Sollten autistische Kinder einen Kindergarten besuchen? - Teil 2

Hallo!

Eltern von Schulkindern im Autismus-Spektrum werden ein Lied davon singen können: für Kinder mit diesem Störungsbild ist der Schulalltag zum Teil wirklich extrem herausfordernd. Wichtig: ich möchte damit nicht sagen, dass es für neurotypische Kinder nicht auch sehr schwierig sein kann, aber bei einer zusätzlichen Wahrnehmungs- und sozialen Interaktionsstörung wie Autismus, birgt die Schule noch mal ganz andere Herausforderungen. In Deutschland gibt es keine Kindergartenpflicht. Umso mehr kann ich Eltern verstehen, die sich nicht sicher sind, ob sie ihr autistisches Kind überhaupt in einem Kindergarten betreuen lassen wollen - schließlich könnte man den Kindern dadurch noch ein paar zusätzliche Jahre schenken, in dem sie noch nicht mit dem alltäglichen Wahnsinn konfrontiert werden. Also einfach noch geschont werden. Die Schulzeit wird schließlich hart genug. (Das ist jetzt überspitzt - es gibt genauso gut autistische Kinder, die in der Schule super klar kommen und wirklich gern hingehen!) Im letzten Beitrag habe ich dargelegt, welche Gründe gegen einen Kindergartenbesuch sprechen. Es gibt aber auch zahlreiche positive Aspekte, die die negativen Aspekte vielleicht sogar aufwiegen! Darum soll es heute in dem zweiten Teil gehen. Wichtig: die beiden Beiträge sollen lediglich neutral über positive und negative Aspekte informieren und als Entscheidungshilfe dienen. Ganz einfach weil niemand alle Punkte im Kopf haben kann, wenn er eine solche Entscheidung trifft. Entscheiden müssen alle Elternteile für sich allein. Ihr kennt euer Kind am allerbesten und könnt am besten einschätzen, was für euer Kind am besten ist. 
  • Gewöhnung für die Schule
Im Kindergarten treffen die Kinder auf ähnliche Grundbedingungen wie später in der Schule: viele fremde Kinder, erhöhte Lautstärke, neue Bezugspersonen, anderer Tagesablauf als zu Hause, etc. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied zur Schule: es werden bei weitem noch nicht so viele Anforderungen an sie gestellt, wie das in der Schule der Fall ist. Auch im Kindergarten gibt es sogenannte Angebote, die den Kindern Wissen vermitteln, sie fördern und sie auch ein kleines bisschen auf die Schule vorbereiten sollen. Diese sind aber alle spielerisch gestaltet und haben rein gar nichts mit dem klassischen Unterricht zu tun, den es in der Schule so gibt. Es wird mal ein Buch vorgelesen, es wird gebastelt, Musik gemacht oder es werden Bewegungsspiele gespielt, also alles was Kinder von Natur aus gerne machen. In der Regel bekommen sie gar nicht mit, dass sie gerade etwas lernen sollen, weil die Angebote alle kindgerecht sind und einfach Spaß machen. 

Die Kinder bekommen quasi die Gelegenheit, sich an die Gegebenheiten in einer Schule heranzutasten, ohne dass sie zusätzlich auch noch konzentriert dem Unterricht folgen müssen. Sie lernen kennen, woran sie bemerken, dass ihre Grenzen erreicht sind und was sie tun können, um sich wieder zu beruhigen und entspannen. Außerdem trainieren sie, wie sie mit lauten Geräuschkulissen umgehen können und trotzdem keine Reizüberflutung bekommen. Im Kindergarten können sie noch jederzeit eine Pause machen und bekommen außerdem Unterstützung von geschulten Pädagogen. Kinder, die noch nie die Gelegenheit hatten, das zu trainieren, sind in der Schule - wo sie dann auch noch dem Unterricht folgen sollen, sehr wahrscheinlich maßlos überfordert.

  • Es gibt Kitas die speziell auf Kinder mit Einschränkungen eingestellt sind.
Es gibt Kindergärten, die speziell darauf ausgerichtet sind, Kinder mit bestimmten Behinderungen zu betreuen und vor allem zu fördern. Meistens spricht man von sogenannten heilpädagogischen Kindergärten. Dort wird daran gearbeitet, dass die Kinder lernen, trotz ihrer Besonderheiten gut im Alltag zurecht zu kommen und ggf. Fähigkeiten zu erweitern / überhaupt erst zu erwerben. In der Regel sind die Gruppen dort wesentlich kleiner und die Erzieher sind speziell ausgebildet und kennen sich mit den Krankheits-/Störungsbildern sehr gut aus, können also gezielter auf die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder eingehen und sie besser unterstützen. In der Regel arbeiten diese Kindergärten mit Therapeuten zusammen, sodass die Kinder notwendige Therapien im Alltag des Kindergartens erhalten können und nicht nachmittags erst noch in externe Praxen fahren müssen mit den Eltern. Wenn also ein normaler Kindergarten aufgrund der Gruppengröße und anderen ungünstigen Bedingungen vielleicht nicht in Frage kommt, gebt nicht sofort auf, sondern sprecht mit eurem Kinderarzt - vielleicht kommt ja ein heilpädagogischer Kindergarten oder ein Integrationskindergarten (dort werden behinderte Kinder in eine Gruppe aus nichtbehinderten Kindern eingegliedert und bekommen Unterstützung durch speziell geschulte Erzieher.) in Frage.
  • Es finden gezielte Förderungen statt.
In heilpädagogischen Kindertagesstätten gehören Einzel- und Gruppenförderungen zum Konzept dazu. Aber auch in normalen Kindergärten achten die Erzieher sehr genau darauf, wie das Kind entwickelt ist und was es vor dem Schuleintritt noch trainieren sollte. Das versuchen sie dann gezielt in den Kindergartenalltag einzubauen. Wenn das Kind zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Feinmotorik hat, wird es häufiger dazu motiviert werden, auch mal etwas zu malen oder zu basteln. Oder wenn ein Kind Schwierigkeiten hat gezielt Abläufe zu planen oder zu zählen, wird es die Aufgabe erhalten, den Tisch zu decken. Dabei kann es hervorragend üben: es muss überlegen: welches Essen gibt es heute - also welches Besteck wird benötigt? Wie viele Kinder sind heute da? Brauche ich tiefe oder flache Teller? Erzieher sind wirklich sehr kreativ, wenn es darum geht, dem Kind dabei zu helfen, bestimmte Fähigkeiten zu erwerben oder zu verbessern, ohne dass es das aktiv bemerkt. 😄 Gleichzeitig können sie den Eltern aber auch wertvolle Hinweise geben, wenn ein Kind zum Beispiel ggf. zusätzliche Unterstützung benötigt, weil es in der Entwicklung verzögert ist. Das ist immens wichtig, denn Eltern können einfach gar nicht jede Auffälligkeit bemerken oder korrekt einordnen. 
  • Eltern können konkrete Beratung und Unterstützung bekommen.
Hand aufs Herz: wie oft kommt es im Alltag vor, dass man als Eltern einfach nicht mehr weiter weiß, weil einen bestimmte Verhaltensweisen des Kindes extrem herausfordern oder man keine Idee mehr hat, wie man seinem Kind das eine oder andere noch erklären soll, damit es endlich versteht, wie es funktioniert. Oder die Eltern nehmen vielleicht eine Besonderheit an dem Kind wahr und wissen nun nicht, ob sie damit zum Kinderarzt gehen sollten um das abklären zu lassen. Im Alltag gibt es dutzende Situationen, in denen Eltern nicht weiterwissen. Das ist völlig normal - wir sind alle nicht perfekt und die wenigsten Eltern haben eine pädagogische Ausbildung. Die Erzieher können in diesen Fällen extrem weiterhelfen, denn sie haben entscheidende Vorteile: 

- Sie erleben das Kind in einem anderen Kontext. So lässt sich zum Beispiel feststellen, ob das Verhalten nur zu Hause auftritt oder ob es zum Beispiel erst neu ist oder es den Eltern einfach noch nicht aufgefallen ist bisher.

- Sie haben den Vergleich zu dutzenden anderen Kindern in der Gruppe. Es fällt ihnen also leichter herauszufinden, ob das Kind z. B. eine Entwicklungsverzögerung haben könnte.

- Bedingt durch die Tatsache, dass sie schon zahlreiche Kinder betreut und ihnen Dinge beigebracht haben, haben sie ganz andere Ansätze, auf die die Eltern gar nicht kommen würden. Kinder sind nun einmal nicht gleich und manche verstehen bestimmte Dinge nicht, wenn man sie versucht auf die herkömmliche Art und Weise beizubringen. Die Erzieher sind also gezwungen, sich immer wieder neue Ansätze zu überlegen. Garantiert ist auch ein Ansatz dabei, der eurem Kind hilft. Es kommt ihnen einfach ihr extremer Erfahrungsschatz zu Gute. Und logischerweise dass sie in ihrer Ausbildung natürlich auch beigebracht bekommen haben, welche Mittel und Wege es gibt. 

- Sie können wertvolle Tipps geben: was funktioniert hier in der Kita gut, um das Kind zum Beispiel wieder zu beruhigen? 

Man steht als Eltern einfach nicht so alleine auf weiter Flur.

  • Das Kind lernt den Umgang mit Gleichaltrigen.
Im Kindergarten treten Konflikte zwischen den Kindern auf, das ist vollkommen normal und tritt vollkommen unabhängig davon auf, ob es nun neurotypische oder autistische Kinder sind. Es gehört zur kindlichen Entwicklung einfach dazu. Selbstverständlich ist das nicht schön und führt auch durchaus mal zu Tränen bei den Beteiligten. Aber es ist immens wichtig! Durch die Interaktion mit den anderen Kindern lernen die Kinder, welche Auswirkungen bestimmtes Verhalten in der Gesellschaft hat. Ja: Autisten haben es schwerer, das Verhalten ihrer Umgebung richtig zu interpretieren und dahinter zu kommen, was nun richtig und was falsch ist. Ja, das kann extrem herausfordernd für sie sein und ggf. geraten sie in mehr Konflikte, als ihre neurotypischen Spielkameraden. Aber: sie werden nicht mit diesen Situationen alleine gelassen. Die Erzieher haben immer ein Auge auf eure Kinder und beobachten gerade solche Situationen haargenau. Sie helfen bei Bedarf den Streit zu schlichten, werten die Konfliktsituation aus, erklären, warum Verhalten X jetzt nicht gut war und sorgen dafür, dass die dabei entstehenden negativen Gefühle gut aufgefangen werden. Das Kind lernt nicht nur, wie es sich in der Gesellschaft verhalten soll, damit es wenig Konflikte erlebt. Es lernt zusätzlich auch noch: Wie behaupte ich mich gegenüber gleichaltrigen Kindern? Was kann ich tun, wenn ich wütend oder traurig bin? Welche Techniken haben andere Kinder um sich zu beruhigen? Autistische Kinder können durch die Interaktion mit gleichaltrigen wirklich immens viel lernen und sich weiterentwickeln!

  • Entlastung
Das soll für diesen Beitrag der letzte Punkt sein, ist aber meines Erachtens ein entscheidender: wenn das Kind in der Kita betreut wird, sorgt das erheblich für Entlastung bei den Eltern. Ich möchte niemandem unterstellen, dass es ihm zu stressig / zu anstrengend ist, seine Kinder zu betreuen. Aber es ist eine Tatsache, dass Kinder sehr herausfordernd sein können. Da können sie noch so lieb sein. Und wenn man dann auch noch rund um die Uhr aufeinander hängt, führt das unweigerlich zu Konflikten. Es kann daher definitiv sinnvoll sein, wenn man das Kind in der Kita betreuen lässt. Man hat im Laufe des Tages Zeit, wieder Energie aufzuladen und vor allem auch mal eigene Termine wahrzunehmen, und Nachmittags/Abends hat man dann wieder die Geduld um auch in schwierigen Situationen gelassen zu reagieren. 

Fazit

Ich hoffe, ich konnte euch einen guten Überblick über die Vor- und Nachteile eines Kindergartenbesuchs für Eltern und Kind geben und es hilft euch, um eine gute Entscheidung zu treffen, die den Bedürfnissen von eurem Kind gerecht werden.

Habt einen schönen Tag!
Anne

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