🐄 Temple Grandin

Guten Tag!

Heute möchte ich euch eine autistische Persönlichkeit vorstellen, die demnächst ihren 75. Geburtstag feiert -  Mary Temple Grandin. Sie hat durch ihren Autismus die ganz besondere Gabe, sich extrem gut in Tiere hineinversetzen zu können. Diese Gabe nutzt sie, um in Kanada, den USA und Europa Schlachtbetriebe sowie größere Viehzuchtunternehmen zu beraten, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um Tiere wie Bisons, Rinder, Schafe oder Schweine beim Schlachten bzw. im gesamten Drumherum so viel Stress wie möglich zu ersparen. Damit hat sie nicht nur das Leben dieser Tiere enorm verbessert, sie hat auch gleichzeitig dafür gesorgt, dass Unfälle mit Tieren und Menschen in diesem Bereich massiv zurückgegangen sind. Je weniger Stress die Tiere empfinden, desto geringer ist die Chance, dass sie in Panik geraten und außer Kontrolle geraten. 

Wie ist Temple Grandin aufgewachsen?

Temple Grandin ist am 29.08.1947 in Boston geboren. Das Mädchen litt teilweise unter extremen Verhaltensauffälligkeiten, wie z. B. starken Wutausbrüchen. Sie konnte es in ihrer Kindheit kaum ertragen, körperliche Berührungen zuzulassen. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, stundenlang Details an verschiedenen Gegenständen zu betrachten. Bis sie 3,5 Jahre alt war, hat sie kein Wort gesprochen und auch danach hatte sie massive Schwierigkeiten, das sprechen zu erlernen. All diese Auffälligkeiten, die bei dem kleinen Kind vorlagen, haben dazu geführt, dass Ärzte ihr im Alter von 2 Jahren einen Hirnschaden diagnostizierten. Man hatte den Eltern offenbar wenig Hoffnung gemacht, dass sich etwas an diesem Zustand ändern könnte und haben ihnen geraten, das Kind in ein Heim zu geben. Das wiederum wollten die Eltern nicht einsehen und haben angefangen, Temple intensiv zu fördern. Sie wurde in einem heilpädagogischen Kindergarten aufgenommen, der sich auf die Förderung und Entwicklung der Sprache spezialisiert hatte, und nutzen die besonderen Interessen ihrer Tochter, um sie dazu zu bringen, sich intensiver mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Ihre Eltern brachten ihr außerdem bei, wie man sich in der neurotypischen Welt verhalten muss.  

Auch nach dem Kindergarten wurde Temple intensiv gefördert, sie ging unter anderem auf mehrere Privatschulen - mit Erfolg. Sie hatte am Ende der Schulzeit ihre Entwicklungsrückschritte nicht nur aufgeholt - sie war geistig so fit, dass sie sogar studieren konnte, konkreter: sie hat begonnen experimentelle Psychologie zu studieren. Ihre Doktorarbeit hat sie dann im Bereich Tierwissenschaften geschrieben, das Fach welches sie seit 1990 an der Colorado State University als Dozentin in Fort Collins selbst unterrichtet. Sie entwickelte dort unter anderem die sogenannten "Grandin Livestock Systems" (zu deutsch: Grandins Viehhaltungsmethoden). Dazu aber später mehr. 


"The Big Squeeze" - Temple Grandin, eine Erfinderin

Ihre Gabe, Tiere intensiv zu beobachten, analysieren und sich in sie hineinzuversetzen, sorgte dafür, dass sie gemeinsam mit einem ihrer Lehrer, eine Erfindung machte: "The Big Squeeze" (zu deutsch: die große Umarmung), eine Berührungsmaschine, die auf die Bedürfnisse autistischer Menschen abgestimmt ist. Die ganze Idee ist durch einen Zufall entstanden. Sie ist mit ihrer Tante im Auto unterwegs gewesen und an einer Weide vorbeigekommen, auf der gerade Rinder geimpft werden sollten. Um sie zu beruhigen, wurden sie in eine Maschine geführt, die von links und rechts geschlossen war und die sich an den Körper des Tieres drückten. Grandin war zunächst irritiert, theoretisch müsste es die Tiere ja verunsichern, wenn sie so zusammengepresst werden, aber das Gegenteil war der Fall - sie waren völlig tiefenentspannt. Daraufhin ist ihr aufgefallen, dass es auch im Alltag der Menschen häufig vorkommt, dass dieser Druck sogar angenehm ist, wie z. B. beim Tauchen, oder bei Massagen. Sie hat sich selbst in diese Maschine gestellt und festgestellt, dass das auch auf sie unglaublich beruhigend wirkte und angenehm für sie war. Das brachte sie auf die Idee, sich selbst eine solche Maschine zu bauen. 

Mit einem Kompressor, Sperrholzplatten und weichem Material, mit dem sie die Sperrholzplatten verkleidete, entwickelte sie eine bettähnliche Maschine, die so ähnlich funktionierte, wie die, in die die Kühe hineingeführt wurden. Der Druck war von demjenigen, der in dem Bett lag, selbst und beliebig anpassbar, je nachdem wie intensiv der Druck benötigt wurde. Bei diesem Druck handelt es sich um den sogenannten Tiefendruck, der beruhigend auf den menschlichen (und offensichtlich auch auf tierische) Körper wirkt. Das ganze fühlt sich an, wie eine feste Umarmung - ohne dass ein anderer Mensch daran beteiligt ist. Warum Tiefendruck derart entspannt, ist von der Wissenschaft noch nicht hinreichend erforscht. Temple Grandin jedenfalls half die sogenannte Umarmungsmaschine dabei, sich selbst zu beruhigen und aus Zuständen wie Reizüberflutungen wieder rauszukommen. Noch heute kann man solche Umarmungsmaschinen kaufen, bzw. gibt es jetzt die tragbare Variante als Druckweste.   


"Grandin Live Stock Systems"

Früher ist es in Schlachtbetrieben häufig zu Panikreaktionen bei den Tieren gekommen, die für die Betreiber vollkommen überraschend waren. In der Regel sahen sie überhaupt keinen Grund für die Reaktion des Tieres, sodass sie nicht in der Lage waren, die ungünstigen Bedingungen so zu verändern, dass die Tiere weniger Stress erleiden. Durch die spontane Panikreaktion ist es häufig zu Unfällen mit Mensch und Tier gekommen, die auch nicht selten tödlich geendet sind. Grandin hatte als Autistin die Erfahrung gemacht, dass sie sensorisch wesentlich empfindlicher war, als ihre neurotypischen Mitmenschen, und dass diese bestimmte Reize offenbar überhaupt nicht wahrnahmen oder ausblendeten. Sie verknüpfte ihre eigenen Erfahrungen mit der Tatsache, dass auch die Betreiber der Anlagen häufig nicht nachvollziehen konnten, was das Problem für die Tiere ist, und kam zu dem Ergebnis, dass offenbar auch Tiere wie Rinder, etc. eine extrem empfindliche Wahrnehmung haben. Sie geht davon aus, dass die Tiere nicht wissen, dass sie in den Tod gehen, ergo kann ihre Unruhe auch nicht durch die Angst vor dem bevorstehenden Tod ausgelöst werden. Sie ist zu dem Entschluss gekommen, dass es an den äußeren Reizen liegen muss, die die Tiere aus dem Konzept bringen. 

Temple Grandin hat daraufhin ihre Erfahrungen der Wahrnehmung auf die Tiere übertragen, ist in die Anlagen gegangen und hat dort analysiert, welche Einflüsse für die Tiere offenbar so schwer zu ertragen sind. Anschließend hat sie sich überlegt, was verändert werden müsste und hat eine Checkliste entwickelt, die den Betreibern helfen soll, den Blick des Tieres einzunehmen und die Stressoren abzustellen. Wer jetzt gehofft hat, einen Komplettüberblick über diese Maßnahmen zu erhalten, den muss ich leider enttäuschen. Es würde den Rahmen sprengen, komplett auf ihre Ansätze und Richtlinien einzugehen, darum werde ich mich auf ein paar einzelne Beispiele beschränken.
  • sie hat Hinweise gegeben, wie der Stressor des Tieres ermittelt werden kann (z. B. durch Beobachtung, in welche Richtung sich das Ohr bewegt)
  • sie hat Tipps gegeben, woran die Irritation des Tieres liegen könnte:
- rutschiger Boden, der vom Menschen nicht als rutschig wahrgenommen wird
- Oberflächen die Licht reflektieren (das kann stark irritieren!)
- Menschen in der näheren Umgebung, die das Tier irritieren (viele Tiere sind sehr scheu!)
- Veränderung der Lichtverhältnisse (es geht z. B. vom hellen ins Dunkle)
  • sie hat Ansätze geliefert, wie die Umgebung einer Schlachtanlage konstruiert werden muss, damit die Tiere nicht gestresst sind
Und der Erfolg gibt ihr Recht. In den Betrieben, in denen ihre Ratschläge umgesetzt werden, sind die Unfälle wirklich massiv zurückgegangen!


Fazit

Erinnert euch: die Eltern sollten sie auf Anraten der Ärzte in ein Heim geben, und dann hat sie Psychologie studiert und klärt in den verschiedensten Kontinenten Viehzuchtbetriebe darüber auf, was Tiere benötigen, um stressfrei geschlachtet zu werden! Garantiert hätte keiner der Ärzte ihr eine solche Entwicklung zugetraut. Und damit möchte ich meinen Beitrag heute beenden: Autismus ist keine Einbahnstraße! Betroffene können sich weiterentwickeln und über sich hinauswachsen. Glaubt niemals, dass ihr gewisse Dinge nie erlernen werdet, nur weil ihr Autismus habt. Es gibt immer die Möglichkeit, seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Wichtig ist aber, dass ihr, bzw. die Menschen um euch rum, an euch glaubt! Nehmt euch diese beeindruckende Frau und ihre Eltern zum Vorbild! Gebt nicht auf!! 

Habt einen schönen Tag!
Anne

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