Das Rosie-Projekt - Autismus in Büchern (Teil 2)

Hallo ihr Lieben,

vor ein paar Tagen habe ich euch das Buch "Das Rosie-Projekt" vorgestellt, ein Buch in dem der Hauptcharakter sehr offensichtlich Autismus hat. Wer das Buch noch nicht gelesen hat, das aber noch tun möchte, sollte diesen Beitrag lieber erst später lesen. Denn in diesem Beitrag geht es leider nicht mehr ohne zu spoilern. Ich möchte euch ein paar Beispiele aufzählen, wie Autismus in dem Buch dargestellt wird und meine Einschätzung abgeben, wieviel das mit der Realität zu tun hat. 

1. Bezugspersonen

Don hat eigentlich nur zwei wirkliche Freunde, seinen besten Kumpel Gene und dessen Frau Claudia. An die wendet er sich mit allen Anliegen und Problemen, die in seinem Alltag auftauchen. Dabei macht er auch überhaupt keinen Unterschied um welches Thema es geht, ob es z. B. eher intim ist und eher nicht jedem erzählt werden sollte, sie sind die Ansprechpartner für alles. Später kommt noch Rosie dazu, aber die wichtigsten Menschen für ihn sind Claudia und Gene. Finde ich realistisch. Die meisten autistischen Menschen haben einige wenige Hauptbezugspersonen und an die wird sich in jeder Lebenslage gewendet, wenn es ein Problem gibt. Wenn ich einmal Menschen wirklich, wirklich vertraue, spreche ich bei ihnen alles an. Also, fast alles, aber ich denke, ihr wisst was ich meine. Es ist mir dabei wirklich egal, um welches Thema es geht.

2. Ernährungsverhalten

Don hat einen Wochenplan, jede Woche gibt es an denselben Tagen dasselbe zu essen. Bitte nagelt mich jetzt nicht auf die korrekten Gerichte fest, das habe ich gerade nicht mehr im Kopf, aber es läuft so:

Mo: Spaghetti Bolognese
Di: Lachs-Carpaccio
Mi: Lasagne
Do: Reiseintopf
Fr: Bananenbrot
Sa: Muscheln mit Nudeln
So: Hummer mit Nudeln

Ich weiß die Gerichte wirklich gar nicht mehr, es ist schon wieder eine Weile her, dass ich das Buch gelesen habe, aber es wird tatsächlich jede Woche immer exakt dieser Plan verfolgt. Er hat sogar ein Regal, mit Fächern für jeden Tag, in dem sind dann die passenden Zutaten hinterlegt sind (bzw. im Kühlschrank). Seine Speisekammer ist nach Kategorien sortiert.

Ich erkenne mich insofern wieder, dass ich ebenfalls fast immer dasselbe esse. Die Anzahl an Brotbelägen/Aufstrichen und Hauptmahlzeiten die ich esse, kann man an einer Hand abzählen, wie man immer so schön sagt. Ich musste neulich ein Ernährungstagebuch führen, das muss für die Ernährungsberaterin ziemlich langweilig gewesen sein, weil ich wirklich fast immer dasselbe esse. Nudeln mit Soße und Gemüse, Brot mit Butter und Schinken, Brot mit Tzaziki/ Quark / seit neuestem Streichcreme von Alnatura (nein, ich werde nicht von der Firma gesponsert ^^). Aber das strikte "Ich esse passend zum Wochentag immer dasselbe" ist jetzt definitiv nicht üblich. Die meisten Autist: innen haben schon etwas mehr Variabilität in ihrem Essverhalten. Das wochentagpassende sortieren von Lebensmitteln ist übrigens vermutlich eine Strukturierung nach der TEACCH-Methode. Dabei werden Gegenstände z. B. passend zur Tätigkeit in ein bestimmtes Fach einsortiert. Das soll die Selbstständigkeit fördern. Beispielsweise wäre dann im Korb "Duschen" ein Handtuch, ein Duschbad, ein Shampoo und ein Ablaufplan enthalten. Dadurch ist es dem Autisten möglich, sich selbstständig zu duschen ohne dass er z. B. Hilfe beim heraussuchen der Materialien benötigt. 

3. Strikter Zeitplan, dessen Abweichung eine absolute Katastrophe ist

Der Protagonist pflegt nicht nur wöchentlich an festgelegten Tagen immer dasselbe zu essen, sondern er tut es auch noch nach einem strikt festgelegten Zeitplan. Und nicht nur die Mahlzeiten werden zu exakt denselben Uhrzeiten eingenommen, sein Tag ist wirklich komplett minutiös durchgetaktet. Wehe die Vorlesung dauert auch nur zwei Minuten länger als geplant oder er wird durch ein Gespräch aufgehalten und ist nicht Punkt 17:46 Uhr auf dem Markt... Direkt am Anfang des Buches soll er einen Vortrag für seinen Kumpel Gene übernehmen, es ist für ihn absolut nicht nachvollziehbar, dass die Leiterin der Organisation so tiefenentspannt ist, wo doch der Vortragsbeginn bereits für 18:30 Uhr angesetzt ist und es schon 18:27 Uhr ist und er noch nicht den Laptop angeschlossen hat?! Als sich das Abendessen nach hinten verschiebt, ist Don komplett überfordert und weiß nicht mehr was er tun soll, weil er auch noch alle Arbeitsschritte komplett durch die Uhr getaktet hat. Rosie hilft ihm dann, indem sie die Uhr vom Herd verstellt, damit er so tun kann, als wäre alles wie immer. Absolut haltlos und komplett übertrieben dargestellt. Es stimmt, dass die meisten Autist: innen einen relativ strikten Zeitplan haben, aber dass wirklich jegliche Aktivität auf die Minute genau abgestimmt ist? Nee, also wirklich nicht. Ich kenne keinen einzigen Autisten bei dem das der Fall ist. Die meisten haben zumindest einen gewissen Toleranzspielraum. Auf die Minute kommt es in der Regel nicht an.

4. Unverständnis für "korrekte Kleidungswahl"

Don wählt seine Kleidung hauptsächlich nach folgendem Gesichtspunkt aus: Ist sie praktisch? Er sieht überhaupt keinen Sinn darin, Wenn sie das ist, sieht er keinen Sinn darin, etwas anderes anzuziehen. Gleich am Anfang gibt es einen Konflikt, weil er nicht einsieht, weswegen er mit seiner praktischen Kleidung nicht in das Restaurant kommen sollte. Es ergibt für ihn einfach keinen Sinn... Ihm fehlt quasi der Sinn für die sozialen Regeln, die besagen, dass man in bestimmten Bereichen eben besondere Kleidung tragen muss. Es gibt noch eine weitere Szene, wo er und Rosie nach New York fliegen. Vor dem Abflug schenkt Claudia ihm Kleidungsstücke, was für ihn erst einmal keinen Sinn macht, er hat ja schließlich selbst Kleidung mit... In New York stellt sich dann raus, dass seine Kleidungsauswahl eher ungeeignet ist, als Rosie fragt, ob er noch andere Kleidung mit hat, fällt ihm Claudias Geschenk ein, welches praktischerweise genau dem Kleidungsstil entspricht, den Rosie für angemessen hält. Finde ich herrlich authentisch. Ich habe auch überhaupt keinen Blick dafür, was wann in welchen Umgebungen und zu welchen Anlässen am Besten trägt. Warum zum Beispiel sollte man sich zum Vorstellungsgespräch "verkleiden", während man doch danach nie wieder in der Kleidung hingeht? Wenn es darum geht, sich "schick zu machen" für bestimmte Anlässe, lasse ich mir immer von meinen Familienmitgliedern helfen. Was ist denn zum Beispiel schick? Wer legt das fest? Ich erkenne mich in Dons Problem definitiv wieder. :D 

5. Inselbegabung

Es gibt mehrere Szenen, wo Don eine nahezu gruselige Merkfähigkeit aufweist. Er kann zum Beispiel dutzende Cocktailrezepte auswendig, er ist darin sogar besser als die erfahrenen Mitarbeiter an der Bar. Gleichzeitig muss er sich auch noch Namen, Bestellwünsche und erfolgte Speichelproben merken und weitergeben und er hat damit überhaupt keine Schwierigkeiten. Es macht ihm sogar riesigen Spaß - er ist kein bisschen überfordert. Sorry, aber das geht mir wirklich viel zu stark in Richtung Rainman. Da stehen mir alle Haare zu Berge (Redewendung). Es ist ein absolutes Klischee, dass Autist: Innen alle ein Supergehirn haben und solche Inselbegabungen haben. Das vermittelt einfach ein völlig falsches Bild. Ja, es gibt Autist: Innen auf die das zutrifft, aber das ist wirklich ein verschwindend geringer Anteil. Viele Autisten haben wirklich ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis, das möchte ich gar nicht abstreiten. Aber definitiv nicht in so einem Ausmaß...

Der Beitrag ist schon wieder sehr lang. Es gibt aber noch ein paar weitere Punkte, die ich gern aufklären würde. Darum wird definitiv noch ein dritter Teil von dieser Beitragsserie folgen. 

Habt einen schönen Tag!
Anne

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