Reizüberflutung in der Schule - was kann man tun?

Hallo ihr Lieben!

Viele Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrums-Störung nehmen die Schulzeit als ziemlich herausfordernd wahr. Einer der Hauptgründe ist meines Erachtens, dass sie in der Schule jeden Tag zahlreichen Reizen ausgesetzt sind, denen sie schlecht entfliehen können und die dann in der Kombination mit den vielen anderen Anforderungen, die an sie gestellt werden, häufig zu einer Reizüberflutung führen. Nun könnte man sagen: "Tja, ist halt so. Schule ist Pflicht, da müssen sie eben durch.", aber es gibt meiner Meinung nach einige ganz simple Möglichkeiten, wie man das Risiko einer Reizüberflutung in der Schule deutlich reduzieren kann. Dieser Beitrag richtet sich hauptsächlich an LehrerInnen autistischer Schüler, da Eltern ja nur bedingt Einfluss auf die Gegebenheiten an der Schule Einfluss nehmen können.

1. Pausen im Klassenraum verbringen

In vielen Schulen gilt die Regel, dass die größeren Pausen auf dem Schulhof oder in der Kantine verbracht werden müssen. Im Klassenzimmer bleiben ist häufig tabu. Natürlich gibt es sinnvolle Gründe dafür: die Kinder sollen sich bewegen und auspowern, mit Gleichaltrigen in Kontakt treten, was sie vermutlich nicht unbedingt tun würden, wenn sie im Klassenzimmer bleiben würden und sich dort jeder mit seinem Handy beschäftigen würde. Außerdem ist es natürlich auch für die Lehrer eine Möglichkeit der Erholung, da es natürlich bei vielen Kindern auf einem Haufen weniger Pädagogen für die Aufsicht benötigt, als wenn alle wählen könnten, ob sie im Schulhaus oder auf dem Hof sein wollen. Gerade für autistische Kinder wäre es allerdings eine riesige Erholung, wenn sie wenigstens 20 min am Stück mal alleine für sich sein könnten, Stille - keine lärmenden Mitschüler, niemand mit dem man interagieren und über dessen neurotypischen Verhaltensweisen man sich wundern muss, ... Mir hilft auf Arbeit zum Beispiel extrem, dass ich meine Mittagspause völlig allein, bei geschlossener Tür in meinem Büro verbringen darf. Sogar meine Kollegin ist dann nicht da, weil sie meist draußen spazieren geht. Ich kann in der halben Stunde so viel Energie für den restlichen Tag schöpfen! 

Natürlich kann ich die Argumente nachvollziehen, mit denen die meisten Schulen, eine solche Sonderregelung ablehnen: die Aufsicht wäre ggf. nicht abgesichert, es wäre unfair gegenüber anderen Kindern, ... Tatsächlich ist meiner Meinung nach das Risiko dass autistische Kinder in ihrer Zeit im Klassenzimmer irgendwelchen Blödsinn anstellen würden, eher als gering einzuschätzen, wenn nicht gerade noch zusätzlich Verhaltensauffälligkeiten vorliegen. Die meisten Schüler mit Autismus-Spektrums-Störung könnte man sehr wohl unbesorgt im Klassenzimmer allein lassen. Man könnte aber zum Beispiel auch einen Ruheraum einrichten, in denen man eben wie auf den Pausenhof eine(n) Lehrer(in) abstellt, die dann dort all die Kinder beaufsichtigt, die in den Pausen auf eine ruhige Atmosphäre benötigen, beaufsichtigt. Ein paar mobile Trennwände aufgestellt, zack: kleine Nischen in denen man für sich sein kann. Natürlich müssen dann klare Regeln für diesen Raum gelten, damit es dort dann auch wirklich still ist. Auch die Schülerbibliothek wäre eine Möglichkeit, wenn ein Ruheraum nicht möglich wäre.

2. Noise-Cancelling-Kopfhörer während Arbeitsphasen im Klassenzimmer

Viele Kinder profitieren von sogenannten Noise-Cancelling-Kopfhörern. Es gibt solche, die man zum Musikhören benutzen kann, aber auch welche, die man einfach so aufsetzen kann, sie werden zum Beispiel zum Rasenmähen oder auf Baustellen genutzt. Im Schulalltag gibt es immer wieder Arbeitsphasen, wo die Kinder für sich Aufgaben erfüllen, um den vermittelten Stoff zu festigen. Gerade solche Phasen eignen sich meines Erachtens perfekt, um mit solchen Kopfhörern Phasen der Ruhe und Entspannung zu schaffen, ohne dass das Kind wichtige Erläuterungen der Lehrkraft verpasst. Klar könnte man jetzt meinen, dass es doch in den Arbeitsphasen ohnehin still ist - schließlich sind alle Kinder beschäftigt, aber da unterschätzt man gewaltig die Reizfilterschwäche unter der autistische Menschen leiden. Auch wenn niemand redet, gibt es immer noch zahlreiche Reize: das Ticken der Wanduhr, die Lehrerin, die an der Tafel schon das nächste anschreibt, die Mitschüler, die mit den Stühlen umherrutschen, vielleicht fällt etwas runter, draußen mäht der Hausmeister gerade Rasen, Phil und Mia tauschen sich kurz über die Aufgaben aus, ... Mit solchen Kopfhörern fällt es den Kindern leichter, all diese Reize auszublenden und sich ausschließlich auf die Aufgaben zu konzentrieren. 

3. Nur das notwendigste auf den Arbeitsplatz / Trennwände

Ich habe mal einen Online-Gebärdenkurs gemacht, von zu Hause mit meinem Laptop. Es ist mir unfassbar schwer gefallen, mich auf das Geschehen in meinem Rechner zu konzentrieren, weil um mich rum auf dem Schreibtisch ziemlich viele andere Utensilien lagen. Stifte animieren zum kritzeln auf der Schreibtischunterlage, Knetradiergummi zum dran herum fummeln, oh - mein Ordner mit den Sammlungen über mein Spezialinteresse, ... Irgendwann habe ich die Notbremse gezogen und habe mich im Wohnzimmer gegenüber meiner weißen Wand hingesetzt. Hier hat das konzentrieren wesentlich besser geklappt, weil keine äußeren ablenkenden Reize vorhanden waren. Alles in unserem Alltag was man sehen, riechen, schmecken oder fühlen kann, ist ein Reiz, den das Gehirn verarbeiten und dessen Dringlichkeit es einschätzen muss. Was Neurotypen automatisch machen, kostet autistische Menschen viel Kraft. Es kann daher sehr hilfreich sein, wenn man aktiv nur die Gegenstände auf den Tisch legt, die wirklich notwendig für die Unterrichtsstunde sind: Hefter, Mathebuch, Füller, Lineal, Tintenkiller, Taschenrechner - das Tafelwerk und die restliche Federmappe verschwinden im Rucksack. Je weniger Gegenstände wahrgenommen werden, desto weniger muss verarbeitet werden. Trennwände rechts und links neben dem Arbeitsplatz des Schülers können helfen, sich auf die Tafel zu konzentrieren und die anderen Mitschüler oder die Plakate der letzten Projektwoche auszublenden. Auch ein Platz in der ersten Reihe kann helfen, da man dann nicht die anderen Schüler vor sich sieht, sondern nur Lehrertisch und Tafel.

4. Autistengerechte Sprache benutzen

Auch unnötige kognitive Belastung kann zu Reizüberflutung führen. Autistische Menschen sind quasi ständig damit beschäftigt, zu identifizieren, was ihr neurotypisches Gegenüber ihnen versucht zu sagen. Grund dafür ist, dass es im neurotypischen Sprachgebrauch leider üblich ist, Sprachbilder, Ironie, Sarkasmus oder Sprichwörter zu verwenden, oder Aufforderungen unklar zu formulieren. Für Menschen im Autismus-Spektrum, die Sprache häufig wortwörtlich verstehen, führt das meist zu Irritationen, weil es auf den ersten Blick meist keinen Sinn ergibt. Autisten profitieren daher extrem davon, wenn man ihnen gegenüber klare Sprache verwendet. Das erfordert natürlich am Anfang ein bisschen Übung der Klassenkameraden und Lehrkräfte, wird aber den positiven Nebeneffekt haben, dass das Klassenklima insgesamt besser wird. Denn auch wenn neurotypische Menschen diese sprachlichen Mittel gewöhnt sind, sind sie nicht davor gefeit, dass auch sie Missverständnissen erliegen, was dann nicht selten in Konfliktsituationen mündet.

5. Entspannung zwischendurch ermöglichen, Stimming nicht unterbrechen

Die beste Methode einer Reizüberflutung entgegenzuwirken ist und bleibt aber, wenn der autistische Mensch möglichst entspannt ist. Eine gute Möglichkeit ist zum Beispiel malen / kritzeln, auch während des Unterrichts. Die landläufige Meinung ist, dass das den Schüler vom Unterrichtsgeschehen ablenkt, tatsächlich hilft es häufig aber sogar beim konzentrieren. Ich kann mich zum Beispiel wesentlich besser konzentrieren, wenn ich nebenbei irgendwas auf der Schreibtischunterlage kritzele. Zeichnen hilft überflüssige Reize auszublenden und sich auf die Stimme des Lehrers zu konzentrieren. Wie das funktioniert, weiß ich selber nicht so genau, aber ich weiß, dass das vielen wirklich sehr stark hilft. Auch der Gebrauch von Stimmingspielzeug (Fidget Spinner, Fidget Cube, Anti-Stressbälle, ...) sollte, sofern es nicht irgendwie extrem nervige Geräusche macht, erlaubt werden. Was mir zum Beispiel auch häufig in der Berufsschule geholfen hat: eine Strickjacke falsch herum umbinden und quasi mit dem Stuhl verbinden. Ich habe mich quasi am Stuhl festgebunden und hatte so das Gefühl, als würde ich mich selbst umarmen, ich konnte so wesentlich besser zuhören. Auch wippen / schaukeln mit dem Oberkörper, leises Summen, etc. sollten nicht unterbrochen werden. Mit ein bisschen Übung kann man das als Lehrkraft gut ignorieren und dem Schüler hilft es, sich zu beruhigen und zu entspannen. Je entspannter er ist, desto mehr nimmt er vom Unterrichtsgeschehen auf und desto geringer ist das Risiko einer Reizüberflutung. 

Was fallen euch noch für Möglichkeiten ein, wie Reizüberflutung in der Schule eingedämmt werden kann? Schreibt es gern mal in die Kommentare! 

Habt einen schönen Tag.
Anne

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