also quasi zu sprechen. Aber das trifft bei Weitem nicht auf alle Autistinnen / Autisten zu! Überraschung: ich kenne nicht einen Autisten, der wirklich nonverbal (also "sprachlos") ist. Und die Aussage, dass Autisten unfähig sein sollen zu kommunizieren ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe. 1. Axiom des Kommunikationswissenschaftlers, Philosophen und Psychotherapeuten Paul Watzlawick: "Man kann nicht nicht kommunizieren." Denn zum kommunizieren gehört neben dem klassischen sprechen auch die Körpersprache, also Gestik und Mimik. Kommunizieren bedeutet im Prinzip erst einmal nichts anderes, als das zwei Individuen Informationen austauschen. Schon wenn ein Mensch, der eigentlich sprechen könnte, nicht spricht kommuniziert er eine entscheidende Aussage: "Ich bin nicht bereit, mit dir über das Thema (oder grundsätzlich nicht) in Austausch zu gehen." Es ist durchaus der Fall, dass autistische Menschen teilweise wirklich sehr wenig sprechen. Das hat aber nicht den Hintergrund dass sie es nicht könnten, sondern dass sie schlichtweg keinen Sinn darin sehen, bestimmte Dinge zu kommentieren oder zu beantworten, oder weil sie vielleicht von irgendetwas verunsichert oder überfordert sind. Ich finde, wenn man ein Buch über Autismus veröffentlicht, welches noch dazu von einem Autisten geschrieben sein soll, sollte man sich vorher mal Gedanken darüber machen, was man ins Vorwort schreibt. 

Worum geht es in dem Buch?

Der Autor Axel Brauns beschreibt durch die Erläuterung von ausgewählten Episoden, wie sein Alltag und Leben vom Kleinkindalter bis zum jungen Erwachsenen, aus seiner Sicht verlaufen ist. Dass ein solches Buch nicht jedes Lebensjahr im Detail erfassen kann, ist natürlich klar. Man muss sich für bestimmte Situationen und Eckdaten, die einem besonders wichtig erscheinen entscheiden. In diesem Buch liegt die Priorität eindeutig auf den Beschreibungen der Interaktionen von Axel mit gleichaltrigen Kindern, sowie Situationen in denen er Verhalten an den Tag gelegt hat, welches man klassischerweise mit einer Autismus-Spektrums-Störung in Verbindung bringen würde. So kann er Gesichter relativ lange nicht als solche wahrnehmen, er unterscheidet zwischen den Buntschatten und den Fledermäusen. Buntschatten sind Menschen, mit denen er positive Erfahrungen gemacht hat, die ihn so zu akzeptieren scheinen, wie er ist. Fledermäuse dagegen sind die Menschen, die er überhaupt nicht einschätzen kann, oder eben jene, mit denen er negatives verbindet. Insgesamt wird ziemlich deutlich, dass Axel bis zur Jugendzeit wirklich massive Schwierigkeiten hat, seine Umwelt zu verstehen.

Warum halte ich das Buch nicht unbedingt als Einstiegslektüre für geeignet?

Auf den ersten Blick ist das Buch einfach merkwürdig und es ist anfangs wirklich schwer zu lesen. Das liegt daran, dass Brauns für alltägliche Worte konsequent sehr spezielle Eigenkreationen verwendet, was sich durchs ganze Buch zieht. So ist seine Mutter die "Haha", der Vater der "Dachs", Quarkspeise wird als "Wolkencreme" bezeichnet, ... Außerdem verwendet er Begriffe wie "wischeln" (schnelles Reiben der Hand über eine Oberfläche wie Bettdecke oder Hecke) oder "lichteln" (an- und ausschalten des Lichtschalters, optischer Eindruck der Sonne). Wenn man noch nie etwas von Autismus gehört hat, oder nur die klassischen Vorurteile im Kopf hat, wird erst einmal denken: um Gottes Willen, was ist denn das für ein komischer Kauz? Auch ich, als Betroffene habe das Buch im ersten Anlauf einfach zur Seite gelegt, weil ich mich nicht darin wiedergefunden habe und Axel Brauns einfach nur massiv schräg fand. Jetzt, Jahre später nach der Autismusdiagnose und mit mehr Wissen über dieses Störungsbild, finde ich das Buch relativ interessant, weil ich das beschriebene Verhalten einordnen kann. Besonders wenn einem noch nicht bewusst ist, dass jeder Autist individuell ist und es sich um eine Spektrumsstörung handelt, wird man leider nicht wirklich motiviert, sich mehr über das Störungsbild zu informieren, ganz im Gegenteil - es schreckt eher ab. 

Sonstige Gedanken / Fazit

Leider geht es Axel wie vielen anderen Autisten auch: seine Eltern wollen das Beste für ihn, ignorieren aber seine störungsspezifischen Grenzen. So will die Mutter in "auf Teufel komm raus" (Redewendung) aufs Gymnasium schicken, obwohl die Klassenleiterin ausdrücklich davon abgeraten hat. Axel kommt hauptsächlich deswegen erfolgreich durch die Schulzeit, weil er enorm viel auswendig lernt, er nachmittags oft stundenlang übt und weil die Mutter sämtliche Schulaufgaben für ihn übernimmt, die mit sprachlichem Ausdruck zu tun haben. Außerdem versucht sie bereits vor der Sprachtherapie Axel zum sprechen zu zwingen, was er als absolute Qual beschreibt. Sie hat größtenteils überhaupt kein Verständnis für seine störungsspezifischen Besonderheiten und reagiert häufig genervt, was Axel dann wiederum nicht versteht, weil er aus seiner Sicht nichts falsch gemacht hat. Zumindest in Bezug auf Regelverständnis kapiert sie im Laufe der Zeit, dass er alles offenbar wirklich wortwörtlich versteht und ganz explizite Erklärungen benötigt. Von seinem Bruder bekommt er häufig zu hören, dass er gar nichts auf die Reihe kriegt. Insgesamt erlebt er in seinem Umfeld häufig Unverständnis und Ungeduld. 

Für "Autismus-Neulinge" würde ich das Buch definitiv nicht empfehlen, schon gar nicht ohne Begleitung eines Fachmanns / einer Fachfrau, die die Besonderheiten des Autors einordnet. Wenn man dagegen selbst Autismus hat und sich schon intensiver damit beschäftigt hat, kann das Buch sehr hilfreich sein, weil man sich in einigen Verhaltensweisen wiedererkennt und so spürt, dass man nicht allein damit ist. Insgesamt würde ich sagen: 2 von 5 Anne-Points, aber vielleicht ist das Buch für den einen oder anderen doch angenehmer und hilfreicher als für mich. Lest doch einfach mal rein!

Habt einen schönen Tag!
Anne

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