Autorität - von einer Studie, die sich eigentlich mit Lernen beschäftigen sollte

 Hallo ihr Lieben,

willkommen zurück! Stellt euch vor, ihr nehmt an einer Studie teil, die sich mit Lernmethoden auseinandersetzt. Der Versuchsleiter teilt die Teilnehmenden in zwei Gruppen ein - Lehrer und Schüler. Ihr seid als Lehrer eingeteilt. Nun bekommt ihr vom Versuchsleiter mitgeteilt, dass ihr eurem zugeteilten Schüler z. B. Vokabeln abfragen sollt. Bei jeder falschen Antwort, sollt ihr dem Schüler auf die Finger hauen. Anfangs nur ganz leicht mit der Hand, in weiteren Stufen des Experiments mit Gegenständen (z. B. einem Lineal, einem schweren Buch, irgendwann dann mit einem Ziegelstein, ...) Das Experiment solle erforschen, ob Menschen durch Angst vor Schmerzen besser/schneller lernen und bei welchen Schmerzreizen das Lernen am besten funktioniert. 

Am Anfang macht ihr noch mit, weil es nur ein leichtes Patschen auf die Hand ist und euer Schüler keine besonders großen Schmerzen zu haben scheint. Irgendwann verlangt der Versuchsleiter aber, dass ihr mit dem Lineal weitermachen sollt. Der Schüler zeigt Schmerzen. Ihr zögert, aber der Versuchsleiter bestärkt euch darin, ein aufhören würde das komplette Experiment verfälschen. Andererseits seht ihr den Schmerz im Gesicht eures Gegenübers. Würdet ihr weiter machen? "Ja, naja. Vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm, wenn es der Versuchsleiter sagt?" / "Nein, das mache ich nicht mehr mit! Ich tue diesem Mitmenschen nicht weh." Okay, einige sind ausgestiegen, andere sind noch dabei. Irgendwann verlangt der Versuchsleiter nun ein schweres Lexikon auf die Hand fallen zu lassen (was nun wirklich weh tut). Auch hier werdet ihr ggf. zögern, denn das ist teilweise schon ganz schön schmerzhaft. Der Leiter animiert euch weiter zu machen, bis es irgendwann zum Ziegelstein geht. Euer Versuchspartner ist schon reichlich fertig, weil ihm durch den bisherigen Verlauf ja schon einige Schmerzen widerfahren sind. Lasst ihr euch dazu bringen, das Experiment zu Ende zu führen? Der Ziegelstein zertrümmert eurem Versuchspartner vielleicht die Hand, aber der Versuchsleiter teilt euch mit, wie wichtig es sei, das Experiment zu Ende zu führen. Was würdet ihr tun?

Ich sage mal: 99,98 % aller Menschen würden von sich sagen: niemals würde ich das durchziehen, das ist doch krank! Auch ich würde von mir behaupten, dass ich so etwas nie machen würde. Dasselbe hätten aber wahrscheinlich auch die Menschen von sich gedacht, bevor sie 1961 an einem Experiment des Psychologen Stanley Milgram teilgenommen haben. Mein Gedankenexperiment gleicht dem echten Experiment von Milgram fast zu 100 %, das einzige was ich verändert habe, waren die Bestrafungen. Milgrams Experiment war noch deutlich krasser. Er hat angewiesen, dass die "Lehrer" ihren Schülern bei Fehlern Elektroschocks verabreichen sollten. Vorher hatte man ihnen anhand eines leichten elektrischen Schlags verdeutlicht, wie sich das Ganze anfühlt, also dass es deutlich schmerzhaft sein kann. Außerdem wurde ihnen gezeigt, wie die Apparatur aussieht, auf dem der Schüler sitzen soll. Anschließend lief das Ganze folgendermaßen ab:

"Lehrer" und Versuchsleiter saßen in Raum 1 - "Schüler" saß in Raum 2, es war dem "Lehrer" nicht möglich, ihn wirklich zu sehen. Das Experiment sah vor, dass das Experiment in verschiedenen Stufen stattfinden sollte, die Elektroschocks sollten immer höher gehen. Derjenige, an dem die vermeintlichen Elektroschocks verabreicht wurden, hat entsprechende Reaktionen gezeigt:

  • 75 Volt : Grunzen
  • 120 Volt: Schmerzensschreie
  • 150 Volt: er sagte, dass er an dem Experiment nicht weiter teilnehmen wolle
  • 200 Volt: Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen
  • 300 Volt: er lehnte es ab, zu antworten
  • über 330 Volt: Stille
Wenn verständlicherweise Unsicherheit auf Seiten des Lehrers bestanden, hat der im Raum sitzende Versuchsleiter immer wieder neutral, aber deutlich geäußert, dass es für das Experiment unvermeidlich wäre, dass der Lehrer fortfahre. Wenn gefragt wurde, wer die Verantwortung dafür übernimmt, hat der Versuchsleiter zugesichert, dass er die Verantwortung für alles übernehme, der Schüler aber wohl keine bleibenden Schäden davon tragen solle. Im Prinzip stand es dem Lehrer aber zu jedem Zeitpunkt frei, wann er das Experiment abbricht. 

Wie man schon erahnen kann, ging es in dem Experiment mitnichten um Lernen durch Bestrafung, sondern in Wirklichkeit darum, herauszufinden, wie viele Menschen sich durch eine Autorität dazu bringen lassen, gegen ihr Gewissen zu handeln. Das Ergebnis muss ich sagen ist gruselig: von 40 Personen haben lediglich 14 das Experiment ab einer bestimmten Voltstärke ab, der Rest (also 26 Personen) machten bis zum Schluss weiter. Und das obwohl deutliche Reaktionen zu hören waren. Der Versuchsleiter war nicht drohend - er hat sachlich mitgeteilt, dass das Experiment weitergeführt werden soll, alleine dadurch haben sich die teilnehmenden Personen verleiten lassen, die Schocks zu verabreichen. Eine Variation des Experiments hat nämlich ergeben: wenn der Versuchsleiter abwesend ist, also zum Beispiel nur über ein Telefon erreichbar war, haben 3x weniger Leute gehorcht. 

Natürlich hat Stanley Milgram keinen Menschen wirklich in Gefahr gebracht. Bisauf die als Lehrer eingesetzten Versuchspersonen, waren ausnahmslos alle Schauspieler und entsprechend eingeweiht. Die Schmerzensschreie wurden vorher auf Tonband aufgenommen und niemandem ist ernsthaft etwas passiert. Das Experiment war aber so real, dass die Versuchspersonen nicht davon ausgehen konnten, dass alles nur gespielt ist. Sie haben sich von der Autorität des Versuchsleiters beeinflussen lassen. Und das finde ich unglaublich erschreckend. Die teilnehmenden Versuchspersonen hätten garantiert niemals von sich gedacht, dass sie sich zu solchen brutalen Dingen hinreißen lassen würden. Heutzutage würde ein solches Experiment nicht mehr stattfinden dürfen, weil es als unethisch gilt. Die Versuchspersonen dürfen nicht unter starken inneren Druck gesetzt werden. 

Weil das Experiment so krass war, bestand das Risiko, dass die Probanden einen seelischen Folgeschaden erleiden würden (immerhin haben sie eine Person quasi gefoltert, das kann einen absolut mitnehmen!). Darum wurden die Probanden alle nachuntersucht und noch einmal befragt. Außerdem wurde ihnen unmittelbar nach dem Test detailliert erklärt, wie alles abgelaufen ist, damit keiner wirklich gedacht hat, dass er einen Menschen fast umgebracht hat. Folgeschäden sind glücklicherweise keine aufgetreten, die meisten waren sogar froh, dass sie das über sich gelernt haben. 

Was lernen wir aus so einem Experiment? 

1. Wir können uns nie zu 100 % sicher sein. wie wir in welchen Situationen reagieren. Wir sollten also grundsätzlich, egal bei was nicht pauschal, die Person verurteilen mit: "Wie kann man denn sowas tun?" - auch wir wären vielleicht unter bestimmten Umständen, zu Handlungen fähig, die wir uns nicht zugetraut hätten. Und:

2. Egal wer vor uns steht und etwas von uns verlangt - wir sollten immer hinterfragen, ob wir das was wir tun sollen, wirklich mit unserem Gewissen vereinbaren können. Man hat immer die Möglichkeit, sich gegen etwas zu entscheiden, wenn man etwas für abgrundtief falsch hält oder sich unsicher ist. 

Habt einen schönen Tag und denkt doch mal darüber nach, ob ihr euch auch schon einmal habt beeinflussen lassen und etwas getan habt, von dem ihr im Nachhinein eher denkt, dass es falsch war. 

Anne

Informationen, die mir noch nicht bekannt waren, habe ich von Wikipedia erhalten. (https://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment) 


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