Autisten können alles lernen! - Oder vielleicht doch nicht?

Hallo ihr Lieben!

Jetzt ist schon ziemlich lange kein Beitrag mehr von mir online gegangen. Heute habe ich aber, ausgelöst durch ein Gespräch mit meiner Autismuspsychologin endlich mal wieder eine gute Idee, worüber ich schreiben könnte. Ich hoffe, dass ich jetzt wieder öfter hier aktiv sein kann. 

Laura sitzt im Rollstuhl, weil sie seit Geburt nicht laufen kann. - "So schwer kann das mit dem Laufen doch nicht sein, sie strengt sich sicher einfach nur nicht genug an, ihr Bruder Phillip kann doch schließlich auch laufen!" Martin ist schwerhörig, mit einem Hörgerät kommt er ziemlich gut klar, hat aber dennoch manchmal Schwierigkeiten seine Mitmenschen zu verstehen. - "Soll er sich doch mal richtig konzentrieren... Das Hupen eines Autos hört er doch auch, der tut doch nur so." Unrealistisch? Würde so nie passieren, dass die besagten Kinder solche Sätze zu hören kriegen? Stimmt. Das würde den wenigsten Menschen einfallen. Es ist schließlich offensichtlich, dass sie es eben nicht schaffen können. Menschen die im Autismus-Spektrum liegen, haben dagegen deutlich häufiger das Problem, dass sie mit Unverständnis von ihrer neurotypischen Welt umgehen müssen. Der große Unterschied zwischen körper-/sinnesbehinderten Kindern wie Laura und Martin und autistischen Kindern / Erwachsenen? Autismus findet ausschließlich im Gehirn statt - er wirkt sich nicht auf das Aussehen von den betroffenen Menschen aus und sie brauchen auch keine offiziellen Hilfsmittel, wie Rollstuhl, Hörgerät, Blindenführstock, etc. Dazu kommt, dass viele Autist: innen sich redlich bemühen, sich ihrer neurotypischen Umgebung anzupassen, um möglichst wenig aufzufallen. Dabei sind sie teilweise so "erfolgreich", dass ihre Mitmenschen ihre Schwierigkeiten, die sie im Alltag haben (aber relativ gut verstecken) gar nicht wirklich bemerken oder sie sogar für neurotypisch halten. Wenn sie den Erwartungen zum Teil sogar entsprechen können, wird es noch unverständlicher für das Gegenüber, dass etwas anderes dagegen auch nach hundert Versuchen einfach nicht klappen will. 

Auf youtube gibt es eine Autismus-Expertin, die Kurzvideos über unterschiedlichste Themen zum Autismus-Spektrum anbietet. Sie sagt sehr regelmäßig den folgenden Satz: "Autisten können alles lernen, wir müssen nur wissen, wie wir es ihnen beibringen können." Ein Satz der Betreuern / Erziehern / Lehrern und Eltern autistischer Menschen Mut machen soll, faktisch aber schlichtweg falsch ist. Ich kann verstehen, warum sie das sagt. Menschen im Autismus-Spektrum können mit guter Förderung, viel Training und Wiederholung alltagspraktische Dinge oder Verhaltensweisen, die in der neurotypischen Welt als wünschenswert gelten, relativ gut erlernen bzw. verbessern. Sogar besser, als man das auf den ersten Blick vermuten würde. Manchmal sind andere Methoden erforderlich, um ihnen das beizubringen, aber sie können tatsächlich viel erreichen. Der springende Punkt ist: diese Entwicklung ist nicht unendlich. Ich will ein Beispiel machen: dadurch dass ich ziemlich viel mit neurotypischen Menschen Kontakt habe und im Berufsbildungswerk damals ein Training absolvieren durfte, bei dem man Gesichtsausdrücke von Menschen immer wieder analysieren konnte, bin ich inzwischen extrem gut darin, bei sogenannten Gesichtertests die Emotionen der abgebildeten Personen zu deuten. Wie funktioniert der? Man hat Fotos, auf denen ein Gesicht gezeigt wird. Danach muss man aus vier oder mehr Emotionsbegriffen aussuchen, wie sich die Person wohl am ehesten fühlt und ob man mit der Person mitfühlen kann. Wir haben es neulich in der Autismusgruppe mal wieder getestet - ich erreiche sogar fast neurotypische Werte bei diesem Test. Ergo könnte man jetzt also denken: wenn ein Autist nur oft genug trainiert, kann er durchaus lernen, die Mimik seines Gegenübers korrekt zu interpretieren. 🚨🚨🚨 Ein extremer Trugschluss. Denn wie oft in der Realität hält eine Person vier verschiedene Schildchen mit möglichen Emotionen hoch, aus denen man die richtige rauspicken muss? Und wie oft kann man sich bei der Analyse des Gesichtsausdrucks nahezu unendlich viel Zeit nehmen? Richtig. - Nie! Und genau das ist das Problem. Manche Autisten sind vielleicht, wenn sie viel Zeit haben und das schon ein paar Mal trainiert haben, durchaus in der Lage, den Gesichtertest erfolgreich zu absolvieren. Sie analysieren haarklein, was sie auf dem Bild sehen können, und da viele wenigstens ein Basiswissen darüber haben, wie ein trauriger, fröhlicher oder ängstlicher Mensch aussieht, kann man durch die angebotenen Wörter schon vieles ausschließen. Sie werden aber auch nach 100 Versuchen mit dem Trainingsprogramm niemals schaffen, intuitiv zu erkennen, was der Gesichtsausdruck ihres Gegenübers über dessen Gefühle verrät. Und das ist der Unterschied zwischen Autisten und Neurotypen. Neurotypen können das intuitiv, Autisten analysieren. Und dafür ist in der Realität schlichtweg keine Zeit, da sich der Gesichtsausdruck im Sekundentakt verändert - wir sind schließlich keine Statuen. 

Ein weiteres Problem ist, dass autistischen Menschen die Generalisierungsfähigkeiten fehlen. Das führt betreuende Bezugspersonen teilweise zur Verzweiflung. Wie kann das sein, dass Mia verinnerlicht hat, dass sie im Klassenzimmer nicht herumrennen, sondern ordentlich an ihrem Arbeitsplatz sitzen soll und im Physikraum fängt sie wieder damit an?! Weil der Physikraum ein völlig anderer Fall als das Klassenzimmer ist! Woher soll sie wissen, dass diese Regel für alle Räume in der Schule gelten? Sie hat sie lediglich im Klassenzimmer kennengelernt. Wie kann es sein, dass Julia die Ironie ihrer Schwester im einen Moment versteht, in einer ähnlichen Situation das Gesagte von Tante Brigitte aber wortwörtlich versteht?! Es war doch die gleiche Situation?! Stellt sie sich jetzt blöd? Mitnichten. Für einen neurotypischen Menschen mag das den Anschein haben, dass es völlig identisch war, man das also erkennen müsste. Für einen autistischen Menschen ist das mitnichten die gleiche Situation! Es geht ja schon damit los, dass es eine völlig andere Person gesagt hat... Und dann war es auch ein ganz anderer Kontext! 

Autismus ist nicht heilbar. Wenn man autistischen Menschen durch Trainingsmaßnahmen oder Therapien alles vermitteln könnte, was auch Neurotypen beherrschen, würden dann überhaupt noch Autisten auf dieser Welt rumlaufen? Es ist richtig, dass autistische Menschen, wenn man die Lernmethodik an ihre Bedürfnisse anpasst, durchaus viele Dinge lernen können und gewisse Eigenheiten der neurotypischen Welt sicher auch verstehen können irgendwann. Aber das wird a) niemals intuitiv passieren, sondern immer mit extrem viel Denkleistung verbunden sein, b) werden sie es vielleicht in ausgewählten Situationen erfolgreich anwenden können, was sie gelernt haben, es aber nicht auf andere Situationen übertragen können. Es wird aber auch, je nach Schweregrad des Autismus Dinge geben, die sie niemals erlernen können, weil ihnen der Autismus an der Stelle einfach vollkommen im Weg steht. Zu guter Letzt sei aber noch zu sagen: jeder Autist ist anders, was einfach auch daran liegt, dass es sich um eine Spektrumsstörung handelt. Früher hat man sogar noch zwischen Atypischen Autismus, Frühkindlichen Autismus und Asperger-Syndrom unterschieden. So unterschiedlich sind die Auswirkungen auf die verschiedenen Menschen. Nur weil der eine Autist gelernt hat, so knapp an den Augen des Gegenübers vorbeizuschauen, dass es denkt, dass ihm der Autist in die Augen schaut, kann das bei Weitem nicht jeder. Manchen Autisten stresst es bereits, wenn sie nur in die Nähe des Gesichts schauen. Den einen gelingt es, Grundemotionen in den Gesichtern zu erkennen (mir zum Beispiel), können aber dafür ihre eigenen Gefühle nicht entschlüsseln. Der andere ist super gut darin, Ironie zu verstehen, kann aber dafür feinmotorische Dinge wie Schuhe binden nicht. Niemand der Betroffenen tut so, als ob er es nicht schafft, er / sie kann es wirklich nicht. 

Fazit: Es ist wichtig zu versuchen, autistischen Menschen zu erklären und beizubringen, wie sie in der neurotypischen Welt am besten zurecht kommen. Man muss sich aber stets bewusst sein, dass bedingt durch den Autismus einfach Grenzen der Machbarkeit existieren, die der Betroffene einfach nicht überspringen kann. 

Habt einen schönen Resttag!
Anne

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