Autismus und Schmerzempfinden

Hallo ihr Lieben,

neulich hatte ich mich mit meiner Mutti zu einem Spaziergang verabredet und dabei meine neuen Turnschuhe angezogen. Ich hatte ein paar Wochen vorher schon Blasen darin gehabt, aber was solls, wird schon schief gehen. Ich habe mir keine Pflaster vorbeugend auf den Fuß geklebt, sondern bin einfach losgelaufen. Innerhalb kürzester Zeit habe ich mir heftige Blasen gelaufen. Direkt nach dem Spaziergang habe ich die offenen und teilweise bereits blutenden Blasen mit Pflastern versorgt und bin ca. eine Stunde später in anderen Schuhen bereits wieder zum Spielplatz gelaufen, weil mir langweilig geworden ist. Einige Tage später bin ich wieder mit ihr spazieren gegangen - dieses Mal mit Pflastern, damit die Blasen nicht schon wieder aufgehen. Meine Mutter fragte nach einiger Zeit verwundert: "Dafür, dass du drei Blasen hast, kannst du aber extrem gut laufen!" "Ja klar", habe ich erwidert. "Habe ja auch Pflaster drauf." Sie: "Ja, aber trotzdem..." 

Ein anderes Beispiel: ich hatte ziemliche Kopfschmerzen und habe meiner Mutter (damals habe ich noch zu Hause gewohnt) mitgeteilt, dass ich heute nicht zur Arbeit fahre, weil ich vermutlich eine Nasennebenhöhlenentzündung habe (war extrem erkältet und hatte diese Erkrankung bereits ein paar Mal gehabt und die Symptome wiedererkannt). Mama: "Wenn du eine Nasennebenhöhlenentzündung hättest, würdest du garantiert nicht munter neben mir im Flur stehen, da würdest du komplett flach liegen und könntest dich auch nicht bücken oder so... Du willst doch bloß eine Auszeit." Ganz offensichtlich habe ich keinen besonders kranken Eindruck auf sie gemacht. Spoiler: meine Hausärztin hat meine Verdachtsdiagnose bestätigt, Medikamente verordnet und mir einen Krankenschein für anderthalb Wochen mitgegeben. 

Autisten wirken häufig nicht krank.

Nein, meine Mutter ist nicht herzlos und hat auch keinen Mangel an Empathie. Es ist tatsächlich ein weit verbreitetes Phänomen, dass man autistischen Menschen auf den ersten Blick nicht anmerkt, dass sie krank sind, Schmerzen haben oder gar verletzt sind. Den Hauptgrund würde ich darin sehen, dass sie nicht leidend wirken. Es kann durchaus passieren, dass einem ein Autist gegenübersteht und sagt: "Ich habe schreckliche Halsschmerzen, ich kann kaum schlucken", dafür aber dieselbe Sprechweise an den Tag legen, die sie auch verwenden würden um mitzuteilen, dass vor dem Haus gerade ein gelbes Auto steht. Ein bekanntes Symptom, welches bei vielen Autisten auftritt: sie haben Schwierigkeiten ihre Stimmlage unterschiedlichen Situationen anzupassen. Die Stimme wirkt meist monoton und neutral. Dazu kommt meistens der geringe, teils auch überhaupt nicht vorhandene Einsatz von Mimik und Gestik zum unterstreichen des Gesagten. Den meisten neurotypischen Menschen sieht man an, dass sie Schmerzen haben, weil sie z. B. das Gesicht verziehen, sich den Bauch (oder das betroffene Körperteil) halten, ... Bei autistischen Menschen ist es sogar im Rahmen des Möglichen, dass sie einen freundlich anlächeln, während sie einem sagen, dass ihnen der Kopf dröhnt. Nicht weil sie einen veralbern wollen, sondern weil es einfach ihr üblicher Gesichtsausdruck ist. 

Andere Schmerzwahrnehmung im Vergleich zu Neurotypen

Menschen mit Autismus haben häufig Schwierigkeiten in ihrer Körperwahrnehmung, aber auch die Schmerzwahrnehmung ist anders ausgeprägt, als das bei Neurotypen der Fall wäre. Das geht in beide Extreme - manche haben bereits bei einer winzigen Schnittwunde schrecklichste Schmerzen, andere dagegen haben vielleicht ein gebrochenes Bein und hören nicht mal mit dem Fußball spielen auf, weil die Information der Nerven im Beinbereich: "Hey, hier ist gerade etwas fürchterlich schief gelaufen, wir sind verletzt!", nicht adäquat weitergeleitet wird. Sie spüren vielleicht, dass es ein bisschen weh tut, aber auch nicht schlimmer als eine Schürfwunde. Manche nehmen den Schmerz an sich aber auch gar nicht wahr, sondern merken nur, dass es sich "irgendwie komisch anfühlt". Keine Angst, auf die wenigsten Autisten trifft eine der extremen Formen zu, aber es ist schon ein signifikanter Unterschied zum Neurotypen feststellbar. Die meisten Autisten haben eher ein herabgesetztes Schmerzempfinden. Sie nehmen Schmerzen also als deutlich geringer wahr. Das erklärt auch, warum meine Mutti bei Blasen an den Füßen quasi kaum noch laufen kann, während mir ein paar Pflaster reichen und ich ganz normal weitermachen kann und quasi kaum Beschwerden habe. Es erklärt außerdem, warum ich teilweise völlig überrascht bin, wo denn der blaue Fleck schon wieder her kommt. Ich habe quasi immer blaue Flecken, weil ich permanent irgendwo "einraste". Meine Körperwahrnehmung ist einfach nicht so gut, sodass ich des Öfteren zum Beispiel gegen den Schlüssel von meinem Schreibtischcontainer laufe oder zum Beispiel im Türrahmen hängen bleibe. Ich denke mir dann auch meistens: "Boah, aua!", aber das hält nie lange an, im Normalfall ist der Schmerz nur eine Sekunde später sofort wieder weg. Also ich spüre Schmerz durchaus, aber in deutlich schwächerer Form. Ich stehe zum Beispiel total auf Muskelkater, weil ich es irgendwie liebe, jede Bewegung an der überlasteten Stelle so klar mitzubekommen. 

Mitgefühl? Fehlanzeige.

Frage an Bekannte / Familienmitglieder von Autisten: habt ihr es schon erlebt, dass ihr irgendwie starke Schmerzen hattet und der Autist "eures Vertrauens" hat unangemessen darauf reagiert? Also zum Beispiel indem er gesagt hat: "Jetzt übertreib doch nicht, so schlimm ist das doch nun auch nicht." oder vielleicht sogar gelacht, wenn ihr euch gestoßen habt oder gestolpert seid und euch dabei weh getan habt? Oder irgendetwas anderes in dem Bereich, wo ihr gedacht habt: das kann doch jetzt nicht wahr sein?! Keine Angst - ihr habt kein besonders egoistisches, rücksichtsloses, empathiebefreites Exemplar kennengelernt. Es ist sehr stark davon auszugehen, dass ganz viele Familien dasselbe Phänomen erleben. Ihr seid nicht allein damit. Aber falls es euch tröstet: es ist absolut keine böse Absicht. Ich will es euch erklären: um Mitleid empfinden zu können bzw. sinnvolle Maßnahmen aus Beobachtung einer Szenerie ableiten zu können, muss man auf eigene Erfahrungswerte zurückgreifen können. Wie soll man denn wissen, wie etwas für einen anderen Menschen ist, wenn man nicht selbst schon mal eine ähnliche Erfahrung gemacht hat? Wenn nun also der autistische Mensch die Erfahrungen gesammelt hat: "Okay, eine Blase am Fuß ist unangenehm, aber nicht soooo schlimm!" dann gehen sie natürlich davon aus, dass ihr Gegenüber einfach ziemlich wehleidig ist. Ist doch logisch oder? Es fehlt ihnen an Perspektivübernahme. Sie können sich nicht vorstellen, dass sie eine andere Wahrnehmung haben könnten. Mir zum Beispiel war das bis gestern, als ich mit meiner Psychologin, die meinen Autismus diagnostiziert hat, gesprochen habe, auch nicht bewusst. Ich weiß gar nicht mehr so richtig, wie wir auf das Thema gekommen sind, aber sie erklärte mir daraufhin, dass die meisten Autisten eben eine eingeschränkte Schmerzwahrnehmung haben und dass Neurotypen Schmerz deswegen deutlich intensiver wahrnehmen. 

Vorteil oder Nachteil?

Nun könnte man sagen: "Boah, Autisten haben es gut..." Aber ist die veränderte Schmerzwahrnehmung wirklich von Vorteil?! Natürlich ist es nicht schlecht, wenn man mit weniger Schmerz durchs Leben geht, aber gleichzeitig muss man auch folgende Punkte bedenken:
  • Schmerz ist ein Warnsignal des Gehirns: "Handle! Der Körper ist verletzt!" Wenn das Signal nicht wirklich wahrgenommen wird, erkennt die autistische Person vielleicht zu spät, dass sie krank oder verletzt ist und kümmert sich nicht um die Verletzung / geht nicht zum Arzt.
  • Krankheiten werden ggf. erst sehr spät entdeckt - weil der Schmerz ja erst stark genug werden muss, damit er überhaupt bemerkt werden kann. Im Vergleich wäre das vermutlich dann ein Zustand, in dem Neurotypen sich vermutlich schon vor Schmerzen krümmen würden, während die Autisten gerade mal merken, dass etwas nicht passt. Aber die meisten medizinischen Maßnahmen profitieren ja eigentlich davon, wenn sie zeitnah begonnen werden... 
  • Die Angabe des Patienten, wie stark ein Schmerz ist, ist ein wichtiges Diagnosemerkmal für medizinische Fachkräfte. Bei autistischen Menschen können sie sich aber nicht darauf verlassen, weil die eine andere Schmerzskala haben... Darum ist es ganz wichtig, dass Ärzte immer darüber informiert werden, dass Autismus vorliegt und die Schmerzwahrnehmung herabgesetzt ist.
Ich möchte den Beitrag mit folgendem Tipp beenden: wenn ihr einen Autisten vor euch habt, der euch mitteilt, dass er irgendwo Schmerzen hat, dann könnt ihr zu 100 % sicher sein, dass das stimmt und dringend Maßnahmen erforderlich sind. Orientiert euch nicht daran, ob er / sie einen kranken Eindruck macht, sondern vertraut bedingungslos darauf. Denn bis autistische Menschen mitteilen, dass ihnen irgendetwas weh tut oder sich komisch fühlen, muss in der Regel wirklich viel passieren. 

Habt einen schönen, schmerzfreien Tag. :-)
Anne

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