Autismus und Physiotherapie

Hallo ihr Lieben!

Ich habe ja schon von mehreren Therapien berichtet, die Menschen mit der Autismus-Spektrums-Störung helfen können. Heute soll es um die Physiotherapie gehen. Zuallererst muss ich aber wieder meinen Standarthinweis bringen: Autismus ist nicht heilbar, daran kann auch die Physiotherapie nichts ändern. Wie alle Therapien dient sie in dem Fall lediglich dazu, den Betroffenen dabei zu helfen, mit den Schwierigkeiten die sie durch den Autismus haben, besser klarzukommen oder die Auswirkungen des Autismus zumindest ein bisschen zu lindern und ihnen damit das Leben ein bisschen leichter zu machen. 

Warum kann Physiotherapie bei Autismus sinnvoll sein?

Nun könnte man sich fragen: Physiotherapie wird doch eher bei körperlichen Behinderungen / Einschränkungen angewandt, dazu zählt Autismus doch gar nicht?! Das ist im Kern natürlich richtig. Autismus ist laut WHO eine psychische Störung, ich würde es als Störung der sozialen Interaktion und Wahrnehmungsbesonderheit bezeichnen. Klingt erst einmal nicht wie ein klassischer Fall für Physiotherapie. Tatsächlich hat der Autismus aber noch andere Auswirkungen, als nur die offensichtlichen:
  • Schwierigkeiten den eigenen Körper richtig wahrzunehmen
Menschen mit Autismus-Spektrum haben häufig Probleme mit der sogenannten propriozeptiven Wahrnehmung. Das bedeutet, dass sie Schwierigkeiten damit haben, ihre Lage im Raum zu spüren und die Steuerung ihrer Bewegungen darauf abzustimmen. Das führt dazu, dass sie zum Beispiel häufig irgendwo an Möbeln anecken oder anderen Menschen in die Hacken laufen beim Spazierengehen. Auch Gleichgewichtsprobleme und Koordinationsstörungen sind nicht selten, wenn man seinen Körper nicht angemessen wahrnehmen kann.
  • Muskelverspannungen
Täglich strömen dutzende Reize auf einen Menschen ein. Autisten haben Schwierigkeiten diese auszublenden, was sehr anstrengend ist. Dadurch haben viele konsequent einen zu hohen Muskeltonus. Durch die Tatsache, dass sie ihren Körper oft nicht richtig wahrnehmen, fällt ihnen das allerdings kaum auf, sodass sie sich nicht aktiv entspannen können. Ergebnis: sie leiden unter Verspannungen. Diese können ebenfalls durch übermäßiges Stimming ausgelöst werden. Wenn eine Bewegung immer und immer wieder wiederholt wird, kann es passieren, dass diese Muskeln zu stark belastet werden.
  • Motorische Unruhe
Das ist im Prinzip der Fachbegriff für "herumzappeln", den Drang sich ständig zu bewegen. Dieses Verhalten ist nicht nur bei ADHS, sondern auch bei Autismus häufig zu beobachten. Autisten haben häufig große Schwierigkeiten, sich zu entspannen und werden unruhig, wenn sie zu lange still irgendwo sitzen müssen. 

Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Aufzählung nur ein Bruchteil von Symptomen des Autismus sind, bei dem Physiotherapie hilfreich sein kann.

Wie kann Physiotherapie bei diesen Symptomen helfen?

Eine mögliche Methode um die propriozeptive Wahrnehmung zu verbessern ist PNF (Propriozeptive Neuromuskuläre Faszillation). In unserem Körper befinden sich mehrere "Fühler", sogenannte Rezeptoren, die dem Gehirn mitteilen, in welcher Lage sich unsere Körperteile gerade befinden. Diese Fühler sind bei Menschen die mit der propriozeptiven Wahrnehmung Probleme haben, nicht so gut ausgebildet. Bei der PNF Therapie versucht der Therapeut diese Rezeptoren aufzuwecken. Ein Beispiel: der Patient liegt auf der Behandlungsliege und soll das Bein angewinkelt in die Luft strecken. Der Therapeut versucht das Bein nun zu einer Seite zu drücken, während der Patient gegenhalten muss, um das zu verhindern. Danach zieht der Therapeut das Bein zu sich und der Patient muss wieder versuchen, dass das Bein dort bleibt, wo es ist. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber es aktiviert die Rezeptoren und diese arbeiten besser mit dem Gehirn zusammen. Eine zeitlang habe ich regelmäßig bei der Physiotherapie PNF erhalten und habe hinterher einen deutlichen Unterschied gespürt. PNF darf allerdings nicht jeder Physiotherapeut durchführen. Diese Behandlungsform erfordert eine spezielle Ausbildung.

Außer PNF gibt es aber noch andere Möglichkeit die Wahrnehmungsfähigkeit zu trainieren. Zum Beispiel mit einer Art Hindernisparcours - da muss sich der Körper ja quasi ständig auf neue Gegebenheiten einstellen und Kraft und Bewegung entsprechend dosieren. Manchmal setzen Physiotherapeuten auch getrocknete Linsen / Erbsen / Sand / Murmeln ein und der Patient soll sich durch die verschiedenen Materialien bewegen. Alles starke Reize, die dem Gehirn helfen, sich mal nicht auf die überflutende Umgebung, sondern auf diesen einen spezifischen Reiz zu konzentrieren. Auch Pezibälle (Gymnastikbälle) werden gern benutzt, weil sie das Gleichgewicht trainieren und ein völlig anderer Untergrund sind.

Auch Massagen können hilfreich sein. Der Grund: dabei wird einerseits die verspannte Muskulatur gelockert. Zum anderen werden dabei aber auch die oben angesprochenen Rezeptoren stark stimuliert, wodurch ein sogenannter Tiefendruck ausgelöst wird. Das ist insofern praktisch, dass man seinen Körper nach der Behandlung, ebenso wie bei PNF, besser spüren kann. Aber Tiefendruck sorgt bei sehr vielen Menschen auch dafür, dass der Körper in den Entspannungsmodus eintritt. Das ist auch der Grund warum Druckwesten oder Therapiedecken (gewichtete Decken) vielen Autisten sehr gut hilft. Es verhilft Autisten also dazu, sich einfach mal zu entspannen. 

Ich bin kein Physiotherapeut, daher kenne ich nicht sämtliche Methoden, die angewandt werden können, das würde aber auch den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Dies hier ist nur eine kleine Auswahl.

Möglichkeit der Förderung von Interaktion

Aber die Physiotherapie kann nicht nur die körperlichen Symptome positiv beeinflussen, sondern autistische Menschen unter Umständen auch in ihrer Interaktion mit anderen Menschen trainieren. In der Schule hatte ich jede Woche 2x wöchentlich Physiotherapie für je 30 min. Eigentlich hatte ich in jedem Schuljahr auch jeweils eine Einheit in der Woche, wo ich mit anderen Schülern gemeinsam Therapie hatte. Neulich habe ich mal meine alten Unterlagen durchgeschaut und bin dabei auf einen alten Therapiebericht von damals gestoßen. Offensichtlich war die Gruppentherapie nicht nur organisatorisch praktisch, weil so natürlich mehrere Kinder gleichzeitig gefördert werden können und so weniger Therapeuten gebunden waren, die sich dann wiederum um andere Schüler kümmern konnten, sondern es war auch ein therapeutischer Sinn dahinter. Bei der Gruppentherapie haben die Physios immer den Fokus darauf gelegt, dass wir Kinder untereinander kommunizieren, zusammenarbeiten und uns gegenseitig helfen. Wenn der Hausarzt also Gruppentherapie verordnet, kann die Physiotherapie auch dazu beitragen, dass die Interaktion mit Gleichaltrigen trainiert wird. Dort fand ich es tatsächlich immer ein bisschen leichter, weil wir "gelenkt" wurden und konkrete Aufträge bekommen haben. Meistens hat unsere Therapeutin sogar noch die Kommunikation gefördert, indem sie uns in kleine Gespräche verwickelt hat. Achtung: für manche Autist: innen wäre Gruppentherapie wirklich ein absolutes Grauen, man muss wirklich gut prüfen, ob man diesen Weg gehen möchte. Bei mir hat es ganz gut funktioniert, weil sie die Gruppentherapie in der Regel mit Klassenkameraden / Freundinnen geplant von mir geplant haben, also mit Kindern, die ich bereits kenne. Sie haben es also nicht übertrieben, sondern konnten schon recht gut einschätzen, inwieweit das für uns überhaupt machbar ist.

Was gibt es zu bedenken?

Die Therapie sorgt voraussichtlich nicht dafür, dass die Symptomatik, an der gearbeitet wird, ganz und gar verschwindet. Dessen sollte man sich unbedingt bewusst sein, damit man im Nachhinein nicht enttäuscht ist. Meistens führt sie zumindest während der Behandlungsepisode zu einer Verbesserung, sobald aber eine längere Therapiepause gemacht wird, werden die Schwierigkeiten meist wieder stärker. Der Autismus wird dadurch aber eben auch nicht geheilt - warum sollten die damit verbundenen Schwierigkeiten dann also dauerhaft verschwinden?! Das bedeutet allerdings nicht, dass man es dann gleich lassen kann. Ganz im Gegenteil. Wenn die Schwierigkeiten nur für ein paar Wochen weniger werden, bedeutet es weniger Anstrengung für das ohnehin schon unter Dauerbeschuss stehende Gehirn, es lohnt sich also.

Physiotherapie ist häufig mit Berührung durch den Therapeuten verbunden, da dieser ggf. falsch ausgeführte Bewegungen korrigiert oder bei der Übung unterstützt, indem er das zu bewegende Körperteil führt. Das ist eine sinnvolle Methode um dem Gehirn besser vermitteln zu können, was gerade von ihm verlangt wird und welche Signale an das Körperteil übermittelt werden müssen. Autisten haben nämlich häufig das Problem, dass ihre Spiegelneuronen nicht so gut funktionieren, wie bei Neurotypen. Spiegelneuronen sind unter anderem dafür zuständig, dass man eine Bewegung, die jemand anderes vormacht, nachzuahmen oder seine Emotionen wahrzunehmen. Nun haben aber viele autistische Menschen eine gewisse Abneigung gegen Berührungen. Deswegen sollte der Therapeut unbedingt auf den Autismus hingewiesen werden und es muss geprüft werden, welche Möglichkeiten es gibt, um Berührungen möglichst zu vermeiden oder was getan werden kann, damit der Patient die Berührung besser tolerieren kann. Das wichtigste ist, dass der Patient seinem Physiotherapeuten vertraut und sich gut mit ihm versteht.

Wichtiger Tipp zum Schluss

Physiotherapie muss vom Hausarzt / Orthopäden auf Rezept verordnet werden. Ohne das kann man nicht einfach so hingehen, da es eine medizinische Heilbehandlung ist und der Therapeut vom Arzt einen konkreten Auftrag bekommen muss, was behandelt werden soll. Hausärzte sind in der Regel nicht so begeistert, wenn sie Rezepte für Physiotherapie rausrücken sollen, weil sie ein bestimmtes Kontingent haben. Wenn sie zu viele Physiotherapie-/Ergotherapie-/Logopädierezepte ausstellen, müssen sie irgendwo zuzahlen. So richtig habe ich das System nicht verstanden. Es gibt aber einen ganz springenden Punkt, den man wissen muss. Nach § 32 Abs. 1a SGB V gibt es eine Liste an Diagnosen, bei denen man sich darauf geeinigt hat, dass Physiotherapie dort nachweislich hilfreich ist. Wenn die Physio aufgrund dieser Diagnosen verordnet wird, fällt die Verordnung nicht in dieses Kontingent, die Ärzte haben also keine finanziellen Belastungen dadurch. Autismus gehört als Entwicklungsstörung zu besagten Diagnosen (F84). Dadurch hat man Anspruch auf Physiotherapie: ZN (Behandlungen Zentrales Nervensystem) 1 und ZN 2, sowie Ergotherapie (EN1 / PS1) und Logopädie (SP1). Fragt mich bitte nicht, was hinter diesen Abkürzungen steckt, ich gehe aber davon aus, dass eure Hausärzte das wissen. Auch das Down-Syndrom zählt übrigens zu diesen Diagnosen. Ich finde, dass man so etwas wissen sollte. 

Nutzt ihr bereits regelmäßig die Physiotherapie und habt ihr den Eindruck, dass sich dadurch etwas bei euren Symptomen (jetzt speziell auf den Autismus bezogen) verändert? 

Habt einen schönen Tag.
Anne

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