Momente: wenn Alarmsignale das Gegenteil bewirken

Hallo!

Jeder von uns weiß, was zu tun ist, wenn in einem Gebäude der Feueralarm losgeht: Fenster zu und Attacke, dem nächsten ausgewiesenen Fluchtweg folgen und raus. Inzwischen als Erwachsene tue ich auch genau das, inzwischen bin ich sogar dafür zuständig, mit dabei zu helfen, die Kinder rauszubringen. Ich arbeite nämlich in einer Schule mit angebundenem Kindergarten und wenn jetzt Feueralarm kommt, ist es meine Aufgabe dort hin zu gehen und die Erzieher dabei zu unterstützen, die Kinder sicher nach draußen zu bringen. (Selbstverständlich nur, wenn ich mich nicht selbst dabei in Gefahr bringen würde, wenn ich von dort Rauch sehen würde, dann ist natürlich die Anweisung klar - auf direktem Wege raus.) Bisher war es aber Gott sei Dank noch nie echt, immer entweder Probe- oder Fehlalarm. 

So koordiniert war ich aber definitiv noch nicht immer. Während der Ausbildung und in meiner Schulzeit habe ich das Gegenteil von dem gemacht, was allgemeinhin bei Feueralarm so von einem verlangt wird: ich bin stocksteif stehen geblieben und habe erst einmal gar nichts mehr gemacht. Nicht dass ich nicht gewusst hätte was ich tun soll... Mindestens einmal im Jahr war Probealarm und zusätzlich wurden wir mehrmals im Schuljahr von unserer Klassenlehrerin belehrt, was bei einem Feueralarm zu tun ist. Das grundsätzliche Wissen war also da. Das Problem war ein ganz anderes:

- der Lärm (so ein Feueralarm ist natürlich extrem laut, damit ihn alle hören)
- der Schreck 
- das Ungewohnte (es ist ja nicht jeden Tag Feueralarm) 
- ich wurde aus etwas rausgerissen und musste urplötzlich von z. B. Mathe auf Notfall umschalten)
- die vielen anderen Schüler auf einem Haufen

haben mich derartig aus der Fassung gebracht, dass ich (erst mal) nichts mehr machen konnte. Meine Klassenlehrer wussten das aber natürlich und haben eine gute Lösung dafür gefunden. Bei mir hat es super funktioniert, wenn mich ein Klassenkamerad an die Hand genommen und einfach mitgenommen hat.  Manchmal hat meine Klassenlehrerin zusätzlich noch eine kurze Anweisung gegeben ("Geh raus!") In der Regel haben wir die Situation immer ganz gut über die Bühne gebracht. Es gibt aber viele Autist: innen, die von z. B. Feueralarm wirklich komplett überfordert sind. Der spontane und laute Reiz bringt sie so aus dem Konzept, dass sie im ungünstigsten Fall so starken Stress erleben, dass sie z. B. anfangen vor sich hinzuschaukeln oder im schlimmsten Fall sogar einen Shutdown bekommen und so komplett handlungsunfähig werden. Das kann richtig gefährlich werden! Ich möchte euch ein paar Tipps geben, wie solche Situationen für Autist: innen erträglicher gestaltet werden können, damit es gar nicht erst zu solchen extremen Reaktionen kommt.

Gehörschutz bereitlegen

Ich gehe jetzt einfach mal von der Situation: "Feueralarm während der Schulzeit" aus, aber ihr könnt diese Tipps logischerweise auch auf alle anderen Orte übertragen. Einer der heftigsten Stressoren ist definitiv die extreme Lautstärke. Darum lautet meine klare Empfehlung: es sollte immer ein Gehörschutz sofort griffbereit da liegen, zum Beispiel in der Schublade vom Lehrertisch oder irgendwo in Ausgangsnähe, zur Sicherheit sollte der Ablageort zusätzlich beschriftet sein, damit im Notfall auch Vertretungslehrer direkt wissen wo es ist und nicht erst anfangen müssen zu suchen. Feueralarm geht los: Gehörschutz geht sofort an den betroffenen Schüler. Denn wenn er sich nicht damit beschäftigen muss, den starken Reiz abzumildern, kann er sich auf das Wesentliche konzentrieren - nämlich raus gehen.

Social Story schreiben

Das ist natürlich nichts für eine Akutsituation, sondern dient dazu, den autistischen Menschen besser auf so eine Situation vorzubereiten. Wer mehr zu Social Storys erfahren möchte: ich habe bereits einen extra Beitrag zu diesem Thema geschrieben. Im Groben erklärt: Social Storys sind kurze, bildlich unterstützte Beschreibungen von außergewöhnlichen Situationen, auf die ein autistischer Mensch vorbereitet werden soll. Dabei wird darauf eingegangen, was passieren wird, was der autistische Mensch dabei empfinden könnte und was von ihm erwartet wird. Also am Beispiel Feueralarm: "Es kommt urplötzlich ein lautes Geräusch, vielleicht habe ich ein bisschen Angst, aber die Lehrkraft passt auf uns auf. Ich nehme meinen Gehörschutz und folge meinen Klassenkameraden nach draußen. Ich nehme nichts mit und achte auf die Anweisungen der Lehrkraft." Hier muss man natürlich schauen, wie ausführlich die Situation beschrieben werden muss, damit der Autist sie wirklich für sich nutzen kann, das ist jetzt ein seeehr simples Beispiel. Es kann helfen, wenn die Social Story mit beim Gehörschutz liegt und mit nach draußen genommen werden kann, damit der Schüler sich dort über die nächsten Schritte informieren kann. Wichtig ist natürlich, dass die Social Story mehrmals im Jahr gemeinsam mit dem Schüler durchgegangen wird, also ähnlich wie die jährlichen Belehrungen. 

Kürzeste Anweisungen verwenden

Beim Feueralarm treffen logischerweise zahlreiche Reize aufeinander, die der Schüler alle für sich verarbeiten und darauf reagieren muss. Eine extreme Herausforderung. In diesem Zustand ist der betroffene Mensch ggf. nicht in der Lage, wichtiges von unwichtigem zu unterscheiden, bzw. nimmt vielleicht von mündlichen Anweisungen nur die Hälfte wahr, weil der Rest ihn zu stark ablenkt. Darum ist es wichtig, ihm das Filtern zu erleichtern und nur das allernotwendigste an ihn heranzutragen. Am Besten funktioniert es, wenn man nur mit einzelnen Wörtern arbeitet, oder mit Zwei-Dreiwortsätzen: "Alle raus! Nichts mitnehmen! Sarah bei Max an die Hand!" Was sonst als unhöflich gewertet werden würde, ist in einer solchen Situation immens wichtig um sicherzustellen, dass keine wichtige Information auf dem Weg zum Gehirn verloren geht, weil zu viele Wörter darum herum sind, die durch das Wirrwarr an Reizen und den Stress gar nicht verarbeitet werden können. 

Möglichst keinen Körperkontakt verwenden

Mir hat es geholfen, dass ich an die Hand genommen wurde, weil ich einfach nur noch mitgehen musste, die Auswertung der Situation hätte viel zu lange gedauert. Meine neurotypischen Klassenkameraden waren damit meist schneller fertig und haben dann für mich die Führung mit übernommen. Ich konnte beruhigt auf Autopilot schalten und draußen auf dem Schulhof dann in Ruhe mit der Situation klarkommen. Hier sollte man aber unbedingt vorsichtig sein - viele Autist: innen mögen überhaupt keinen Körperkontakt und bekommen, wenn sie in einer solchen Stresssituation unerwartet berührt werden erst recht die Krise und die Situation eskaliert dann vollständig. Darum sollte man das wann immer möglich vermeiden. Ein einfaches "Komm mit!" kann einen schon aus der Schreckstarre lösen, man muss nicht zwingend mit Berührung arbeiten. Sinnvoll ist es, wenn man vorher, also z. B. bei den Belehrungen mit dem Schüler bespricht, ob es in Ordnung geht, wenn er berührt wird in solchen Situationen. Wenn es nicht anders gehen sollte, sollte man unbedingt die kommende Berührung ankündigen. "Ich nehme dich jetzt an die Hand!" Das ist übrigens auch sinnvoll, wenn es abgesprochen ist, dass das klar geht... 

Habt ihr noch irgendwelche Tipps? Was hilft euch bei Feueralarm oder ähnlichen Situationen um gut klar zu kommen? Bzw. an die Eltern / Familienangehörigen / Lehrer / Betreuer: welche Erfahrungen habt ihr gemacht, was euren autistischen Kindern hilft? Schreibt es gern in die Kommentare.

Habt einen schönen Tag!
Anne

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