Verstärkersysteme - gut oder kontraproduktiv?

Guten Tag!
  • "Wenn du ohne Theater zu machen, auf den Pausenhof gehst, bekommst du einen Stern. Bei 5 Sternen geht die Oma mit dir ein Eis essen."
  • "Wenn du dir jetzt die Haare kämmen lässt, darfst du nachher ausnahmsweise 10 min länger Playstation spielen."
  • "Du bekommst diesen tollen Sticker, aber erst sprichst du mir nach!"
  • "Erst Zähneputzen, dann bekommst du das neue Computerspiel."
Sind wir mal ehrlich... Jedes Kind wurde von seinen Eltern schon einmal auf diese Weise bestochen, wenn es wirklich stur war und die Eltern mit logischen Argumenten einfach nicht mehr weitergekommen sind oder wenn es in dem Moment einfach massiv wichtig war, dass das Kind kooperiert, weil etwas unbedingt gemacht werden musste (z. B. beim Kinderarzt). Und das ist auch absolut in Ordnung. Wenn das ab und zu mal gemacht wird, schadet das einem Kind überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, in der Regel führt das einfach zu einer schnellen Deeskalation der unangenehmen Situation, in der bei ewigen Diskussionen ohnehin niemand als Gewinner daraus hervorgeht. Es gibt aber viele Lehrer, Schulbegleiter, Erzieher, Therapeuten oder Eltern, die diese Methode bei autistischen Kindern zum Dauereinsatz werden lassen. Sie arbeiten richtig offiziell mit sogenannten "Verstärkersystemen". 

Wie funktioniert ein solches Verstärkersystem und was soll es bewirken?

Ausgangssituation ist, dass das Kind ein unerwünschtes Verhalten an den Tag legt, bzw. sich weigert, Dinge zu tun, die von ihm eigentlich erwartet werden. Jetzt kommt der Verstärker ins Spiel. Die Bezugsperson überlegt: was könnte dieses Kind dazu bringen, das Verhalten abzustellen oder gewisse Dinge zu machen, die es eigentlich so nicht tun würde. Das kann eine kleine Süßigkeit sein, Sticker, die von dem Kind gesammelt werden, eine bestimmte Aktivität (Ausflug mit den Eltern, Eis essen gehen, schwimmen gehen, Mandala malen, etc.), oder, wie in der ABA-Therapie auch als Verstärker eingesetzt: Rückzugsgewährung. Wenn das Kind gut mitgemacht hat, darf es sich für ein paar Minuten zurückziehen und Dinge tun, die von ihm als entspannend wahrgenommen werden. Also einfach ausgedrückt: Was muss ich dem Kind anbieten, damit es über seinen Schatten springt und das tut, was von ihm erwartet wird. Wenn das klar ist, spricht die Person mit dem Kind und stellt mit ihm einen entsprechenden Plan auf. Dem Kind wird vermittelt, an welche Regeln es sich halten soll und dann wird dem Kind erklärt, wie oft es sich an diese Regeln halten muss, damit es diesen Verstärker erhält. 

In der Regel läuft das so ab, dass man eine Tabelle hat (Mo - So, bzw. Mo - Fr.) und dazu in einer extra Spalte die Regeln, die das Kind einhalten soll. Wenn das Kind es schafft, sich daran zu halten, bekommt es entweder einen Stempel in das Kästchen oder es darf einen Smiley reinmalen oder so. Damit einfach sichtbar ist: hey, hier war ein Erfolg/die Teilvoraussetzung wurde erfüllt. Das Kind soll auf diese Weise verstehen: wenn ich mich so verhalte, bringt mir das Vorteile. Es ist gut für mich, auch wenn es mir ggf. eher missfällt! Wenn die Regel nicht eingehalten wurde, dauert es in der Regel einfach länger, bis das Endziel erreicht wird, weil ja schließlich die entsprechende Anzahl an Stempeln fehlt. Es gibt aber auch Verstärkersysteme, in dem bei Fehlverhalten erreichte Erfolge wieder entfernt werden, wodurch es dann logischerweise noch länger dauert. 

Vorteile eines Verstärkersystems
  • 1. Das Kind kooperiert mehr oder weniger freiwillig.
Dadurch, dass es sich für das Kind durch die in Aussicht gestellte Belohnung lohnt, das Verhalten an den Tag zu legen, wird es vermutlich ohne große Diskussion oder Streit kooperieren. Die Belohnung wiegt bei der Entscheidung "Tue ich das, was mir besser gefällt - auch wenn es eher unerwünscht ist, oder möchte ich die Belohnung haben und überwinde mich dazu mein Verhalten zu ändern!" natürlich schwerer, wenn sie nur motivierend genug ist. Dadurch ist es wesentlich stressfreier, vor allem für die Person, die das Verstärkersystem anwendet.
  • 2. Es ist eine Variante, wie auch Menschen, die den Sinn und Zweck der Regeln nicht verstehen, effektiv dazu gebracht werden können, sie einzuhalten.
Je nachdem wie kleinschrittig man aufschlüsselt, was die Person tun / lassen soll, müssen die Regeln nicht verstanden werden. Das Verstärkersystem ist also eine Variante, wie man auch kognitiv eingeschränkte Menschen dazu bringen kann, sich "gut" zu verhalten. Vielleicht verstehen sie auch den Sinn und Zweck des Systems nicht (ihnen angemessenes Verhalten beizubringen) und möglicherweise auch nicht, warum sie das tun sollen, aber sie tun es trotzdem, denn es ist recht einfach zu verstehen. Es ist ein simples entlang hangeln an einer kleinschrittigen Checkliste, für deren erfolgreiches abarbeiten es eine Belohnung gibt.
  • 3. Mit der Zeit bemerken die Betroffenen durch Reaktionen aus dem Umfeld, warum es sich auch ohne die Belohnung lohnt, die Regeln einzuhalten.
Klar, vordergründig wird das Kind das erwünschte Verhalten erst einmal nur machen, weil es die Belohnung gibt. Aber wenn es sich gesellschaftlich angemessen verhält, kommen auch automatisch Reaktionen aus dem Umfeld. Man wird vielleicht gelobt, die Lehrerin meckert nicht so viel, die anderen Kinder spielen viel lieber mit dem Kind, ... Und das sind ja auch alles Punkte, die durchaus reizvoll sein können. Gerade bei autistischen Menschen ist aber absolut nicht gesagt, dass diese Erkenntnis jemals erreicht wird, da soziale Dinge für sie eine eher untergeoordnete Relevanz haben. 

Nachteile / Kritik am Verstärkersystem
  • 1. Das Kind bekommt eine gewisse Extrastellung.
Gerade im Klassenverband kann es zu Konflikten führen, wenn nur ein oder vielleicht zwei, drei Kinder mit einem solchen Verstärkersystem arbeiten. "Die Regeln gelten für alle und es wird vorausgesetzt, dass alle sich automatisch daran halten, aber das eine Kind bekommt eine Belohnung? Wir kriegen doch auch nichts!! Irgendwie unfair..." Das ist natürlich auch nicht gerade das, was zu einer besseren Eingliederung im Klassenverband führt, wenn ein Kind immer eine Extrawurst bekommt. Natürlich kann man den Kindern erklären, dass der Louisa und dem Moritz schwer fällt, sich an diese Regeln zu halten und man es deswegen besonders belohnen muss, wenn sie es schaffen, aber ob die Kinder das dann auch nachvollziehen können? 
  • 2. Es bedeutet für das Kind eine massive Anstrengung.
Dem Kind fällt es offenbar massiv schwer, gewisse Verhaltensweisen an den Tag zu legen oder abzustellen, sonst würde es den Verstärker überhaupt nicht brauchen. In der Schule zum Beispiel: das Kind muss sich auf den Unterricht konzentrieren, die vielfältigen Reize irgendwie verarbeiten, muss zwangsläufig mit anderen Kindern und Erwachsenen umgehen. Ja, auch neurotypische Kinder müssen das tun, autistische Menschen haben aber in der Regel massive Probleme mit sozialen Situationen und haben zusätzlich eine Reizfilterschwäche, die es ihnen so gut wie unmöglich macht, unwichtige Dinge einfach auszublenden. Sie erleben also schon mal eine wesentlich größere Anstrengung in der Schule als das bei ihren neurotypischen Klassenkameraden der Fall ist. Tja... und dann müssen sie sich auch noch darauf konzentrieren, wie sie sich verhalten! Offensichtlich können sie das nicht intuitiv, sie benötigen also noch einmal zusätzlich eine extreme kognitive Leistung. Am Ende des Tages werden die Kinder also massiv erschöpft sein und vielleicht sogar einen Meltdown oder Shutdown erleiden.
  • 3. Es wird überhaupt nicht auf das Kind eingegangen.
Meines Erachtens geht es bei dieser Methode hauptsächlich darum, es dem Erwachsenen so bequem wie möglich zu machen, weil das Kind so wesentlich angepasster ist und vermutlich auch weniger Probleme macht. Dadurch versteht das Kind aber noch lange nicht, warum es so überhaupt agieren soll. Es lernt nur, automatisch einer Liste an Forderungen nachzukommen. Viel besser wäre es doch, wenn man sich die Zeit nimmt und dem Kind erklärt, was es für Vorteile hat, sich an die Regeln zu halten. Einem weniger eingeschränkten Kind kann man auch die Aufgabe geben, herauszuarbeiten, was unabdingbar ist, damit alle Kinder vernünftig lernen können. Oder man macht es als Gruppenarbeit: "Was brauchst du, damit du dich gut konzentrieren kannst", oder man spielt mit der Klasse durch, was unterschiedliche Verhaltensweisen für Auswirkungen haben. Mal drehen alle am Rad und müssen gleichzeitig eine bestimmte Aufgabe erfüllen, mal verhalten sich alle so, wie sie sollen und müssen eine Aufgabe erfüllen und dann wird analysiert. Es gibt so viele andere Möglichkeiten, wodurch das Kind wenigstens eine reale Chance hat, überhaupt zu verstehen, warum es etwas tun soll. Und wenn es das erst einmal verstanden hat, braucht es auch nicht mehr diese kleinschrittigen Belohnungen.

Fazit

Belohnungssysteme können durchaus sinnvoll sein. Zum Beispiel wenn das Kind die Regeln bereits verstanden hat, aber noch Schwierigkeiten hat, sie umzusetzen, weil das einfach eine Gewöhnungssache ist. Aber eben auch nicht ewig und schon gar nicht mit Strafen. Wenn etwas mal nicht funktioniert hat, dann ist es halt so - es gelingt doch auch neurotypischen Kindern nicht immer, sich absolut regeltreu zu verhalten. Dann sollte es aber meines Erachtens auch nicht besonders thematisiert werden, denn das Kind weiß in der Regel bereits, dass das nicht so genial war, was es gemacht hat. Ein einfaches Feedback: "Das hat mir heute nicht so gut gefallen, morgen läuft es besser, dafür hat das gut geklappt." 

Insgesamt finde ich Verstärkersysteme aber eher grenzwertig, weil sie in der Regel nur dazu da sind, dass das Kind keine Probleme macht, ernsthafte Vorteile für das Kind direkt bringt es in der Regel nicht mit sich. Wenn dann auch noch Strafen dazu kommen, wenn die Einhaltung nicht funktioniert, oder das Kind so lange gegängelt wird, bis es sich daran hält, wird es zusätzlich auch noch absolut gefährlich. Viel lieber sollte man schauen, wie man dem Kind auf andere Art und Weise vermitteln kann, was gewünscht ist.

Habt einen schönen Tag.
Anne 

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