Autist(in) oder Hochsensibel?

Hallo ihr Lieben!

Gerade im Bereich psychischer Erkrankungen / Störungsbilder gibt es leider immer noch häufig Fehldiagnosen. Woran liegt das? Die meisten psychischen Erkrankungen kann man nachwievor nicht mittels Bluttest, Gentest identifizieren, sondern ist dabei auf Befragung der Patienten, Angehörigen / Freunde, sowie Verhaltensanalyse und eigene Beobachtungen angewiesen. Erschwerend kommt dazu, dass viele Symptome bei unterschiedlichen Erkrankungen auftreten können. Auch die Autismus-Spektrums-Störung ist von diesem Problem nicht ausgenommen. Es gibt sehr viele psychische / neurologische Erkrankungen, denen Autismus sehr ähnlich ist. Dadurch kommt es nicht selten dazu, dass Menschen mit Autismus diagnostiziert werden, die in Wirklichkeit an einer anderen Störung leiden, oder anders herum - dass der Autismus lange nicht erkannt wird, weil Ärzte / Psychologen es verwechseln. Ich möchte euch in der nächsten Zeit ein paar Störungsbilder aufzählen, die Autismus ähneln. Heute soll es um die Hochsensibilität gehen.

Was ist Hochsensibilität?

Zuallererst: Hochsensibilität ist keine Krankheit oder Störung. Viel mehr beschreibt sie das Auftreten von bestimmten Charaktereigenschaften bei einer Person. Hochsensible Menschen haben eine sehr ausgeprägte Wahrnehmung - in jeglicher Hinsicht. Zum einen fällt es ihnen schwer, Reize in der Umgebung (z. B. Gerüche oder Geräusche) auszublenden, was besonders bei subjektiv störenden Reizen natürlich ziemlich schnell anstrengend für die Betroffenen wird. Aber auch normale Sinnesreize (hören, schmecken, sehen, riechen, fühlen) und eigene Emotionen / Gefühle werden viel intensiver wahrgenommen, als das bei den meisten anderen Menschen der Fall ist. Letzteres führt dazu, dass sie mit emotionalen Belastungen (Traurigkeit, Wut, Angst) deutlich schlechter umgehen können. Wenn man mit starken Emotionen kämpft, muss man schließlich viel mehr tun, um sich wieder beruhigen zu können, als wenn man die Gefühle in einem üblichen Maß wahrnimmt. Wie meine ich das mit normalem Level? Es macht doch einen Unterschied, ob man traurig ist, weil die Lieblingstasse kaputt gegangen ist (normales Level) oder ob man gerade eine Trennung vom Partner durchleben muss (viel intensivere Traurigkeit). Bei hochsensiblen Menschen führen eben bereits kleinere Auslöser zu heftigen Reaktionen. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Hochsensibilität ist, dass die Menschen sehr stark spüren, wie es anderen Menschen in ihrem Umfeld geht und extrem gut mit ihnen mitfühlen können. Sie können einen Raum betreten und merken sofort, wenn z. B. jemand schlechte Laune hat, auch wenn die Person versucht, sich zu verstellen. 

Gemeinsamkeiten mit Autismus-Spektrums-Störung

Die deutlichste Gemeinsamkeit beim Vergleich zwischen einer Autismus-Spektrums-Störung und Hochsensibilität ist natürlich die intensive Wahrnehmung in Verbindung mit einer Reizfilterschwäche. Sowohl bei hochsensiblen als auch bei autistischen Menschen kann es, aus sensorischen Gründen, starke Abneigungen gegen bestimmte Gerüche, Geschmack, Konsistenz, etc. geben. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Abneigung gegenüber Veränderungen im geregelten Ablauf oder der Umgebung. Logisch, wer seine Umwelt intensiver wahrnimmt, bemerkt auch kleine Veränderungen deutlich schneller und fühlt sich damit ggf. nicht wirklich wohl. 

Unterschiede 

Der größte Unterschied ist, dass Hochsensibilität keine Störung / Krankheit, sondern nur ein Charaktermerkmal ist, während Autismus zu den sogenannten tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zählt. Bei der Wahrnehmung ist übrigens noch wichtig zu erwähnen, dass Autisten auch eine Unterempfindlichkeit in bestimmten sensorischen Bereichen haben (z. B. dass sie bestimmte Berührungen einfach nicht spüren, oder dass z. B. das Essen von der Nachbarin nebenan total scharf ist und packt sich deswegen noch ein bisschen extra Chilisoße drauf, während alle anderen bereits schwitzen), bei Menschen mit Hochsensibilität tritt keine Unterempfindlichkeit auf. Ein weiterer großer Unterschied ist die starke Empathie bei hochsensiblen Menschen - Menschen im Autismus-Spektrums-Störung dagegen tun sich extrem damit schwer, herauszufinden wie sein Gegenüber sich fühlt und was er vielleicht gerade braucht. Also im Prinzip das komplette Gegenteil zu Hochsensibilität. Es gibt auch einige Autisten die extrem intensiv wahrnehmen, dass es einer Person nicht gut geht, oder super gut geht, aber sie werden in der Regel nicht in der Lage sein, das konkrete Gefühl dahinter zu erkennen und daraus zu schließen, wie sich die Person fühlt. Ich zum Beispiel merke, wenn es anderen Menschen nicht gut geht, fühle aber nicht mit ihnen mit, sondern entwickle Unruhe, weil ich es nicht zuordnen kann, was ich da gerade wahrnehme. Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Unterscheidung zwischen Autismus und Hochsensibilität: Menschen im Autismus-Spektrum betreiben i. d. R. Stimming (gleichbleibende, sich wiederholende Bewegungen, summen, immer wieder dasselbe Wort aufschreiben oder sagen, ...), was bei hochsensiblen Menschen nicht der Fall ist, bzw. bei Weitem nicht so ausgeprägt. Auch das Spezialinteresse und die Schwierigkeit, sich auf Themen einzulassen, die sich nicht mit dem Interesse beschäftigen, ist bei Menschen mit Hochsensibilität nicht bekannt. Weitere Merkmale des Autismus, die bei Hochsensibilität nicht auftreten:

- Schwierigkeiten Blickkontakt aufzubauen, kaum Verwendung von Mimik und Gestik
Auch das "Lesen" von Mimik und Körpersprache beim Gegenüber ist nur schwer möglich.

- motorische Ungeschicklichkeit

- (häufiges) Unverständnis von sprachlichen Mitteln wie Ironie, Sarkasmus, bildlicher Sprache

- Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion (Kennenlernen, Kommunizieren, gemeinsames Beschäftigen) 

Fazit

Auf den ersten Blick könnte ein hochsensibler Mensch aufgrund der deutlichen Gemeinsamkeit mit der Reizfilterschwäche und der intensiven Wahrnehmung schnell glauben, er könnte eine Autismus-Spektrums-Störung haben. Tatsächlich gibt es aber zahlreiche Merkmale, die beim Autismus auftreten, die bei hochsensiblen Menschen keinerlei Rolle spielen. Wenn ihr euch also unsicher seid, ob ihr ggf. autistisch sein könntet, wendet euch unbedingt an einen Psychologen, der auf die Diagnostik von Autisten spezialisiert ist. Er wird schnell feststellen, ob es Autismus oder "nur" Hochsensibilität" ist. Damit möchte ich um Gottes Willen nicht sagen, dass Hochsensibilität nicht auch massiv anstrengend sein kann. Ganz im Gegenteil, aber es ist eben mit weitaus geringeren Schwierigkeiten verbunden, als die Autismus-Spektrums-Störung. Dennoch möchte ich den hochsensiblen unter euch ein paar Tipps geben, wie ihr Reizüberflutungen / Überforderungen besser vermeiden könnt:

1. Reize eindämmen

- wenigstens 30 min pro Tag: Handy stumm schalten - gönnt euch das einfach mal, euch mit einer Tätigkeit zu beschäftigen, ohne dass euch jemand dabei stören kann. Nichts gibt mehr Reize und Informationen ab, als ein Smartphone. Gerade wenn man ohnehin schon extrem viel mehr in der allgemeinen Umgebung wahrnimmt, sollte man zusehen, dass man bestimmte Störquellen einfach zumindest zeitweise eliminiert.

- Musik hören während reizintensiver Aktivitäten (mit beiden Ohren) - reduziert die Reize auf sehen und einen selbst gewählten Reiz, blendet andere überflüssige Reize aus

- Sonnenbrille, Ohrenstöpsel (falls Musik zu anstrengend) benutzen

2. Grenzen setzen

Zuallererst: auch mit Hochsensibilität ist es ganz wichtig, für Familienmitglieder und Freunde ein offenes Ohr zu haben. Gerade mit dem hohen Maß an Empathie und Mitgefühl, kann man so eine echte Stütze sein. Allerdings ist es genauso wichtig, sich abzugrenzen um sich nicht mit zu intensiven Gefühlswahrnehmungen zu überfordern. Es ist wichtig, ein gesundes Mittelmaß zu finden. Wenn man zum Beispiel innerhalb kürzester Zeit bereits zum 10. Mal über dasselbe Thema gesprochen hat, ohne dass sich eine Lösung abzeichnet, kann und sollte man sagen, dass es besser wäre, z. B. mal noch mit jemand anderem darüber zu sprechen. Eine andere Option wäre, bei sogenannten Energieräubern vorher einen Rahmen für das Telefonat festzulegen: "Ich spreche gern mit dir über mögliche Lösungen, aber nur wenn du kooperierst und nicht nur darüber jammerst, wie schlimm deine Situation gerade ist." Es ist unfassbar wichtig einen goldenen Mittelweg zu finden, der es ermöglicht, seine Mitmenschen zu unterstützen und eine gute Beziehung mit ihnen zu haben, ohne sich damit zu überlasten. 

3. Ausreichend Zeit allein

Der letzte Tipp geht in Richtung des Zweiten. Man sollte wenigstens 2 Stunden in der Woche Zeit haben, um nur für sich allein etwas Zeit zu haben und alle Eindrücke und Gedanken sortieren zu können. Noch besser wäre es, wenn man jeden Tag eine halbe bis ganze Stunde Zeit dafür zur Verfügung hätte, aber da das nicht in allen Konstellationen möglich ist, habe ich mich für zwei Stunden pro Woche entschieden als Richtwert für diese Empfehlung. Zwei Stunden sollte jeder hinbekommen. Sie müssen ja nicht am Stück sein, sondern können auf die Woche verteilt sein. Dabei sollte die Beschäftigung möglichst reizarm sein, damit man sie auch wirklich zur Entspannung nutzen kann. Natürlich kann auch Fernsehen entspannend sein, aber gerade bei Hochsensibilität kann es sinnvoll sein, wenn man sich die Chance gibt, alle Eindrücke für sich zu sortieren und da ist Ablenkung nur begrenzt sinnvoll. Aber das muss jeder für sich entscheiden. 

Habt einen schönen Tag.
Anne

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