Sollten autistische Kinder einen Kindergarten besuchen? - Teil 1

Guten Tag!

"Mama... ich will heute nicht in die Schule! Heute steht die blöde Mathearbeit an!" "Papa, kannst du mir nicht eine Entschuldigung schreiben? Ich will Oma mit vom Bahnhof abholen und heute haben wir eh nichts wichtiges..." Viele Eltern werden solche oder so ähnliche Sätze von ihren Kindern gehört haben und mussten solche Anfragen zumeist mit dem Hinweis auf die bestehende Schulpflicht ablehnen. Diese besteht, wie Sie vermutlich alle wissen, in ganz Deutschland und wenn keine extrem gravierenden Gründe gegen einen Schulbesuch sprechen, besteht eigentlich auch kaum eine Chance, den Kindern den Besuch einer solchen Einrichtung zu ersparen, auch wenn sie vielleicht noch so ungern hingehen. Mit dem Besuch einer Kindertagesstätte sieht es dagegen ganz anders aus - da liegt die Entscheidung komplett bei den Erziehungsberechtigten, ob sie ihr Kind in eine Kita schicken möchten, oder es lieber zu Hause betreuen wollen.

Für viele Eltern wird diese Entscheidung demnächst anstehen. Wenn man bedenkt, wie schwer sich autistische Menschen mit sozialer Interaktion und vielen aufeinandertreffenden Reizen tun, und mit dem Wissen, dass sie definitiv in der Schule durch diese Schwierigkeiten durch müssen, sollte man sie dann vielleicht lieber zu Hause betreuen, damit sie noch ein paar Jahre komplett stressfrei sein können? Oder ist es vielleicht eine gute Übung für die Schule, weil sie dann schon ein bisschen daran gewöhnt sind? Ich möchte heute ganz neutral Argumente aufführen, die für und die gegen einen Kindergartenbesuch von autistischen Kindern sprechen. Entscheiden müsst das letztendlich ihr als Eltern, denn nur ihr kennt euer Kind wirklich und ihr wisst ziemlich sicher am besten, was das Beste für es ist. Aber vielleicht kann ich euch mit der Auflistung der Argumente beider Seiten ein bisschen unterstützend zur Seite stehen.

Was spricht gegen einen Kindergartenbesuch?
  • Ungewohnter Tagesablauf
Jeder der schon mal einen längeren Urlaub gemacht hat, hat sicher schon gemerkt, wie schwierig es ist, danach wieder in den Alltag aus Arbeit, etc. reinzukommen. Denn auch wenn man sich dessen nicht so unbedingt bewusst ist: wenn man längere Zeit zu Hause ist, entwickelt man gewisse Routinen und einen annähernd gleichbleibenden Tagesablauf. Den kann man logischerweise auf Arbeit nicht so einhalten, wie man es zu Hause tun würde. Autistischen Kindern dürfte es schwer fallen, sich urplötzlich an einen ganz anderen Tagesablauf zu gewöhnen, als es bisher von zu Hause gewohnt ist. Aber mit Hilfe von z. B. TEACCH ist es meines Erachtens ganz gut möglich, ihnen zu vermitteln, was sie wann erwartet...
  • Fremde Umgebung
Wie ist das für euch, wenn ihr zum ersten Mal die Ferienwohnung betretet? Bzw. das Hotel, in dem ihr noch nie zuvor gebucht habt? Wo ist der Handfeger - wenn wir nach dem Strand hier ein bisschen sauber machen müssen? Wo ist frisches Toilettenpapier versteckt? Wann gibt es Frühstück und wo war noch mal der Pool? Spannend, oder? Während des gesamten Urlaubs wird immer irgendetwas an Unklarheiten auftauchen, die man für sich klären muss, einfach weil es nicht das gewohnte Umfeld (Zuhause) ist. 
  • Fremde Bezugspersonen (Erzieher) und fremde Kinder
Kleinstkinder kennen in der Regel nur ihre Eltern / Geschwister, meist die Großeltern/Tante und Onkel und vielleicht ein paar Freunde von den Eltern und das wars. Logisch - sie sind ja auch noch extrem klein, woher sollen sie dutzende Bekanntschaften hernehmen? Bei mir ist es noch im Erwachsenalter so: ich orientiere mich an wenigen Hauptansprechpartnern und kann mit den meisten anderen Menschen nicht so viel anfangen. Das hat hauptsächlich praktische Gründe. Eine handvoll Menschen kann man wesentlich besser entschlüsseln (herausfinden wie sie ticken) als wenn man sich nebenbei auch noch auf hundert andere konzentrieren muss. Außerdem wissen diese Leute dann wie ich ticke und ich weiß, an wen ich mich bei Problemen wenden kann. Neue Bekanntschaften zu schließen ist eher schwierig. Und nun stellt euch mal so ein kleines Würmchen vor, das in seinem Leben bisher nur mit ganz wenigen Menschen Kontakt gehabt hat und das kommt zum ersten Mal in eine Kita und wird dort von fremden Menschen quasi überschwemmt. Horror, oder?
  • sehr reizintensiver Tag
Im Kindergarten wimmelt es nur so von unterschiedlichsten Reizen - Stimmengewirr, Geräusche von Spielzeugen, der Geruch vom Mittagessen, das gerade in der Küche zubereitet wird, Geräusche von den anderen Gruppen, die vielleicht gerade im Garten spielen, etc. Wer schon einmal in einem Kindergarten war, wird festgestellt haben: es ist wirklich sehr, sehr laut und bisweilen auch echt anstrengend. Autistische Menschen haben eine Reizfilterschwäche. Das bedeutet, dass alles was so wahrgenommen werden kann (Geräusche, Gerüche, optische Eindrücke, Wahrnehmungen auf der Haut - z. B. Kleidung oder Wind) in gleicher Intensität wahrgenommen werden. Es fällt ihnen schwer, herauszufinden, welche Empfindungen für den Moment gerade wichtig sind und den Rest auszublenden. Das ist in der Regel sehr anstrengend, weil das Gehirn quasi dauerhaft mit der Verarbeitung dieser Wahrnehmung beschäftigt ist. Gleichzeitig muss es aber logischerweise auch noch seine anderen Aufgaben erfüllen: Bewegungen koordinieren, auf Ansprache reagieren, na ihr wisst was unser Gehirn so für Aufgaben hat. Was passiert mit euch, wenn zu viele Anforderungen gleichzeitig an euch gestellt werden? Wahrscheinlich sagt ihr irgendwann so etwas wie: "STOP - ich habe nur zwei Hände! / Ich kann nicht zaubern!" Völlig normal, irgendwann ist die Kapazität einfach mal ausgeschöpft. Aufgrund des ständigen Überschusses an Reizen, ist das Risiko dass dieser Punkt erreicht wird, bei autistischen Menschen wesentlich höher... In jedem Fall ist aber davon auszugehen, dass ein autistisches Kind nach einem Kindergartentag wirklich massiv erschöpft sind, es ist davon auszugehen, dass die Erschöpfung in der Regel über ein übliches Maß hinausgehen...
  • Konflikte mit anderen Kindern
Wer meinen Blog schon länger liest oder selber autistische Menschen kennt weiß, dass autistische Menschen und neurotypische Menschen unterschiedlich ticken. Das geht schon damit los, dass autistische Menschen Sprache wortwörtlich auffassen und damit sprachliche Besonderheiten wie Ironie, Sarkasmus oder Sprichwörter teilweise nicht verstehen können. Schon allein aus diesem Grund kommt es häufig zu Missverständnissen. Dann haben autistische Menschen meist ein deutlich eingeschränkteres Interessengebiet - ein Problem, wenn es darum geht, sich auf ein gemeinsames Spiel zu einigen... Es gibt dutzende Reibungspunkte, die aufgrund der unterschiedlichen Art im Kindergarten zu Konflikten führen könnten. Wenn man bedenkt, dass die Kinder da schon in der Schule durch müssen, sollte man sie da nicht wenigstens im Kindergartenalter davor bewahren? 

Fazit

Egal ob autistisch oder neurotypisch: im Kindergarten stoßen kleine Menschen erst einmal auf ein Haufen neuer Eindrücke und Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt. Das sollte man bei der Entscheidung (Kindergarten ja oder nein) in jedem Fall bedenken. Wir (die erwachsenen Menschen) haben im Laufe unseres Lebens für uns Techniken entwickelt, wie wir mit solchen Unklarheiten umgehen und uns zwischendurch immer wieder entspannen und beruhigen können, damit sie uns nicht die innere Sicherheit rauben. Kleine Kinder fehlen in dem Alter definitiv noch die Erfahrungen mit solchen Situationen und sind deswegen in der Regel erst einmal kräftig überfordert.  Dazu kommt, dass bei einer Eingewöhnung in den Kindergarten sich direkt ALLES gleichzeitig verändert... Sie können sich eigentlich nicht Stück für Stück an die einzelnen Veränderungen gewöhnen, denn im Kindergarten ist ja alles anders als zu Hause. Eine extreme Herausforderung... Das sind so die Punkte, die mir einfallen würden, die gegen einen Kitabesuch von einem autistischen Kind sprechen. Es gibt aber auch zahlreiche Punkte, die für einen Kitabesuch sprechen. Aufgrund der Tatsache, dass dieser Beitrag bereits wieder sehr lang geworden ist, kommen die positiven Aspekte im nächsten.

Habt einen schönen Tag!
Anne



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