Wohnheim - ja oder nein? Erfahrungen, Tipps und Tricks

Hallo!

In vielen Bundesländern neigen sich die Ferien jetzt dem Ende entgegen oder sie sind sogar schon zu Ende. Nicht nur für Schulkinder geht dann wieder eine spannende Zeit los, auch für die jungen Erwachsenen, die die Schule abgeschlossen haben und für die dann die Ausbildung ansteht. Jugendliche mit körperlichen, psychischen oder seelischen Besonderheiten benötigen teilweise mehr Unterstützung bei der Ausbildung. Für sie gibt es sogenannte Berufsbildungswerke - Einrichtungen, die sich auf die Ausbildung von jungen Erwachsenen mit Behinderung spezialisiert haben. Das ist eine tolle Sache. Einziges Manko: nicht in jeder Stadt gibt es ein Berufsbildungswerk, bzw. bilden aber auch nicht alle Berufsbildungswerke alle Berufe aus. Für Auszubildende die in einer anderen Stadt leben, gibt es in vielen BBWs ein Wohnheim, in dem die Jugendlichen unter der Woche und teilweise auch am Wochenende übernachten können. Auch das ist eine super Sache, kann aber gerade für autistische Jugendliche eine extreme Herausforderung sein... Vielleicht wurde euch vor kurzem vom Arbeitsamt dieser Vorschlag unterbreitet und nun wisst ihr nicht so wirklich, wie ihr euch entscheiden sollt. 

Neue Bezugspersonen, fremde Umgebung, fremde Mitauszubildende, gänzlich anderer Tagesablauf und dann auch noch fernab vom Zuhause... Das kann erst mal für autistische Menschen komplett überfordernd und unmöglich wirken. Ich möchte euch aber sagen: es kann durchaus funktionieren!! Ich für meinen Teil war stinksauer, als die Vermittlerin vom Arbeitsamt gemeint hat, dass das BBW in meiner Heimatstadt nur Hör- und Sprachgeschädigte aufnimmt, eine Ausbildung auf dem freien Arbeitsmarkt nicht in Frage kommt und ich die Wahl zwischen der Behindertenwerkstatt oder dem Berufsbildungswerk Dresden habe. Ich hatte damals schon meine Probleme wenn es nur in den Urlaub ging oder eine Klassenfahrt anstand. Weniger wegen Heimweh, aber ich hasse es in fremden Umgebungen zu übernachten und bin allgemein nicht gern von zu Hause weg. Jeden Tag zwischen Leipzig und Dresden pendeln? No Way. Aber eine Ausbildung wollte ich schon machen. Also habe ich mich schließlich doch für das BBW Dresden entschieden und habe in Kauf genommen, dass ich mich dort an das Wohnheimleben gewöhnen muss. Und ich habe es nicht bereut. Heute möchte ich euch einige Tipps geben, wie die Eingewöhnung leichter vonstatten gehen kann und was dafür spricht, es trotz der offensichtlichen Herausforderungen einfach zu versuchen. Der Beitrag ist natürlich nicht nur für die Jugendlichen gedacht, die in einem Berufsbildungswerk ihre Ausbildung beginnen, die Tipps für sie Eingewöhnung funktionieren logischerweise auch für sehr viele andere Wohnheime.

Geschulte Betreuer: innen unterstützen die Azubis jederzeit bei Schwierigkeiten.

Zumindest in Berufsbildungswerken sind die Auszubildenden keinesfalls auf sich alleine gestellt. Es gibt dort sogenannte Wohnheimpädagogen. Diese haben in der Regel nicht nur die gewöhnliche Erzieherausbildung, sondern kennen sich sehr gut mit den unterschiedlichen Behinderungen und Störungsbildern aus und sind im Umgang mit den betroffenen Jugendlichen sehr gut geschult. Ergo sind sie in der Regel ziemlich gut darauf vorbereitet, welche Schwierigkeiten auftreten können und wie man am besten damit umgeht. Wer von zu Hause ins Wohnheim einzieht, der muss noch keineswegs hundertprozentig selbstständig sein, wer Unterstützung benötigt, wird sie von den Wohnheimpädagogen auch bekommen. In der Regel gibt es ein bis zwei Hauptansprechpartner pro Etage / Wohnbereich (das ist ja je nach BBW unterschiedlich organisiert), die intensiver mit den Jugendlichen aus ihrem Bereich arbeiten. Zusätzlich gibt es aber eigentlich auch immer noch eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, irgendein Betreuer ist immer im Dienst, sodass die Azubis eigentlich niemals auf sich allein gestellt sein müssen. 

Meistens Einzelzimmer bis max. Zweibettzimmer

Man darf sich die Wohnheimzimmer in den Berufsbildungswerken nicht so vorstellen, wie in klassischen Jugendherbergen oder in Studentenwohnheimen, wo gleich vier Betten in einem kleinen Zimmer stehen, ständig Krach herrscht und man eigentlich kaum zur Ruhe kommt, weil permanent die Hütte voll ist. In den meisten Wohnheimen gibt es Einzelzimmer bis maximal Zweibettzimmer, also definitiv überschaubar. Selbstverständlich ist es nicht verboten, gemeinsam Zeit zu verbringen, in der Regel gibt es in den Wohnbereichen sogenannte Gemeinschaftsräume, wo man gemeinsam kochen, fernsehen, quatschen oder Spiele spielen kann. Man kann sich also je nach Tagesform immer wieder neu entscheiden, ob man gerade lieber Gesellschaft möchte oder sich lieber gerade zurückzieht.

Selbstständigkeit wird gefördert

Während meiner Zeit im BBW bin ich wesentlich selbstständiger geworden. Das liegt nicht daran, dass ich zu Hause komplett verhätschelt und mir alles abgenommen wurde, aber es ist ganz logisch, dass man in einem Wohnheim, wo die Betreuer sich nicht nur um einen einzelnen Azubi kümmern können, automatisch selbstständiger wird. Im BBW habe ich zum Beispiel gelernt mein Bett zu beziehen. Ich konnte es vorher auch, allerdings mehr schlecht als Recht. Im Wohnheim musste aber aus hygienischen Gründen alle vierzehn Tage die Bettwäsche getauscht werden - wenn man das also drei Lehrjahre lang selbstständig, bzw. mit Unterstützung der Mitazubis machen muss, kommt man nicht umhin das zu lernen. Spaß macht es mir immer noch nicht, aber ich erledige diese Aufgabe inzwischen im Null Komma nichts, während ich früher regelmäßige Wutanfälle bekommen habe, weil es einfach nicht so funktioniert hat, wie ich wollte. Außerdem habe ich während meiner BBW-Zeit gelernt wie man Wäsche wäscht und einen Trockner bedient. Ich habe gelernt selbstständig aus dem Bett zu kommen und mich so zu organisieren dass ich pünktlich in der Ausbildung sitze, außerdem habe ich erarbeitet, wie man sich sicher in einer fremden Stadt bewegt und sich dort zurecht findet, etc. 

Denn auch wenn man die Betreuer als Ansprechpartner jederzeit zur Verfügung hat, heißt das nicht, dass sie einen nonstop an die Hand nehmen. Du darfst alles zunächst selbst probieren. Wenn es dann nicht funktioniert, kann man die Betreuer um Hilfe bitten und sie bringen es einem bei. Ich habe eigentlich im BBW keinen einzigen Wohnheimpädagogen kennengelernt, der gesagt hat: "Du kriegst das nicht hin? Kein Problem, ich mach das für dich." Sie haben immer versucht, mir zu zeigen, wie ich es selbst schaffen kann. Vertraut mir - nach den drei Lehrjahren werdet ihr euer Kind kaum noch wiedererkennen! :)

Mitazubis zum gemeinsamen Lernen direkt vor Ort

Selbst wenn das Berufsbildungswerk und der Wohnort nicht so weit voneinander entfernt wären, dass man es nicht über tägliches Pendeln einigermaßen stressfrei lösen könnte, so ist es für das gemeinsame Lernen wesentlich praktischer im Wohnheim zu leben. Natürlich kann man auch nach der Ausbildung noch länger bleiben, um gemeinsam mit den anderen Auszubildenden zum Beispiel für die Berufsschule zu lernen, aber ich schwöre: auf die Dauer nervt das extrem, man muss ja schließlich danach auch noch nach Hause, Abendbrot essen, etc. Oder wenn man nichts verabredet hat und es fällt einem aber abends urplötzlich etwas im Material auf, dass man überhaupt nicht versteht - die Auszubildenden die im Wohnheim leben, müssen maximal die Etage wechseln oder vielleicht auch nur über den Gang laufen, um sich mit ihren Mitazubis austauschen zu können. Pendler müssen erst mal wieder ihre Kollegen anrufen und darauf hoffen, dass sie gerade an ihr Handy gehen, sonst müssen sie bis zum nächsten Tag warten und kommen nicht weiter. Und selbst wenn die anderen ans Telefon gehen, heißt das ja noch lange nicht, dass das Problem überhaupt am Telefon geklärt werden kann. Für das gemeinsame Miteinander ist das Wohnheim wirklich praktischer... Ganz davon abgesehen, raubt es natürlich auch Kraft, wenn man sich 2x täglich ins allgemeine Verkehrsgetümmel stürzen muss. Wohnheimbewohner sind logischerweise schon vor Ort und müssen daher nur die allgemeine Routine abhalten und dadurch deutlich länger schlafen und sich außerdem nicht bereits am Morgen so vielen Reizen aussetzen. 

Unterstützung bei der Freizeitgestaltung

Viele autistische Menschen tun sich mit der sinnvollen Gestaltung ihrer Freizeit schwer. Also manche schaffen es, sich mit der Beschäftigung mit ihren Spezialinteressen den ganzen Nachmittag/Abend zu vertreiben, aber auch das gelingt nicht allen Betroffenen. Bei mir hat sich daran auch im Erwachsenenalter nicht viel geändert. In den Wohnheimen vom Berufsbildungswerk gibt es zahlreiche Freizeitangebote, die von den Wohnheimpädagogen geleitet werden. Fußball, Basteln, Malen, in Dresden wird am Wochenende teilweise sogar heilpädagogisches Reiten angeboten, Bibliothek, Musikinstrumente spielen lernen, etc. Im Prinzip ist bei den zahlreichen Angeboten für jeden irgendetwas schönes dabei. Zusätzlich wird aber auch teilweise mit den Auszubildenden am Abend gemeinsam gekocht. Dabei gilt selbstverständlich immer: "Alles kann, nichts muss." Niemand wird dazu gezwungen, an den Freizeitaktivitäten teilzunehmen, aber die Betreuer versuchen einen schon zu motivieren, das eine oder andere einfach mal mit auszuprobieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass man seinen Nachmittag / Abend mit einer sinnvollen, angenehmen Tätigkeit füllt und nicht nur alleine mit dem Handy auf dem Zimmer hockt, ist im Wohnheim wesentlich größer. Außerdem helfen einem die Wohnheimpädagogen dabei eine sinnvolle Struktur für die Nachmittags/Abendzeit zu entwickeln, eine gute Mischung zwischen lernen, Freunden treffen und chillen zu finden. 

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Tipps zur Eingewöhnung

Achtet bzgl. der Wochenenden auf eure Bedürfnisse.

In vielen Wohnheimen ist es so geregelt, dass es alle vierzehn Tage ein vom Amt finanziertes Heimfahrtswochenende gibt. Da wird dann je nach Behinderung ein Fahrdienst organisiert, oder das Zugticket wird bezahlt. Das bedeutet aber keineswegs, dass man dazu gezwungen ist, auch wirklich dort zu bleiben. Wenn ihr euch im Wohnheim am Anfang noch nicht wohlfühlt, dann fangt klein an. Mir hat es am Anfang immens geholfen, dass ich wusste: ich muss nur die eine Woche durchstehen, am Wochenende bin ich wieder zu Hause. Dort zu bleiben hätte mich gnadenlos überfordert. Es ist natürlich eine finanzielle Frage. Man muss sich die zusätzlichen Fahrtkosten leisten können. Aber wenn es wirklich nur darum geht, dass ihr euch ja eingewöhnen müsst, dann ist meine klare Empfehlung: tut euch das nicht an. Wenn ihr es schafft unter der Woche im Wohnheim zu bleiben, gewöhnt ihr euch nach einer gewissen Zeit automatisch ein. Die zwei Tage zusätzlich tragen auch nicht dazu bei, dass es leichter wird. Ganz im Gegenteil: Die Ausbildung kostet bereits enorm viel Energie. Dazu kommt, dass ihr euch ja auch bemühen müsst, um mit der Veränderung klarzukommen, die dadurch entstanden ist, dass ihr jetzt im Wohnheim seid, irgendwann braucht das Gehirn auch einfach mal eine Pause von ständig neuen Eindrücken. Wenn ihr es euch finanziell leisten könnt und ihr fühlt euch wirklich noch nicht so wohl, dann fahrt am Wochenende nach Hause und genießt die Sicherheit der gewohnten Umgebung, Familie, Freunde, etc. Ihr ladet damit Energie auf und die ist immens wichtig, um in der darauffolgenden Woche wieder mit allen Herausforderungen klarzukommen. Wenn ihr natürlich merkt, dass es für euch unerträglich schwierig ist, nach den Wochenenden wieder in das Wohnheimleben zu kommen, solltet ihr natürlich überlegen, ob ihr nicht doch versuchen solltet, am Wochenende da zu bleiben. Hört hier ganz auf euer Bauchgefühl. Vielleicht werden die Betreuer versuchen, euch zu motivieren da zu bleiben, aber lasst euch hier nicht bequatschen. Nur ihr könnt einschätzen, ob ihr in der Lage seid, auch am Wochenende dort zu bleiben, oder ob ihr die Erholungspause benötigt.

Gewohnte Gegenstände (z. B. Minikissen) von zu Hause mitbringen

Aus hygienischen Gründen ist in manchen Wohnheimen keine eigene Bettwäsche erlaubt. Das war für mich am Anfang ziemlich schwierig. Zum Glück habe ich aber schon zu Hause immer auf so einem kleinen Kissen mit Tokio Hotel - Motiv geschlafen und das habe ich mitgenommen und habe mich so ein kleines bisschen wohler gefühlt. Oder wenn ihr zu Hause eine Lieblingstasse, ein Lieblingsmesser oder vielleicht ein Lieblingshandtuch habt: nehmt es mit. Unbedingt. Natürlich hat die Wohnheimküche Geschirr, es wäre nicht zwingend erforderlich! Auch wenn die Gegenstände theoretisch im Wohnheim vorhanden sind oder an sich jetzt nicht lebensnotwendig wirken: wenn ihr ins Wohnheim einzieht, ist erst einmal ALLES anders. Für Autist: innen eine richtig harte Challenge. Umso wichtiger ist es, gewohnte Gegenstände von zu Hause in der Nähe zu haben. Ich hätte zum Beispiel nie gewusst, dass ich ohne das Kissen überhaupt nicht einschlafen kann - das habe ich erst gemerkt, als ich es nach einem Wochenende zu Hause mal ebendort vergessen habe - das war eine verdammt harte Woche. Nehmt am Anfang wirklich alles mit, von dem ihr den Eindruck habt, dass ihr es zu Hause bevorzugt benutzt. Ihr könnt einfach nicht wissen, ob es nicht vielleicht doch gerade der Gegenstand ist, der dazu führt, dass ihr irgendwie zurecht kommt. 

Freunde / Familie können teilweise im BBW übernachten

In manchen Wohnheimen besteht die Möglichkeit (nach Anmeldung und gegen einen kleinen Unkostenbeitrag) dass Gäste dort übernachten. Meistens dann in einem anderen Wohnheimzimmer, aber das macht ja nichts. Vielleicht könnte das bei der Eingewöhnung helfen. Also unter der Woche würde ich ganz, ganz klar davon abraten, dass sich Eltern ein Zimmer im BBW mieten, um ihr Kind zu unterstützen. Auch nicht in der Anfangsphase, denn das würde die Eingewöhnung massiv behindern. Erstens hat man tagsüber ja mit der Ausbildung zu tun und zweitens hat man eigentlich keine Chance mit den anderen Auszubildenden in Kontakt zu kommen, wenn die ganze Zeit die Eltern da sind. Unter der Woche sind die Betreuer zuständig - und ja: die werden auch super gut mit Heimweh fertig. :) Aber wenn es darum geht, dass man z. B. gern mal doch ein Wochenende da bleiben möchte, kann es durchaus sinnvoll sein, wenn die Eltern einen über das Wochenende besuchen und man die Tage mit ihnen an dem neuen Ort verbringen zu können. Dann muss man sich gar nicht für eines von beidem entscheiden, sondern kann beides haben. 

Fazit

Auch wenn der (vorübergehende) Umzug in ein Wohnheim für autistische Menschen eine große Herausforderung darstellt, heißt das nicht, dass sie das nicht durchstehen und die Zeit sogar positiv für sich nutzen können. Es ist definitiv nicht leicht, aber sie bekommen Unterstützung von ausgebildeten Pädagogen und man entwickelt sich in jedem Fall weiter. Wenn ihr unsicher seid, lasst euch in dem Wohnheim beraten. Vielleicht kann man es zwischendurch schon mal besichtigen oder vielleicht zur Probe dort auch mal schlafen! Fragen kann man doch mal! Entscheiden müsst ihr es letztendlich selbst, aber meine klare Empfehlung lautet: Versucht es. Ihr könnt es definitiv schaffen! Aufgeben kann man im Notfall immer noch, wenn es wirklich gar nicht funktioniert.

Habt einen schönen Tag!
Anne

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