Inklusion von autistischen Menschen

Hallo ihr Lieben,

jedes Jahr am 02.04. ist der sogenannte Welt-Autismus-Tag. Dieser hat jedes Jahr ein anderes Motto, zu welchem verschiedene Informationsveranstaltungen stattfinden. Das Motto von 2023 lautete: Aufbau einer inklusiven Gesellschaft für Autist: innen. Der Welt-Autismus-Tag ist vorbei, aber das Thema ist deswegen ja nicht weniger wichtig oder gar veraltet. Ganz im Gegenteil. Wir sind noch weit davon entfernt, dass das Projekt vervollständigt ist. Darum hole ich meinen jährlichen Beitrag über diesen Tag jetzt einfach mal nach. 

Was bedeutet Inklusion?

Viele Menschen mit Behinderung erleben in ihrem Alltag leider sehr häufig, dass die Umwelt nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt sind. Zum Beispiel sind bei Weitem nicht alle Gebäude barrierefrei - das fängt damit an, dass manche Gebäude nur mit Treppen ausgestattet sind, an Rampen oder Fahrstühle hat beim Bau niemand gedacht. Sehbehinderte Menschen haben häufig keinerlei Möglichkeit, sich in fremden Gebäuden zu orientieren, weil niemand einkalkuliert hat, dass man ggf. Blindenleitsysteme benötigen könnte. Kinder mit Behinderung müssen häufig auf Spezialschulen, weil die Lehrer an Regelschulen häufig keine Kenntnisse darüber haben, wie sie sie trotz ihrer Einschränkung gut fördern kann. Museen sind für sehbehinderte Menschen häufig eigentlich so gut wie überhaupt nicht nutzbar, weil alles darauf ausgelegt ist, dass man die Exponate sehen kann. Selbst wenn es einen Audio-Guide gibt, beschreibt der häufig nicht den Gegenstand um den es geht, sondern erklärt nur Details zur Herkunft, oder sonstiges Wissenswertes dazu. Aber ganz ehrlich - was nützt einem ein Audio-Guide, wenn man überhaupt keine Vorstellung davon hat, was man da gerade vor sich hat? Ihr seht, es gibt zahlreiche Hürden im Alltag, an dem Menschen mit Behinderung entweder vollständig scheitern oder nur mit sehr guter Vorbereitung / Planung oder fremder Hilfe bewältigen können, weil die Gesellschaft einfach nicht darauf ausgerichtet ist, dass nicht alle Menschen die gleichen körperlichen oder psychischen Voraussetzungen haben. 

Inklusion bedeutet, dass die Menschen mit Behinderung sich nicht mehr an die vorhandenen Gegebenheiten anpassen müssen und zum Beispiel Begleitpersonen organisieren müssen, sondern, dass sie automatisch die Bedingungen vorfinden, unter denen sie ohne große Mühe, genau wie nicht-behinderte Menschen gleichermaßen an den unterschiedlichen Dingen teilhaben können. Aber wie könnte Inklusion bei autistischen Menschen aussehen? Was müsste sich verändern?

Es muss viel mehr über Autismus informiert werden.

Ganz viele Menschen können mit der Autismus-Spektrums-Störung wenig bis gar nichts anfangen. Wenn sie schon mal etwas davon gehört haben, dann haben sie diese Informationen häufig aus Fernsehserien / Kinofilmen, bei denen das Störungsbild alles andere als realistisch dargestellt wird. Oder sie haben Vorurteile, wie zum Beispiel, dass alle Autisten Inselbegabungen haben, keinerlei Gefühle bei anderen Menschen wahrnehmen, etc. Vielen Menschen ist kaum klar, was im Umgang mit autistischen Menschen wichtig ist - zum Beispiel klare, eindeutige Sprache, kein unangekündigter Körperkontakt oder dass sich Autisten gegebenenfalls anders verhalten, als sie es von neurotypischen Menschen (die ja leider immer in der Überzahl sein werden) kennen. So verstehen sie zum Beispiel nicht, dass fehlender Blickkontakt kein mangelndes Interesse darstellt, bzw. dass sie bei der typisch autistischen unbeschreiblichen Direktheit nicht beleidigt werden sollen, sondern den Menschen einfach die Fähigkeit zur Perspektivübernahme fehlt und sie gar nicht auf dem Schirm haben, dass das ggf. beleidigend aufgefasst werden könnte. Jede(r) Mitarbeiter(in) von Ämtern, alle medizinischen Mitarbeiter, alle Mitarbeiter in Freizeiteinrichtungen und alle pädagogischen Mitarbeiter sollten nach Möglichkeit eine Grundlagenschulung zum Thema Autismus erhalten, damit sie wenigstens im Groben eine Idee davon haben, worauf sie achten müssen, bzw. was dem betroffenen Menschen gut tun könnte. Sie sollen die Autisten nicht therapieren oder Experten für die Autismus-Spektrums-Störung sein, das verlangt um Gottes Willen niemand. Natürlich kann man niemandem an der Nasenspitze ansehen, dass er Autismus hat, auch nicht nach einer Schulung, sonst würde es ja keine Diagnostikverfahren benötigen. Es reicht völlig, wenn sie die wichtigsten Information über das Störungsbild kennen und die Autisten nicht auch noch mit Vorurteilen belasten, wenn diese ihnen mitteilen, dass sie autistisch sind. Ganz häufig müssen autistische Menschen nämlich sogenannte Pionierarbeit leisten und ihre Mitmenschen erst mal über Autismus aufklären, was auf die Dauer oder je nach Tagesform durchaus ziemlich anstrengend sein kann. 

Überall sollte Kontakt per Mail möglich sein.

Für viele Menschen im Autismus-Spektrum stellt telefonieren eine große Herausforderung dar. Es gibt aber leider zum Beispiel ziemlich viele Praxen, die die Kommunikation per Mail ablehnen. Sie stellen einfach keine Mailadresse auf der Website zur Verfügung, weil sie telefonische Kontaktaufnahme wünschen. Als ich vor einer Weile nach einem Psychotherapeuten gesucht habe, war das ein echtes Hindernis. Denn am Anfang habe ich alle ausgeschlossen, die man nur per Telefon kontaktieren kann. Hätte ich dieses Suchkriterium weiter beibehalten, hätte ich ziemlich sicher immer noch keinen Therapieplatz. Psychotherapeuten bilden da keine Ausnahme, auch die meisten Arztpraxen bieten keinen schriftlichen Kontakt an. Für manche autistische Menschen ein absolutes Hemmnis, um medizinische oder psychologische Hilfe zu erhalten. Sie müssen entweder jemand anderen um Hilfe bitten, damit derjenige dort anruft - was ab Erreichen der Volljährigkeit ebenfalls nicht mehr so reibungslos funktioniert, weil die Mitarbeiter der Praxis / des Amtes aus Datenschutzgründen nur mit dem Patient / dem Antragsteller direkt sprechen möchten. Im ungünstigsten Fall kann das dazu führen, dass autistische Menschen (und auch andere Menschen, die nicht sprechen, wie z. B. Menschen mit selektivem Mutismus) dringend notwendige medizinische Hilfe nicht in Anspruch nehmen können, weil sie die Praxis schlichtweg nicht erreichen. Was soll das? 

Mehr Ruheräume/offizielle Rückzugsmöglichkeiten

Ein riesiges Problem ist auch, dass es eigentlich nirgendwo Rückzugsräume für autistische Menschen gibt. Wie oft war ich schon in der Innenstadt, habe meine Kapazitäten überschätzt und hätte dringend einen Raum gebraucht, in den ich mich wenigstens kurz mal zurückziehen kann, in dem ich Ruhe vor den ganzen Reizen habe, den Menschenmengen entfliehen und vielleicht ein bisschen Stimming betreiben kann, um wieder Kraft zu tanken und die Reizüberflutung nicht zu einem Shutdown / Meltdown ausarten zu lassen. Der springende Punkt ist: es gibt nirgendwo solche Räume. Neurotypen brauchen sie in der Regel nicht, auf Menschen die sensibel auf Reize reagieren, ist man aufgrund der Minderheit nicht eingestellt, also wird es in Planungen nicht mit einbezogen. Wenn man wüsste, dass es zum Beispiel auf einer Messe, oder im Shoppingcenter, im Museum, etc. einen Rückzugsraum gäbe, könnte man viel länger bei der gewählten Veranstaltung / Aktion bleiben, anstatt frühzeitig abbrechen zu müssen, weil die Reize zu viel werden und man aus Sicherheitsgründen sofort nach Hause fahren muss. Stillräume gibt es doch auch - warum kann man nicht auch einen Raum einplanen, in dem man sich kurz zurückziehen kann. Es braucht gar nicht viel. Ein paar Sitzsäcke / Stühle, gedimmtes Licht, fertig. Das würde so vielen Menschen, die sensibel auf zu viele Reize reagieren, das Leben deutlich leichter machen. Und das trifft nicht nur auf autistische Menschen zu!

Mehr Unterstützung für erwachsene Autist: innen (und andere Menschen mit Behinderung)

Menschen mit einer Behinderung benötigen häufig ihr Leben lang in bestimmten Bereichen ihres Lebens Unterstützung von anderen Menschen. Das ist eigentlich ganz logisch, denn die meisten Behinderungen verschwinden nicht einfach im Erwachsenenalter plötzlich, sondern bleiben in der Regel "erhalten". (Mir fällt gerade kein besseres Wort ein, ich weiß, dass "erhalten bleiben" eigentlich mit etwas positiven besetzt ist, während man eine körperliche oder seelische Behinderung vermutlich eher los hätte, als sie behalten zu wollen.) Gerade wenn das Erwachsenenalter erreicht ist, ist es vermutlich für jeden verständlich, dass man die notwendige Unterstützung nicht ausschließlich von seinen Eltern / Geschwistern erhalten möchte, schließlich möchte man gerade dann eigentlich selbstständig agieren. Freunde? Ja, auch Freunde helfen einem sicherlich gern, aber auch Freunde möchte man nicht immer um Begleitung / Unterstützung bitten. Schließlich haben sie auch noch ihr eigenes Leben und nicht immer dann Zeit, wenn wir Hilfe benötigen würden. Ganz davon abgesehen, haben Begleitpersonen häufig das Gefühl, dass sie die Verantwortung für die Person haben, die sie begleiten und können Veranstaltungen so meist nicht wirklich in vollen Zügen genießen, weil sie sich schlechter vollkommen entspannen können. Schließlich sollen sie ja sofort bereit sein zu helfen, wenn etwas schief geht. Was liegt dann also näher, als beim Sozialamt professionelle Hilfe (z. B. Arbeitsassistenz, Ambulant Betreutes Wohnen, Freizeitassistenz, etc.) zu beantragen? 

Leider sind Sozialämter häufig ziemlich "schwerfällig", was die Bewilligung solcher Leistungen betrifft. Und das ist noch freundlich ausgedrückt. Häufig müssen neben dem normalen Antrag zahlreiche zusätzliche Unterlagen (z. B. Arztbriefe) und Nachweise erbracht werden, die beweisen sollen, dass die Hilfe auch wirklich, wirklich erforderlich ist. Und das unfairste ist aus meiner Sicht noch, dass einige dieser Leistungen von den Einkommensverhältnissen abhängig gemacht werden. Wer "zu viel" verdient, bekommt die Leistung nicht bewilligt, sondern muss eine solche Assistenz selbst bezahlen, so lange, bis das Geld wenig genug ist. Ist es nicht schon schwierig genug, mit den Einschränkungen leben zu müssen und im Alltag ständig Hürden zu begegnen, die man bewältigen muss? Warum sollte man zusätzlich bestraft werden, indem man für die Hilfen, die man behinderungsbedingt wirklich benötigt, auch noch selbst zahlen muss? Also versteht ihr? Es ist doch quasi doppelt unfair: kerngesunde Menschen ohne Behinderung haben deutlich weniger Schwierigkeiten im Leben, brauchen nicht überdurchschnittlich viel Hilfe und müssen sich in der Regel keinen größeren Kopf darüber zerbrechen, wenn sie irgendetwas unternehmen möchten. Bei Menschen mit Einschränkungen sagt das Sozialamt aber quasi: "Du hast eine Behinderung und es dadurch ohnehin schon schwerer im Alltag als andere? Du willst deswegen Unterstützung?! Nö, nö, wo kämen wir denn da hin, wenn man euch besser integrieren würde, indem man euch die notwendigen Hilfen zur Verfügung stellt, damit ihr genauso wie alle anderen auch teilhaben könnt. Das ist doch wohl Luxus, bezahlt das mal schön selbst. Wenn ihr kein Geld mehr habt, können wir vielleicht noch mal reden." Ganz ehrlich? Wer, der eine solche Hilfe eigentlich gar nicht bräuchte, würde sich die Mühe machen und einen Antrag auf solche Unterstützungen stellen?! Wer wäre so doof, die Bürokratie sinnloserweise auf sich zu nehmen? Zumal man das Geld für diese Leistungen in der Regel nicht direkt ausgezahlt bekommt (außer beim Persönlichen Budget, aber das ist jetzt nicht das Thema), sondern das Amt zahlt das Geld an den Träger, der die Assistenz zur Verfügung stellt. Man hat also dadurch nicht mal einen finanziellen Bonus. Und wer keine Assistenz braucht, der wird sie auch nicht haben wollen, weil er mit ihr gar nichts anfangen kann. Sie sind ja schließlich keine Dienstmägde / Dienstboten, sondern helfen an den Stellen, an denen die Einschränkungen Schwierigkeiten auslöst, die der Mensch nicht alleine bewältigen kann, der Rest wird von der Person mit Einschränkung selbst erledigt... Es ist also aus meiner Sicht absolut nicht nachvollziehbar, warum sich die meisten Ämter so schwer damit tun, notwendige Hilfen zu gewähren. 

Was fällt euch noch zum Thema Inklusion und Autismus ein? Schreibt es gern in die Kommentare.
Habt einen schönen Tag.
Anne

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