Tipps für Umgang mit Autisten in Krisensituationen

Guten Tag!

Zum Einstieg mal ein Gedankenexperiment an die neurotypischen Mitleser: innen. Stellt euch vor, ihr seid in der Stadt unterwegs oder bei irgendeiner Veranstaltung und trefft dort auf einen Menschen (ohne Begleitung), der offensichtlich gerade ein arges Problem hat (vielleicht schlägt er auf sich selbst ein, oder er schaukelt stark vor sich hin, betreibt intensives Stimming und wirkt vielleicht massiv überfordert, vielleicht ist er auch extrem unruhig, in jedem Fall ist erkennbar, dass es ihm nicht gut geht). Und dieser Mensch würde zufällig ein Schild tragen: "Ich habe Autismus und brauche jetzt gerade Hilfe!" Hättet ihr auf Anhieb eine Idee, wie ihr ihm helfen könntet, bzw. wie ihr am besten mit ihm umgeht, um seine Situation zumindest nicht zu verschlimmern? 

Viele Neurotypen können das nicht, weil sie sich mit Autismus nicht so wirklich gut auskennen. Im letzten Beitrag habe ich über die Möglichkeit eines Notfallpasses gesprochen, der Außenstehende in relativ übersichtlicher Form erklärt, was gerade für ein Problem vorliegt und was getan werden kann, um dem Menschen zu helfen. Nun hat aber bei Weitem nicht jeder eine solche Karte dabei, bzw. bleibt vielleicht nicht die Zeit, diese erst durchzulesen. Darum möchte ich heute mal ein paar Anregungen geben, wie man Autist: innen in Krisensituationen unterstützen kann. In der akuten Situation hat man nicht groß die Chance zu überlegen, welcher Zustand (Meltdown, Shutdown, Reizüberflutung, sonstige Überforderung) gerade vorliegt und das kann man von einem Außenstehenden auch kaum verlangen. Darum versuche ich Tipps zu finden, die allgemein sinnvoll sind. Natürlich muss man auch wissen, dass man gerade einen Autisten vor sich hat, aber davon gehen wir der Einfachheit halber jetzt mal aus.

1. Immer von normalem Verständnis ausgehen.

In Überforderungssituationen kann es passieren, dass die autistische Person ggf. nur einzelne Wörter spricht, extrem stottert oder auch überhaupt nicht spricht. Nicht adäquat sprechen zu können, bedeutet aber nicht, dass sie das Gegenüber nicht genau versteht. Ganz im Gegenteil: die meisten autistischen Menschen haben eine durchschnittliche Intelligenz! Sie verstehen in der Regel ganz genau, was man zu ihnen sagt, sie können nur durch die stressige Situationen nicht so sprechen wie sie wollen. Darum meine absolute Empfehlung: geht erst einmal davon aus, dass euch der Betroffene problemlos versteht. Sprich: wendet eine ganz normale Lautstärke, eine ganz normale Sprechgeschwindigkeit und ganz normalen Satzbau an. Keine Besonderheiten. Alles andere irritiert nur unnötig. Es kann helfen, Stift und Papier anzubieten, denn schreiben funktioniert häufig besser als sprechen.

2. Vor Rückfragen immer erst Reaktionen abwarten.

Auch wenn euch der Betroffene meist problemlos versteht, kann es bisweilen länger dauern, bis er auf irgendetwas das ihr zu ihm sagt reagiert. Das liegt daran, dass in Stresssituationen das ignorieren unnötiger Reize schwieriger und die Verarbeitungsgeschwindigkeit im Allgemeinen häufig herabgesetzt ist. Ihr müsst euch das so vorstellen: Das Gehirn ist gerade massiv mit der Bewältigung einer Situation beschäftigt, die es überfordert - die Hauptaufgabe des Hirns ist in solchen Momenten einfach nur: Eskalation vermeiden. Da meist eine Reizüberflutung ursächlich ist, bedeutet das, sämtliche Reize nach Möglichkeit soweit ignorieren, dass sie unschädlich sind. Jetzt wichtige Informationen durchzulassen ohne dabei alles andere mitaufzunehmen ist eine krasse Herausforderung, die durchaus ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen kann. Auch hier können Stift und Papier helfen, in dem man die Frage aufschreibt. Dann kann die Frage im eigenen Tempo verarbeitet werden. Aber auch im mündlichen: unbedingt immer nur eine Frage stellen, auf Antwort warten, neue Frage stellen. Neurotypen neigen häufig dazu, bei fehlender Reaktion eine Frage nachzuschießen um das Verständnis zu erleichtern. Das kann aber dazu führen, dass der Autist noch überforderter wird, als er es vorher schon war.

3. Wenig bis gar nicht berühren.

Sehr viele Autist: innen haben eine sensorische Überempfindlichkeit, das bedeutet, dass sie so etwas wie Berührungen, Kleidung auf der Haut, Wind, Licht, Geräusche wesentlich stärker wahrnehmen, als das bei einem Neurotyp der Fall wäre. Für viele autistische Menschen sind Berührungen daher eher unangenehm und verschlimmern in Stresssituationen die Lage sogar, weil sie einen zusätzlichen Reiz bedeuten. Außerdem wird eventuell der persönliche Wohlfühlabstand unterschritten, was aber mitunter nicht kommuniziert werden kann. Das führt dazu, dass der Autist noch gestresster wird oder sogar Angst bekommt. Gerade wenn der Betroffene sich selbst schlägt, erscheint es auf den ersten Blick sinnvoll, wenn man ihn festhält, um ihn davon abzuhalten, sich versehentlich selbst zu verletzen. Trotzdem würde ich im Zweifelsfall immer davon abraten. Zumindest sollte man das niemals ohne explizite Zustimmung des Betroffenen tun. Niemals. Wenn man die Person aus irgendwelchen Gründen unbedingt berühren muss, ist das zwingend vorher anzukündigen und auch zu beschreiben, was als nächstes getan wird.

4. Von Zuschauern und Außenreizen abschotten.

Am hilfreichsten ist es, wenn man die autistische Person an einen ruhigeren Ort, wie z. B. einen Extraraum bringen kann. Denn wenn die äußeren Reize weniger werden, muss das Gehirn weniger Anstrengung aufwenden um den Menschen zu schützen, es kann sich entspannen. Dadurch wird die Lage in der Regel ziemlich schnell entschärft, vor allem, wenn man die Person dort zusätzlich größtenteils in Ruhe lässt... Auch hier gilt: nicht einfach die Person anfassen und hinter sich her ziehen, sondern einfach fragen, ob sie an einen ruhigeren Ort gebracht werden möchte und dann anbieten, euch zu folgen. Dort sollte es nach Möglichkeit dann etwas dunkler sein, es darf keine Musik laufen und es sollte wirklich niemand anderes dort sein, also am besten ein ruhiger, leicht dunkler, leerer Raum. 

5. Stimming niemals unterbinden!

Es kann sein, dass die autistische Person sogenanntes Stimming betreibt. Das könnte sein: mit dem Oberkörper schaukeln, mit den Armen wedeln, leicht (!) auf Arme oder Beine einschlagen oder daran reiben mit den Fäusten, etc. Kurz gesagt handelt es sich bei Stimming um ein: sich wiederholendes, gleichbleibendes Verhalten, das keinem Zweck zu dienen scheint. Es ist immens wichtig, dass der autistische Mensch nicht dazu aufgefordert wird, dieses Stimming zu unterlassen. Es hilft ihm dabei, sich zu beruhigen und die Reize besser ignorieren zu können. Meistens konzentrieren sie sich nämlich auf die Bewegung oder das Geräusch, das sie verursachen und können dadurch das was sie überfordert besser ausblenden. Dieses Verhalten mag auf Außenstehende vielleicht befremdlich wirken, ist aber in der Regel völlig unschädlich und dient der Selbstberuhigung und damit der Deeskalation. Wenn ihr der Meinung seid, dass das Stimming eher in Richtung Selbstverletzung geht (ernsthaftes auf sich einschlagen / boxen) könntet ihr ggf. ein Alternativverhalten vorschlagen, was den Körper ebenfalls stimuliert, aber ungefährlich ist.

6. Lösung anbieten, wie es weitergehen könnte

Das bezieht sich vor allem auf Situationen, in denen der Autist aus dem Konzept gebracht wurde, weil sein ursprünglicher Plan nicht eingehalten werden konnte (z. B. durch Bahnausfall oder weil irgendetwas anderes unvorhergesehenes passiert ist). Das ist wie bei einer Perlenkette. Die aneinandergereihten Perlen stellen den üblichen Tagesverlauf dar. Jede Perle für einen Punkt im Tagesablauf (z. B. Aufstehen, Frühstücken, Rucksack packen, zur Bahn laufen, Kollegen Max, Moritz und Sven begrüßen, etc. Der autistische Mensch geht Perle für Perle ab. Nun stellt euch aber mal vor, dass Max krank ist - was nun?? Neurotypische Menschen können diese Perle überspringen, begrüßen sie halt nur Moritz und Sven. Bei autistischen Personen geht das häufig nicht. Es ist so, als ob die Perle zerspringt und abfällt - es ist dann eine Lücke in der Kette, die nicht einfach so überbrückt werden kann. Sie müssen die Kette aufdröseln, jede Perle einzeln abmachen und dann konzentriert überlegen, was sie tun können um das innere Chaos wieder ins Lot zu bringen, dann werden die Perlen wieder aufgefädelt. Hier kann man helfen, in dem man eine Perle anbietet. Zum Beispiel: "Komm, der Max ist jetzt krank - heute begrüßt du stattdessen den Alexander oder legst dem Max einen Zettel auf den Schreibtisch!" Oder wie im Fall mit der Bahn: "Du rufst jetzt Person X an und informierst sie, dass du später kommst. Anschließend kannst du den Bus 78 nehmen und am Musterplatz aussteigen." Die Perlenkette muss dann zwar immer noch aufgedröselt werden, geht aber schneller wieder zusammen. Ich hoffe, ihr versteht diese Metapher.  

Was hilft euch noch in schwierigen Situationen, die durch den Autismus ausgelöst werden? Schreibt es gern mal in die Kommentare! Habt einen schönen Tag!

Anne

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