Erkennen Autist: innen andere Autist: innen?

Hallo!

Zum Einstieg vielleicht gleich mal eine Frage an die hier mitlesenden Autist: innen, bzw. an Eltern autistischer Kinder: Seid ihr der Meinung, dass ihr andere Menschen als autistisch entlarven könnt? Eine spannende Frage, immerhin lebt man schon sein ganzes Leben mit dem Störungsbild, müsste also theoretisch die passenden Symptome in- und auswendig kennen und dann eigentlich auch bei anderen erkennen können...? Ich habe mir diese Frage auch schon gestellt und erwische mich immer mal wieder, wie ich andere Menschen beobachte und denke: "Mmh, irgendwie wirkt diese Person autistisch." Oder eine Person äußert den Verdacht, dass er vielleicht autistisch sein könnte und ich denke mir: "Niemals. Das passt null Komma gar nicht zu Autismus, wie die Person so tickt." Aber geht das wirklich?

Symptome von Autismus kommen auch bei Neurotypen vor.

Da fällt mir als erstes der Satz "Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?" ein, den einige autistische Menschen bereits von Neurotypen gesagt bekommen haben, nachdem sie sich "geoutet" haben. Über die Dämlichkeit dieses Spruches werde ich mich jetzt nicht auslassen, darüber habe ich bereits schon mal einen extra Beitrag geschrieben. Ja, es gibt einige Symptome von Autismus bzw. Verhaltensweisen von autistischen Menschen, die auch bei Nicht-Autisten vorkommen. Das kann zum Beispiel sein, dass Leute Schwierigkeiten haben, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, oder zum Beispiel ein starkes Bedürfnis nach Routine und Ritualen haben, oder sie vermeiden größere Menschenansammlungen, oder sie vermeiden Blickkontakt, etc. Ich würde behaupten kein einziges Symptom von Autismus ist alleine autistischen Menschen vorbehalten. Wir sind schließlich genau das, was Neurotypen auch sind: Menschen. Und Menschen haben nun mal bestimmte Verhaltensweisen, die sich überschneiden. Ergo: nur weil die Person ein oder zwei "typische" autistische Verhaltensweisen hat, muss er noch lange kein Autist sein! Das reine bemerken von Symptomen ist definitiv keine absolute Sicherheit, dass man gerade einen Autist vor sich hat.

Symptome von Autismus kommen auch bei anderen Störungsbildern vor.

Spontan fällt mir hier zum Beispiel Stimming ein, also bisweilen merkwürdiges bewegen von Fingern, Armen, Beinen, summen, immer wieder irgendwelche Geräusche machen, etc. Ähnliche Verhaltensweisen treten auch beim Tourette-Syndrom auf. Und trotzdem müssen sie nicht zwangsläufig autistisch sein. Gleichzeitig gibt es psychische Erkrankungen, die sich so ähnlich auswirken wie Autismus, aber völlig andere Ursachen haben. Ein Beispiel wären Persönlichkeitsstörungen, wie z. B. Borderline. Das hat übrigens auch zur Folge, dass zahlreiche Menschen von weniger qualifizierten Psychologen als Autist: innen diagnostiziert werden, obwohl sie überhaupt keine sind. Ein echtes Problem, denn wenn man mit der falschen Diagnose durchs Leben geht, erhält man unter Umständen eine völlig falsche Therapie... Das sprengt jetzt aber den Rahmen, ggf. schreibe ich mal einen extra Beitrag über das Thema Autismus vs. Persönlichkeitsstörung. Was ich aber damit sagen möchte: was aussieht wie Autismus, muss es nicht zwangsläufig sein. Er kann auch etwas ganz anderes haben.

Manche Autist: innen haben Masking perfektioniert.

Es gibt autistische Menschen, die auf den ersten Blick überhaupt nicht auffallen! Ratet mal, warum manche Menschen diese Diagnose erst im Erwachsenenalter bzw. in Lebenssituationen erhalten, wo ihr Leben völlig aus den Fugen gerät... Weil sie es perfektioniert haben, sich so an ihre neurotypische Umgebung anzupassen, dass sie nicht auffallen. Weil sie bewusst oder unbewusst irgendwann kapiert haben, dass es für sie vermeintlich stressfreier ist, wenn sie sich nicht merkwürdig verhalten. Bei diesen Menschen haben es selbst speziell ausgebildete Psycholog: innen wirklich Schwierigkeiten sie zu diagnostizieren. Aber nur, weil sie sich hervorragend anpassen können und nicht auffallen, heißt das nicht, dass sie keine Schwierigkeiten haben und ggf. sogar kräftig unter ihrem Autismus leiden... Autismus steht einem nicht auf der Stirn geschrieben, ergo ist es eigentlich ohne Diagnostik nicht möglich, dieses Störungsbild per se auszuschließen.

Fazit

Wenn autistische Menschen ein sogenanntes Autismus-Radar hätten, bräuchten wir kein langwieriges Diagnostikverfahren bzw. auch keine speziell geschulten Psycholog: innen mehr. Es würde reichen, wenn wir autistische Menschen hinsetzen, eine Person reinführen und dann fragen: "Hey - ist das ein Autist?" Sicher, es würde wesentlich schneller gehen und vielen Menschen auch die Schwellenangst vor der Diagnostik nehmen, denn es ist ja nichts anstrengendes oder schlimmes mehr dabei... Schön wäre es, aber wir haben nun mal keinen. Wir können Ähnlichkeiten zu uns selbst erkennen oder bestimmte Verhaltensweisen entdecken, die bei Autismus auftreten können, aber zweifelsfrei als Autist: in identifizieren? Nein, keine Chance. Aus diesem Grund kommt hier noch mein klarer Rat: wenn jemand anderes auf euch zukommt und euch von seinem Verdacht berichtet, dass er autistisch sein könnte: lasst euch auf gar keinen Fall dazu hinreißen, seinem Verdacht zuzustimmen oder abzuwiegeln. Wir können es nicht wissen, auch wenn wir noch so lange mit diesem Störungsbild leben! Macht demjenigen / derjenigen Mut, sich diagnostizieren zu lassen, empfehlt von mir aus auch die Stelle, die euch diagnostiziert hat, aber macht nicht den Fehler, aus dem Bauch heraus irgendetwas dazu zu sagen. Es könnte nämlich weitreichende Konsequenzen für diese Person haben.

Habt einen schönen Tag.
Anne
 

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