Münsteraner Intensivprogramm für Kinder mit ASS (MIA)

Hallo!

Ich habe neulich bei Twitter von einer Therapie für autistische Kinder im Vorschul-, bzw. Grundschulalter gelesen: MIA - das Münsteraner Intensivprogramm für Kinder mit einer Autismus-Spektrums-Störung. Leider ist die Informationslage zu diesem Therapieprogramm ziemlich dürftig, aber alles was ich dazu gefunden habe, erinnert mich sehr stark an ABA (Applied Behavior Analysis - eine Verhaltenstherapie die darauf setzt, Kinder im Autismus-Spektrum solange zu trainieren, bis sie nahezu sämtliche autistische Verhaltensweisen abgelegt haben) und lässt damit bei mir sämtliche Alarmglocken angehen. Wer mehr zu ABA erfahren möchte: ich habe bereits einen ziemlich umfangreichen Beitrag dazu geschrieben. 

Was ist MIA überhaupt?

Diese Therapieform wurde 2010 an der Fachhochschule Münster entwickelt, seit 2015 arbeitet die Fachhochschule bei der Durchführung intensiv mit dem Münsteraner Autismus-Kompetenzzentrum zusammen. Es handelt sich bei MIA um eine Form der intensiven Verhaltenstherapie. Sie soll dafür sorgen, dass die Beeinträchtigungen durch den Autismus von Anfang an niedrig gehalten werden und Entwicklungsverzögerungen aufgeholt werden. Das Kind wird ein halbes Jahr lang in seinem vertrauten Umfeld (Kindergarten und Zuhause) intensiv gefördert. Und mit intensiv meine ich auch intensiv - nämlich sage und schreibe 30 h in der Woche - 6 Stunden pro Tag!! Damit die Kinder derart intensiv betreut werden können, sind natürlich viele Mitarbeiter erforderlich - so viele, dass es unmöglich zu bewerkstelligen wäre, wenn man nur speziell geschulte Psychologen zu den Kindern schicken würde. Darum kommen Studenten der Hochschule zum Einsatz. Den Therapieplan entwerfen Psychologen, mit den Kindern gearbeitet wird dann letztendlich aber in der Regel mit ebendiesen Studierenden bzw. auch den Eltern, wenn die Studenten mal nicht können. 

Die Idee der Therapie ist: je früher und intensiver das Kind gefördert wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, desto besser ist es für das weitere Leben des Kindes. Die meisten Kinder, die mit dem Münsteraner Intensivprogramm betreut wurden, haben tatsächlich massive Fortschritte während der Therapie gemacht, was aber meines Erachtens logisch ist. Wenn man permanent mit denselben Aufgaben bombardiert wird, kapiert man irgendwann was man tun muss, damit man in Frieden gelassen wird. Nach dem wenigen was ich an Material gefunden habe, läuft die Therapie so ab: Student macht etwas vor, Kind muss es nachmachen, das wird solange wiederholt, bis es das Kind begriffen hat.

Was sollte man kritisch betrachten?
  • Kosten der Therapie
Eltern von Kindern die mit MIA betreut werden sollen, müssen einen pauschalen Eigenanteil von 1800 Euro bezahlen. Der hohe Betrag kommt sehr wahrscheinlich durch die Personalkosten zustande. Schließlich sind eine Menge Menschen nötig, um überhaupt eine solch zeitaufwändige Therapie durchführen zu können. Es ist möglich einen Antrag auf Eingliederungshilfe zu stellen, sodass die Kosten dann übernommen werden, allerdings wird bei Weitem nicht jeder Antrag bewilligt... Eltern müssen also ziemlich viel Geld aufwenden. Autismusspezifische Frühförderung, Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, etc. dagegen werden ausnahmslos von der Krankenkasse übernommen. Wenn nachgewiesen wäre, dass die Therapie wirklich nachhaltig funktioniert und dem Kind gut tut, würde sehr wahrscheinlich doch auch MIA übernommen werden?! 
  • Es gibt unglaublich wenige Informationen zu dieser Therapie.
Als Eltern hat man eigentlich so gut wie keine Möglichkeit, sich mal intensiv mit der Therapie zu beschäftigen. Also mit den Vorgehensweisen, den Erfolgen, die die Therapie bringen kann, einem gewöhnlichen Ablauf, etc. Bei jeder gewöhnlichen Therapieform kann man doch vorher googlen was einen (bzw. das betroffene Kind) erwartet und wie gearbeitet wird, bei MIA findet man dazu eigentlich gar nichts. Außer eben der Information, dass im gewohnten Umfeld gearbeitet wird und meist durch Studenten umgesetzt wird. Selbst den Therapieumfang (30 h / Woche) habe ich erst nach intensivem Suchen gefunden. Das finde ich ehrlich gesagt massiv bedenklich. Die Eltern haben so eigentlich keine Chance, schon einmal herauszufinden, ob sie das überhaupt für ihr Kind wollen und für sinnvoll erachten. Sie müssen sich aktiv melden um eine Beratung zu bekommen, um konkretere Informationen zu erhalten. Und ob die Eltern da nicht teilweise beeinflusst werden...?
  • Die Kinder werden nicht von ausgebildeten Fachkräften betreut. 
Das ist ein weiterer Punkt, den ich schwierig finde. Ja, der Therapieplan wird von Psychologen entworfen und die Studierenden bekommen direkt Einblick und praktische Erfahrung in den zukünftigen Berufsalltag. Aber: sind die Studierenden in der Lage zu erkennen, wann das Kind überfordert ist? Gerade bei autistischen Kindern ist das Risiko einer Reizüberflutung immens groß (besonders bei der Überspülung mit Therapieangeboten), gleichzeitig merkt man ihnen das aber gar nicht immer rechtzeitig an... Die Kinder können dadurch derartig überfordert werden, dass sie in Shutdown oder Meltdown landen - ein massiv anstrengender Zustand, der zum Teil auch zu selbst- und fremdgefährdendem Verhalten führen kann! 

  • Ständig Unsicherheit durch fremde Menschen in einem Umfeld, dass Sicherheit geben sollte
Die Studierenden und Psychologen dringen in die Privatsphäre des Kindes ein. Das Zuhause soll doch ein Ort der Sicherheit sein: "hier kann mir nichts passieren, hier darf ich sein wie ich bin" und vor allem der Entspannung dienen. Da die Therapie aber im Zuhause des Kindes stattfindet, verknüpft es das nicht mehr überwiegend mit den positiven Gefühlen, sondern mit Druck, Anstrengung und Stress und kommen im ungünstigsten Fall überhaupt nicht wirklich zur Ruhe!! Dazu kommt, dass gerade autistische Menschen häufig massive Probleme im Umgang mit Menschen haben. Sie vertrauen in der Regel nur einer Hand voll Menschen. Bei MIA werden ihnen diese Menschen einfach übergeholfen, ohne dass sie eine wirkliche Chance haben, etwas dagegen zu unternehmen.
  • Ständige Überforderung
Dadurch, dass das Kind ständig gegängelt wird von den Therapeuten und Dinge tun muss, die ihm schwer fallen, gewinnt das Kind den Eindruck: "Ich bin nicht gut so, wie ich bin. Ich muss mich ständig anpassen und vor allem bin ich nicht gut genug, ständig muss ich Dinge wiederholen, weil ich sie nicht richtig gemacht habe." Ein Gedanke der Gift ist, gerade für autistische Menschen. Zusätzlich ist es massiv anstrengend, weil die Kids kaum die Möglichkeit auf Rückzug und Erholung haben... Stellt euch doch nur mal vor, ihr bekämt mehrere fremde Menschen vor die Nase gesetzt, die permanent Dinge von euch verlangen, für die ihr euch ggf. verbiegen müsst, aber die ihr mindestens überhaupt nicht gut könnt... 6 Stunden pro Tag!! Und ihr habt keine Chance etwas dagegen zu unternehmen! Also ich persönlich würde irgendwann durchdrehen. 

Ich habe wirklich absolut nichts gegen Förderung von Kindern (besonders wenn eine Beeinträchtigung vorliegt), das ist richtig und wichtig um sie voranzubringen und dafür zu sorgen, dass sie im Alltag möglichst wenig Schwierigkeiten haben. Eine gewöhnliche Therapie dauert aber maximal eine Stunde und das meistens auch nur 2x pro Woche. Eben genau aus dem Grund, weil die Kinder nicht überfordert werden sollen. Bei MIA ist eigentlich völlig egal, dass die Kinder nach einem solchen Therapietag massiv erledigt sind. Es geht nur darum das Kind auf Biegen und Brechen zu fördern und Auffälligkeiten zu minimieren. Mag die Therapie auch noch so spielerisch gestaltet sein - es ist und bleibt Schwerstarbeit für die Kinder. Dass das ignoriert wird, spricht leider dafür, dass es nicht darum geht dem Kind zu helfen, sondern eher den Eltern. Das Kind soll so zurechtgebogen werden, dass es im Alltag möglichst wenig Probleme macht. 

Fazit

Das Münsteraner Intensivprogramm für Kinder mit einer Autismus-Spektrums-Störung geht meines Erachtens verdammt in Richtung ABA und ist damit absolut nicht gut für das betroffene Kind. Ich kann jedem Elternteil nur abraten, sein Kind bei einer solchen Therapie anzumelden. Es schadet wesentlich mehr als es nützt. Zumal man immer im Hinterkopf behalten muss: der Autismus wird durch MIA nicht geheilt. Das Kind lernt lediglich: ich muss das tun oder unterlassen, um den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und nicht mehr überfordert zu werden. Es wird quasi dressiert. Aber die betroffenen Kinder werden die Dinge, die sie gelernt haben quasi niemals intuitiv und freiwillig tun, weil sie begriffen haben, was sie tun. Und welches Elternteil möchte schon ein dressiertes Kind? Dann lieber nutzt man doch die klassischen Therapien, es dauert vielleicht ein bisschen länger bis Fortschritte zu verzeichnen sind, aber das Kind wird nicht unter Druck gesetzt und verbogen...

Habt einen schönen Tag!
Anne


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