Autismus in den Medien: Der Elektromann

Hallo ihr Lieben!

Heute (24.07.) bin ich bei youtube auf einen True Crime-Fall gestoßen. Es ging dort um einen jungen Mann (David G.) der per Videochat 88 Frauen dazu gebracht hat, sich selbst gefährliche Stromschläge beizubringen. Er hat sich gegenüber Studentinnen als Wissenschaftler ausgegeben und vorgegeben, eine Studie durchführen zu wollen. Um die Motivation der Frauen, seinen Aufforderungen Folge zu leisten, zu steigern, hat er jeweils einen ganzen Batzen Geld (200 - 3000 €) als Aufwandsentschädigung angeboten. Wenn sich die Frauen auf die Studie hin gemeldet haben, hat er erklärt, er müsse vorab einen Vortest mit ihnen per Videochat machen, wobei er immer vorgegeben hat, dass gerade seine Kamera und sein Mikrofon vom Laptop nicht funktionieren würden, sodass die meisten Frauen nie sein Gesicht und seine reale Stimme wahrgenommen haben. Selbstverständlich hat er auch nie seinen richtigen Namen verwendet, sondern hat es sogar so weit betrieben, dass er sich eine völlig andere Identität zugelegt hat, genauer genommen ein Arzt. Dafür hat er sogar Zertifikate gefälscht. Kurz: er hat alles getan, um so glaubhaft wie möglich zu wirken, damit die Frauen auch auf jeden Fall auf ihn reinfallen und mitmachen. Seine sogenannten Experimente bestanden darin, dass er die Frauen aufforderte, sich an die Steckdose angeschlossene Löffel an die Schläfen zu halten, oder mit Alufolie umwickelte Sandalen anzuziehen und sich damit Stromschläge zu versetzen. Richtig krass, oder? Wenn die Frauen Zweifel äußerten, hat er sie immer beschwichtigt und ihnen erklärt, die Experimente seien völlig ungefährlich, sie würden nichts als ein leichtes Kribbeln spüren. Daraufhin haben sie sich die Stromschläge versetzt. Zahlreiche Frauen sind ohnmächtig geworden, andere haben Brandmarken am Kopf zurückbehalten. Im Prinzip war es ein reiner Zufall, dass keine der Frauen zu Tode gekommen ist. Aber warum schreibe ich das alles? Das ist doch hier kein Blog über True Crime-Fälle! Stimmt. Aber im Zuge der Ermittlungen kam raus, dass David G. angeblich am Asperger-Syndrom leidet.

Es kommt immer wieder vor, dass bei besonders schweren Straftaten oder bei Taten wie Amokläufen hinterher in Medienberichten die Rede davon ist, dass der Täter "vermutlich / wahrscheinlich / möglicherweise autistisch" gewesen sei. Berichte bei denen ich, sorry den Ausdruck, kotzen könnte. Ganz einfach weil solche Berichte dazu beitragen, dass in der Gesellschaft ein völlig falsches Bild von Autismus geprägt wird, nämlich dem brandgefährlichen, unempathischen Psycho. Dazu kommt, dass die Reporter, die diese Berichte verfassen, eigentlich überhaupt keine Ahnung von Autismus haben und sich nur der üblichen Vorurteile bedienen. Auch bei David G. habe ich erhebliche Zweifel daran, dass er wirklich das Asperger Syndrom hat, da sein Verhalten im Prinzip überhaupt nicht zu einer Autismus-Spektrums-Störung passt. Da ich David G. niemals persönlich kennengelernt habe und auch keine Ärztin, Psychologin oder Psychotherapeutin bin, kann und möchte ich mir nicht anmaßen, eindeutig zu sagen: der Mann hat das Asperger Syndrom oder nicht, aber ich möchte zumindest zur Aufklärung über Autismus beitragen und Punkte aufführen, die nicht für das Vorliegen von Autismus sprechen. Die schlussendliche Entscheidung über Glaubwürdigkeit, muss dann jeder Leser für sich entscheiden.

Strom = Spezialinteresse?

Der Fairness halber muss ich auch einen Punkt erwähnen, der für das Vorliegen einer Autismus-Spektrums-Störung spricht. David G. hat sich bereits seit seiner Kindheit immer wieder intensiv mit Strom und Elektrizität beschäftigt und habe dieses Interesse niemals verloren. Im Erwachsenenalter tauscht er sich dann mit Gleichgesinnten im Internet weiter über dieses Thema aus. Seine Experimente bezogen sich nachweislich auf Elektrizität und die Auswirkungen von Strom auf den menschlichen Körper. Man könnte jetzt davon ausgehen, dass er diese Experimente gemacht hat, um sein Wissen über dieses Thema zu vertiefen. Das wäre schon ziemlich heftig und wäre auch nur eine Begründung, wenn er zusätzlich unter einer starken geistigen Behinderung gelitten hätte und nicht in der Lage gewesen wäre, die Auswirkungen von solchen Experimenten korrekt einzuschätzen. Davon ist aber nicht die Rede. Die Ermittler gehen davon aus, dass er sich sehr wohl der Gefahr von Haushaltsstrom bewusst war. Zudem hat er als Informatiker gearbeitet, es ist also von einer gewissen Mindestintelligenz auszugehen. Zumal er sich ja bereits seiner Kindheit mit Strom / Elektrizität beschäftigt hat. Wer nach mehreren Jahren intensiver Beschäftigung mit dem Thema nicht kapiert hat, dass auch der Strom aus der Steckdose potentiell tödlich sein kann, oder zumindest Menschen stark verletzen kann, sorry...

David G. hatte, zusätzlich zu dem angeblichen Autismus eine sogenannte sexuelle Deviation (wird mit Perversion übersetzt). Er hatte sowohl einen Fuß-, als auch einen Sadomaso-Fetischismus. Letzteres bedeutet, dass es einen Menschen sexuell erregt, wenn er anderen Menschen Schmerzen zufügt, sie demütigt oder seine Macht gegenüber der anderen Person zum Ausdruck bringt, oder andere Menschen bei der Ausübung solcher "Maßnahmen" beobachtet. Insgesamt würde ich also nicht davon ausgehen, dass das Spezialinteresse ausschlaggebend für seine Experimente mit den Frauen war, sondern eher seine extrem ausgeprägte sexuelle Neigung. Mit Strom kann man Menschen sehr gut foltern und ihnen Schmerzen zufügen, also hat er einfach beides miteinander vereint. Was dafür spricht, dass seine Experimente eher sexuellen Interesses waren: er hat die Experimente gefilmt um sie sich immer wieder anschauen zu können und hat, wenn die Frauen sich von dem Schlag erholt haben, ihnen quasi Löcher in den Bauch gefragt, wie ihre Empfindungen in dieser Situation waren.    

Schwierigkeiten bzgl. sozialer Kontakte

David G. beschreibt, dass er wenig Freunde sowie Schwierigkeiten damit habe, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Nun sind soziale Schwierigkeiten durchaus ein Anhaltspunkt für das Vorliegen einer Autismus-Spektrums-Störung. Allerdings ist Autismus nicht die einzige psychische Störung, bei der das auftritt. Nicht jeder schüchterne, zurückhaltende Mensch ist automatisch ein Autist oder anderweitig psychisch gestört, er könnte auch einfach introvertiert sein oder nicht wissen, worüber er sich unterhalten soll. Es wäre absoluter Schwachsinn, diese Schwierigkeit als Hauptanhaltspunkt für Autismus zu nutzen. 

Extrem gute Fähigkeiten im manipulieren / lügen / verstellen

Um die Frauen zu der Teilnahme an seinen verrückten "Experimenten" bewegen zu können, musste er so tun, als wäre er jemand völlig anderes. Er hat unglaublich viel Aufwand betrieben, um diese Rolle glaubhaft rüberzubringen. Er hat einen falschen Namen verwendet, hat Urkunden gefälscht, um sich zum Beispiel selber eine Bescheinigung als Doktor auszustellen, ... Außerdem musste er immer wieder die Frauen aktiv anlügen, um sie davon zu überzeugen, dass das was sie tun sollen, absolut ungefährlich ist. Die Opfer beschrieben ihn im Nachhinein eigentlich übereinstimmend als sehr glaubwürdig. Und hier ist meiner Meinung nach ein entscheidender Knackpunkt zu sehen: um jemanden so erfolgreich manipulieren zu können bedarf es einer extrem gut ausgeprägten Perspektivübernahme. Sprich: man muss die Person genau einschätzen und dann entscheiden, was zu tun ist und was die Person hören muss, damit sie in dem Fall vertraut. Er musste sehr gut planen: was muss ich alles vorbereiten und sagen, damit ich auch wirklich als Professor durchgehe und ein wissenschaftlich einwandfreies Experiment durchführen möchte und was muss ich anbieten und sagen, damit die Frauen sich sicher fühlen und ihre Zweifel ablegen. Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung haben in aller Regel große Schwierigkeiten mit der Perspektivübernahme und die meisten können auch unfassbar schlecht überzeugend lügen. Das sind meines Erachtens viel zu viele soziale Anforderungen auf einmal, um wirklich über einen Zeitraum von mind. einer halben Stunde absolut unauffällig zu sein und das auch bei den anderen Malen immer wieder hinzukriegen. 

Keinerlei Skrupel

Wäre die Polizei ihm nicht irgendwann auf die Spur gekommen, weil eine Teilnehmerin seines Experimentes ins Krankenhaus musste, hätte David G. seine Experimente vermutlich unendlich weitergeführt. Er konnte live beobachten, dass die Frauen Krämpfe und extreme Schmerzen hatten, teilweise sogar ohnmächtig geworden sind und trotzdem hat er das über 5 Jahre lang immer wieder praktiziert. Er hat billigend in Kauf genommen, dass die Frauen hätten sterben können. Man sagt autistischen Menschen häufig nach, dass sie keine Empathie und kein Mitgefühl empfinden können, weil ihre Spiegelneuronen nicht ausgeprägt genug funktionieren würden. Erstens handelt es sich hierbei um einen weit verbreitenden Irrglaube - viele Autisten können durchaus (natürlich immer abhängig vom Schweregrad und den persönlichen Erfahrungen) sehr gut feststellen, wenn es einer anderen Person nicht gut geht und nehmen zumindest Unwohlsamkeit in der Situation war. Es ist ihnen vielleicht nicht ganz schlüssig, weswegen es der Person gerade nicht gut geht und sie können vielleicht auch keine konkrete Emotion benennen, aber "es geht der Person gut" / "es geht der Person schlecht" kann die überwiegende Mehrzahl ohne Mühe. Dazu kommt, dass er ja einen Sadomaso-Fetisch hatte, weswegen sollte ihn eine Situation erregen, die er überhaupt nicht versteht, weil er die Reaktionen der Personen nicht deuten kann? Ist doch Quatsch. Autistische Menschen haben zudem häufig einen recht ausgeprägten moralischen Wertekompass, nach denen sie sich i. d. R. fast ausnahmslos richten. Regelübertritte sind ihnen zumeist sehr unangenehm. Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass ein autistischer Mensch nicht in der Lage wäre, bewusst über mehrere Jahre immer wieder Menschen zu quälen und sie dabei auch noch anzulügen, ohne an einem massiv schlechten Gewissen zu leiden. 

Sonstige Gedankenanregung

Das Störungsbild Autismus sorgt genauso wenig dafür, dass ein Mensch straffällig wird, wie die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem Mensch der gern Egoshooter spielt, sehr wahrscheinlich ein Amokläufer wird. Eine psychische Erkrankung kann mit reinspielen in eine solche Tat, ist aber keinesfalls der alleinige Grund dafür und ist um Gottes Willen nicht zu verallgemeinern. Nicht jeder schizophrene Patient folgt der Aufforderung einer Stimme, die ihm zuflüstert, dass er jetzt unbedingt den Postboten zu Brei schlagen soll. Und um bei dem Beispiel zu bleiben: es hört nicht mal jeder Schizophrene Stimmen, manche sehen zum Beispiel auch Dinge, die nicht da sind oder spüren irgendwelche Berührungen, die von niemandem verursacht werden. Darum kann man eben nicht sagen, Menschen die die psychische Erkrankung X, Y oder C haben sind besonders gefährlich, die werden garantiert eine Straftat begehen. Es spielen so viele Punkte rein, ob jemand straffällig wird - die Kindheit, etwaige Konflikte, nimmt die Person irgendwelche Medikamente, ... Diese Tatsache machen sich aber nur die wenigsten Menschen bewusst. Wenn sie z. B. immer wieder lesen, dass Straftäter angeblich autistisch sind, speichert sich irgendwann bei ihnen ab: autistische Menschen sind gefährlich und zu allem fähig. Es ist dasselbe wie mit Menschen, die nach Berichten über Flugzeugabstürze Panik haben zu fliegen - ja, es mag einige Abstürze gegeben haben, aber wie viele Flüge laufen denn im Verhältnis dazu absolut glatt? Wie viele Autisten sind ihr komplettes Leben lang straffrei? Das steht ja nicht im Bericht... 

Mein grundsätzlicher Wunsch an Journalisten / andere Menschen, die mit Medien und Berichterstattung zu tun haben: lasst Krankheitsdiagnosen doch einfach weg. Ein anderer Autist hat auf seinem Blog sehr treffend geschrieben: "Ihr schreibt doch auch nicht, dass der Straftäter blaue Turnschuhe getragen hat." - er hat völlig Recht. Es wird nicht erwähnt, weil es für die Tat an sich keine Rolle spielt. Und wie oben beschrieben ist eine psychische Störung eben auch nicht die ausschließliche Ursache für eine Straftat und so könnte man dabei helfen Vorurteile gegenüber autistischen Menschen stückweise abzubauen. 

Ich hoffe, dass ihr trotz des ernsten Beitrages einen schönen Tag habt.
Anne

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