"Artgerechte Haltung" von Autisten

Hallo ihr Lieben!

Immer wenn ich bei meiner Autismus-Psychologin sitze und ihr erzähle, dass ich völlig erschöpft und frustriert bin, bekomme ich von ihr folgenden Satz zu hören: "Das ist, weil Sie sich nicht artgerecht halten." Nein, selbstverständlich hält sich mich und andere Autisten nicht für tierische Wesen. Wie ist es dann gemeint? Nun, was bedeutet denn artgerechte Tierhaltung? Es handelt sich um eine Haltungsform, bei der die natürlichen, angeborenen Bedürfnisse zu Ernährung, Beschäftigung, Bewegung und Kommunikation mit anderen Artgenossen der Tiere berücksichtigt werden. Die Mehrzahl unserer Mitmenschen sind neurotypisch. Die meisten autistischen Menschen versuchen sich auf Gedeih und Verderb dieser Welt anzupassen und missachten dabei häufig ihre eigenen Bedürfnisse. Aber wie soll man sich denn als Autist: in artgerecht halten? Darum soll es in dem heutigen Beitrag gehen.

1. Häufige Beschäftigung mit Spezialinteresse

Autistische Menschen werden es bestätigen können: die Beschäftigung mit dem Spezialinteresse sorgt für unglaubliche Beruhigung und Entspannung. Mein Spezialinteresse sind Hörspiele. Ich kann mich dabei innerhalb von kürzester Zeit sogar aus dem heftigsten Stresszustand befreien. Das Problem ist nur, dass wir uns in der Regel viel zu wenig Zeit mit der Beschäftigung von diesen Themen gönnen. Das liegt unter anderem daran, dass sie bisweilen von den gängigen Interessensgebieten der neurotypischen Menschen deutlich abweicht und man ja auch nicht kauzig wirken will... Vielleicht ist es nicht altersgerecht (ist mein Spezialinteresse definitiv nicht), oder es ist vielleicht ein Thema, was Neurotypen überhaupt nicht interessieren würde (z. B. das intensive Beschäftigen mit Straßenbahnlinien oder Schaltkreisen). Oder die Leute reagieren vielleicht genervt, wenn man anfängt über das Thema zu sprechen, weil man darüber ohne Punkt und Komma reden könnte und vielleicht gar nicht merkt, wenn der andere keine Lust mehr darauf hat, sich den 100. Fakt zur Froschaufzucht anzuhören... Dazu kommt, dass unser Alltag viel zu stark mit anderen Aktivitäten gepflastert ist, die die Umwelt von uns fordert. 

Ich möchte euch Mut machen: lasst euch nicht davon beeindrucken, was andere Menschen vielleicht über euer Spezialinteresse denken. Es ist auch komplett irrelevant, ob ihr das Wissen darüber irgendwann mal gebrauchen könnt. All das ist völlig uninteressant. Autistische Menschen erleben in ihrem Alltag so viel Chaos - Verhaltensweisen, die sie nicht verstehen, Sprüche die überhaupt keinen Sinn ergeben, Menschen die das Gegenteil von dem meinen, was sie sagen... Das Spezialinteresse ist ein Bereich unseres Lebens, mit dem wir uns auskennen, da sind wir Experten. Es gibt keine Unklarheiten, die uns irritieren. Diese Erholung ist sooo wichtig. Gönnt sie euch doch bitte.

2. Ausreichend Ruhepausen / Schlaf

Dass autistische Menschen eine Reizfilterschwäche haben, brauche ich euch vermutlich nicht zu erzählen, weil ihr es am eigenen Leib täglich zu spüren bekommt. Auf uns strömt täglich so viel ein: Gerüche, Geräusche, Emotionen von uns und anderen, Empfindungen, die wir auf der Haut wahrnehmen, Dinge die wir sehen können, ... Das ist unglaublich anstrengend. Auch für Neurotypen. Das Gehirn von Neurotypen ist aber wesentlich besser darin, Reize, die für sie irrelevant sind, auszublenden. Etwas das Autisten nur ganz schwer gelingt. Nun ist es aber häufig so, dass unser Alltag vollgekracht ist mit Aktivitäten. Onkel Achim hat Geburtstag, da kann man schlecht absagen, Phil will zum Fußball gehen und wünscht unbedingt Begleitung von uns, die Freundin will zum shoppen, ... Na? Wer kann auch so schlecht nein sagen, wie ich? Nachvollziehbar. Man hat diese Menschen gern und will ihnen nicht vor den Kopf stoßen. Und irgendwie machen die Aktivitäten doch auch Spaß. Alles korrekt. Aber, was man auch bedenken muss: unser Alltag besteht ja nicht nur aus diesen Nebenaktivitäten, sondern eben noch aus Schule / Arbeit / Arzt- oder Therapieterminen / Einkäufen, etc. All das erfordert ebenfalls unsere volle Aufmerksamkeit und auch diesen Terminen kann man in aller Regel nicht entgehen, weil sie einfach zum Leben dazugehören. Wie soll man sich da bitte nun Ruhepausen gönnen? 

Ich möchte euch eine Frage stellen: was passiert mit einem Smartphone, wenn wir es den ganzen Tag ausgiebig nutzen? Das Musikhören am Morgen ist sicher nur ein Klacks und kostet nur 3 % Akku... Das WhatsApp schreiben ist an sich jetzt auch nicht so schlimm, kostet aber ebenfalls ein bisschen Akku. Ach das kleine bisschen spielen ist doch nicht so schlimm... Ganz einfach: irgendwann ist der Akku leer und wenn wir es nicht rechtzeitig aufladen und ihm eine Pause gönnen, wo es wieder Energie tanken kann, geht es aus. Ohne Rücksicht auf irgendetwas oder irgendjemand. Wenn es alle ist, hört es auf seinen Dienst zu tun. Es interessiert sich nicht dafür, ob man ihm dann vielleicht böse ist. Und genau das macht das Gehirn. Es warnt einen, indem es eine Reizüberflutung meldet und wenn man dann immer noch nicht zusieht, dass man Ruhe bekommt, kommt es zu Shut-/ und Meltdown. Selbstverständlich sollt ihr nicht jegliche Aktivität ablehnen, viele dieser Aktivitäten machen ja auch Spaß. Aber ihr müsst schauen, was ihr wirklich machen müsst und was euch wirklich gut tut und ggf. dann auch einfach mal nein sagen. Für autistische Menschen ist es essenziell wichtig, dass sie Zeiten haben, wo sie nichts und niemanden sehen müssen, wo sie einfach mal ihre Ruhe haben und ihr Gehirn neue Kraft tanken kann. Und ja: dann muss man durchaus auch mal egoistisch sein. Sonst seid ihr irgendwann so erschöpft, dass ihr die Folgen zu spüren bekommt. Nur wenn ihr genügend Ruhephasen habt, seid ihr in der Lage euren Alltag überhaupt zu bewältigen. 

3. Verstellt euch nicht ständig.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man meist alles tut, um nicht autistisch zu wirken. Man vermeidet Stimming in der Öffentlichkeit, man bemüht sich Menschen in die Augen zu schauen, fragt nicht nach wenn man wieder mal ein Sprichwort nicht verstanden hat und auf gar keinen Fall gibt man zu, womit man sich so in seiner Freizeit beschäftigt. Wenn ich ehrlich bin, versuche ich ebenfalls immer wieder Neurotyp zu spielen. Ich wäre tatsächlich auch gerne neurotypisch. Tatsache ist aber: wir sind es nicht und wir werden auch keine, wenn wir sie spielen. Das einzige was passiert, ist, dass es massiv Energie zieht. Es macht auch nicht glücklich, wenn man grundsätzlich gegen seine Bedürfnisse arbeitet, nur um nicht aufzufallen. Im schlimmsten Fall kann man dadurch sogar eine Depression bekommen. Meine klare Empfehlung lautet: sucht euch Menschen, denen ihr vertraut und sagt ihnen offen und ehrlich, dass ihr autistisch seid und was im Umgang mit euch sinnvoll wäre, um euch die Interaktion zu vereinfachen. Wer euch mag, mag euch auch autistisch und der wird auch absolut nicht wollen, dass ihr euch seinetwegen verstellt. Und Autisten sind keine Monster, denkt da immer wieder dran. Wir haben einfach nur eine Art der Verarbeitung von Reizen und eine andere allgemeine Funktionsweise des Gehirns. Das bedeutet nicht, dass wir irgendwie weniger wert sind als Neurotypen oder irgendwie doof sind. Im Gegenteil: viele autistische Menschen sind sogar sehr intelligent und können viele Dinge wesentlich besser als Neurotypen. Ein Beispiel ist unser Blick für Details. Wenn irgendwo ein Rechtschreibfehler vorhanden ist, dann sehe ich ihn sofort. Andere übersehen das glattweg. Man kann nicht überall zeigen, dass man autistisch ist. Das ist korrekt und dann muss man da gelegentlich auch durch und Neurotyp spielen. Aber wenn ihr auch nur 3 Menschen in eurem engen Umfeld darüber aufklärt, wie ihr wirklich tickt, dann müsst ihr euch vor denen schon mal nicht verstellen und spart immens Energie. 

4. Nutzt alle Hilfsmittel, die euch gut tun

Auch in diesem Punkt bin ich ein unglaublich schlechtes Beispiel. Ich habe Kommunikationskarten, einen Time Timer und Pläne nach TEACCH. Die Kommunikationskarten würden mir teilweise sehr helfen, weil ich häufig, wenn ich aufgeregt bin, einfach nicht schaffe mit Menschen in Kontakt zu treten. Wenn ich endlich soweit bin, ist die Person bereits wieder im Gespräch mit dem nächsten. Wenn ich eine Kommunikationskarte ziehen würde, wäre ich wesentlich schneller am Ziel. Aber ich mache mir Gedanken, was die Menschen über mich denken könnten, wenn ich die Kommunikationskarten benutze. In der letzten Autismusgruppe habe ich bemerkt, dass es mir gut tut, wenn ich ein Seil um meinen Arm wickele, weil das dafür sorgt, dass dort Tiefendruck entsteht und dieser mich beruhigt. Nutze ich das in stressigen Situationen auf Arbeit? Nein. Was sollen die Kollegen von mir denken? Es ist völlig beknackt darüber nachzudenken, was andere Leute vielleicht von einem denken, wenn man dies oder jenes tut oder Hilfsmittel nutzt. Stellt euch doch mal vor, ein Mensch mit Gehbehinderung bleibt lieber an Ort und Stelle sitzen, weil es ihm zu peinlich ist, seine Gehhilfen zu nutzen... Genauso ist es doch auch bei uns! Die Hilfsmittel sind auf dem Markt, weil sie Menschen das Leben erleichtern und ihnen helfen. Wenn es völlig abwegig wäre, so etwas zu nutzen, würde es dann existieren?! Wie bescheuert ist denn diese Denkweise, dass man sich freiwillig das Leben schwerer macht, nur weil man nicht auffallen will? Denkt doch mal darüber nach... Wie gesagt: ich bin in dem Punkt meist keinen Deut besser. 

5. Sucht euch Gleichgesinnte.

Ja, soziale Kontakte sind immer ein bisschen anstrengend, aber der Kontakt mit anderen Autisten ist häufiger wesentlich angenehmer, weil weniger Missverständnisse auftreten. Die Kommunikation ist viel klarer und Autisten untereinander legen häufig auch nicht so viel wert auf soziale Regeln, weil sie die ohnehin nicht so gut verstehen. Untereinander muss man zum Beispiel Stimming nicht unterdrücken und der andere legt vermutlich auch keinen gesteigerten Wert darauf, dass man ihm in die Augen guckt. Außerdem tut es gut, immer wieder zu merken, dass man nicht der einzige Außerirdische auf einem fremden Stern ist, sondern dass es da Leute gibt, die so ähnlich ticken wie wir. Es ist auch leichter, sich artgerechter zu halten, wenn man andere Gleichgesinnte hat, die ebenfalls mit diesen Problemen kämpfen und euch vielleicht schon Lösungen präsentieren können, wie es ihnen gelungen ist, auch in der Öffentlichkeit Hilfsmittel zu nutzen, oder die Freunde über den Autismus aufzuklären. Oder wie zum Teufel man es hinkriegt, pünktlich irgendwo zu sein. Gleiches Störungsbild bedeutet in der Regel ähnliche Probleme und die Möglichkeit gegenseitig mit gemachten Erfahrungen zu unterstützen. Es lohnt sich.

Wie gut gelingt euch die artgerechte Haltung? Wie ihr aus dem Beitrag herauslesen könnt, muss ich da noch kräftig an mir arbeiten. Aber es gelingt mir schon besser. Ich war zum Beispiel jetzt jeden Tag auf dem Spielplatz, weil ich weiß, dass mir schaukeln und das buddeln im Sand unglaublich gut tut. Und ich habe mich dahingehend weiterentwickelt, dass ich es inzwischen aushalte, wenn Kinder oder Kinder mit Eltern / Großeltern auf dem Spielplatz sind - ich gehe trotzdem "todesmutig" auf den Spielplatz und tue das was mir Spaß macht. Was sie denken ist schließlich völlig irrelevant. Erstens weiß ich es nicht - die wenigsten haben einen Untertitel auf der Stirn, der die genauen Gedanken übersetzt, und vielleicht sind sie auch neidisch, weil sie sich das selber nicht trauen und gern tun würden? Vielleicht motiviert es sie, das beim nächsten Spielplatzbesuch auch mal zu versuchen. Oder sie denken gerade darüber nach, dass sie das Mehl vergessen haben zu kaufen, ob sie beim Nachbarn vielleicht fragen können? Was ich damit sagen möchte: mitunter interessieren sich die Leute wesentlich weniger für uns, als wir das vielleicht glauben, weil ja auch sie Dinge haben, die sie gedanklich beschäftigen und deren Beschäftigung ihre Aufmerksamkeit erfordert... Traut euch einfach, das zu tun, was euch gut tut. Probiert es einfach mal aus und guckt was passiert. Ich wünsche euch viel Erfolg dabei. 

Habt einen schönen Tag. 

Kommentare