Mögen sich alle Autist: innen?

Hallo!

Kennt ihr das folgende Sprichwort: "Gleich und gleich gesellt sich gern!" ? Damit soll ausgedrückt werden, dass Menschen, die ähnlich ticken, sich vielleicht mit dem gleichen Problem herumschlagen, das gleiche Hobby haben, oder vielleicht das gleiche Lieblingsessen haben, sich untereinander meistens recht gut verstehen. Hinter diesem Sprichwort steckt natürlich viel Wahres. Man kann sich zum Beispiel gegenseitig besser unterstützen, wenn man ähnliche Erfahrungen gemacht hat, außerdem hat man gemeinsame Gesprächsthemen und muss nicht erst krampfhaft überlegen, worüber man sprechen könnte, es ist auch vermutlich leichter, sich auf einen gemeinsamen Kinofilm zu einigen, etc. Eine gewisse Menge an Gemeinsamkeiten ist immer wichtig, damit man sich gut versteht, sozusagen die "Chemie stimmt". Menschen mit demselben Störungsbild (also z. B. Autismus) müssten sich doch dann eigentlich richtig gut verstehen, weil sie ähnlich "gestrickt" (meine Güte, ein dutzend Sprichwörter in diesem Beitrag...) sind. Oder vielleicht doch nicht? 

Was macht den gemeinsamen Umgang leichter?

  • die Toleranz für kleinere Macken oder z. B. Stimming ist wesentlich größer
Für neurotypische Menschen ist es meistens irritierend, wenn ein autistischer Mensch in ihrer Gegenwart nonstop vor sich hinsummt, mit den Armen wedelt oder irgendetwas anderes tut, was sie eher nicht gewohnt sind. Autistische Menschen sind da wesentlich toleranter - denn sie betreiben ja selber Stimming und wissen, wie wichtig dieses für das innere Gleichgewicht und die Selbstberuhigung sind, würden also niemals auf die Idee kommen zu ihrem Bekannten zu sagen: "Boah, jetzt lass das blöde Geschaukel doch endlich mal sein!" Autist: innen untereinander müssen sich nicht verstellen, das ist unglaublich angenehm. 
  • Autist: innen zwingen sich gegenseitig keinen Blickkontakt auf.
Unter nichtautistischen Menschen gilt es in der Regel als unhöflich, wenn man sich bei einer Unterhaltung nicht gegenseitig in die Augen sieht. Sie werten es als Desinteresse am Gespräch oder ihrer Person an sich, oder es wird gar als Unehrlichkeit des Gesprächspartners ausgelegt (kannst mir wohl nicht in die Augen gucken?). Die meisten autistischen Menschen mögen Blickkontakt überhaupt nicht, es strengt sie an oder lenkt sie bisweilen sogar auch vom Gesprächsinhalt ab. Autist: innen untereinander würden sich nie gegenseitig dazu auffordern, sie achten wenn es gut läuft nicht mal darauf, eine extreme Entspannung
  • Es wird untereinander weniger Wert auf Handlungen gelegt, die nur aus Höflichkeit getan werden.
Zu Gastfreundschaft gehört in der Regel, dass man seinen Gast regelmäßig fragt, ob er etwas bestimmtes braucht, noch etwas trinken möchte, man sollte ihm einen Stuhl anbieten, etc. Nicht falsch verstehen, ich halte sehr viel davon, seinem Gast zu zeigen, dass er bei mir willkommen ist. Autistische Menschen sind aber nicht die allerbesten Gastgeber. Viele autistische Menschen haben trotz intensiver Bemühungen ihrer Erziehungsberechtigten meist keinen vollständigen Überblick darüber, was zur Gastfreundschaft gehört. Sie wissen es vielleicht grundsätzlich, können es aber nicht so gut abrufen in der tatsächlichen Situation. Oder sie haben Schwierigkeiten zu erkennen, dass ihr Gast gerade ein Bedürfnis hat und fragen darum nicht nach. Oder sie sehen einfach nicht den Sinn dahinter, schließlich kann der Gast genauso gut auch sagen, was er braucht. Und genauso handhabe ich es zum Beispiel, wenn ich einen autistischen Menschen zu Besuch habe. Ich weise ihn darauf hin, dass ich nicht besonders gut darin bin Gastgeber zu spielen, aber ihm von Herzen gern alles gebe, wenn er mich darauf hinweist, dass er es benötigt. Es ist also einfach unkomplizierter. 
  • Man hat mehr Verständnis füreinander.
Wenn zwei Menschen gemeinsam unterwegs sind und Autist A sagt, dass er das Treffen jetzt beenden muss, weil er eine extreme Reizüberflutung hat, wird er bei einigen Neurotypen auf Unverständnis stoßen. "So schlimm kann das doch nicht sein, übertreib doch nicht so. Du wirst doch jetzt noch mit in das Café kommen können, dort ist es doch ruhig..." Natürlich ist nicht jeder neurotypische Mensch mega unsensibel, es gibt auch viele Neurotypen, die wirklich empathisch sind und die Grenzen ihres Gegenübers akzeptieren, vielleicht weil sie sich schon ein bisschen mit Autismus auskennen, leider ist das aber bei Weitem nicht bei allen neurotypischen Menschen der Fall. Es gibt leider immer noch viel zu viele, die solche Sätze äußern würden. Autistische Menschen dagegen haben in der Regel viel mehr Verständnis für das Empfinden des anderen, einfach weil sie diese Erfahrung selber bereits gemacht haben und wissen, wie beschissen sich ein solcher Zustand anfühlt. Sie würden vermutlich nie auf die Idee kommen, dem anderen zu unterstellen, dass er zu empfindlich ist...

Man kann also im Prinzip sagen, dass die Erwartungshaltung dem anderen gegenüber deutlich herabgesetzt ist. Das führt dazu, dass das Treffen für beide Parteien definitiv vermutlich entspannter wird, als wenn sie sich mit neurotypischen Menschen treffen. 


Eigene Erfahrungen diesbezüglich

Trotz der Fakten, die dafür sprechen, dass das Sprichwort zutrifft und autistische Menschen sich gegenseitig eigentlich alle gut verstehen müssten, habe ich durchaus gegenteilige Erfahrungen gemacht. Trotz desselben Störungsbildes kann es auch zwischen zwei Autist: innen richtig knallen und ein enormes Konfliktpotential herrschen. Das liegt schon alleine daran, dass sich Autismus unheimlich unterschiedlich auswirken kann - es wurde schließlich nicht umsonst in Autismus-Spektrums-Störung umbenannt. Der eine ist schwerer betroffen, kann nicht sprechen und hat eine Intelligenzminderung, ist aber super dazu in der Lage Blickkontakt zu halten, der nächste hat keine Intelligenzminderung, kann sprechen, ist dafür aber nicht in der Lage ohne 1:1 - Betreuung zu leben. Es gibt dutzende Ausprägungen vom Autismus. Zusätzlich kommt noch dazu, wie der autistische Mensch aufgewachsen ist und erzogen wurde. Das führt dazu, dass unterschiedlichste Stärken und Schwierigkeiten bestehen. An sich logisch, aber Autist: innen sind ja nun nicht gerade dafür bekannt, dass sie sich besonders gut in die Lage eines anderen hineinversetzen können. Ich ertappe mich zum Beispiel immer mal wieder dabei, dass ich denke: "Boah, das hätte man jetzt aber wirklich verstehen können, sooo schwer ist das jetzt auch wieder nicht", dabei aber vergessen habe, dass es nun mal ein Spektrum ist und nicht jedem dasselbe leicht fällt. 

Gleichzeitig sind natürlich auch nicht alle Charaktere identisch. Und manche Charaktere reiben sich nun einmal aneinander, es können sich ja auch nicht alle Neurotypen leiden, nur weil sie neurotypisch sind. Es gibt durch das gemeinsame Störungsbild wirklich viele Dinge, die ein gemeinsames Miteinander erleichtern, aber letztendlich ist es immer eine sogenannte 50:50 - Chance, ob man sich nun mag oder nicht, weil eben auch der Charakter eine unglaublich große Rolle spielt. 

Habt einen schönen Tag!
Anne   

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