Gedankenspiel: Autismusdiagnose noch vor Geburt - sinnvoll?

Hallo!

Vor ein paar Tagen habe ich bereits über eine Studie berichtet, bei der Ärzte versucht haben, anhand körperlicher Anomalien von Ungeborenen die Wahrscheinlichkeit an Autismus zu erkranken zu berechnen. Wer diesen Beitrag noch nicht gelesen hat, bzw. sich nicht so sehr für Studien interessiert: es ist salopp gesagt ein "Glücksspiel", ob die Vorhersagen zutreffen oder nicht, da Autismus nachwievor hauptsächlich über Verhaltensbeobachtungen/Befragungen diagnostiziert wird. Aber wie wäre es denn mal mit einem Gedankenspiel... Angenommen es gäbe die Möglichkeit Autismus doch im Mutterleib diagnostizieren zu können (jetzt mal völlig unabhängig davon, wie realistisch das ist): wäre das hilfreich, oder vielleicht sogar verwerflich, solche Untersuchungen durchzuführen? 

Das Untersuchungsergebnis würde nichts an der Tatsache ändern.

Was man unbedingt wissen sollte, bevor man so ein Gedankenexperiment macht: Autismus ist nicht heilbar. Es gibt Krankheiten/Störungsbilder, da ist es enorm hilfreich, wenn man bereits vor der Geburt weiß, dass eine bestimmte Behinderung/Krankheit vorliegt, da dort bereits nach der Geburt direkt Maßnahmen ergriffen werden können. Oder die Hebamme zum Beispiel weiß, dass sie sich auf Schwierigkeiten beim Geburtsvorgang einstellen muss. Bestimmte Entwicklungsstörungen (z. B. DYT5b-Dystonie) kann man sogar im Mutterleib behandeln, wenn man das Ungeborene mit einem bestimmten Medikament behandelt (es wird der Mutter verabreicht, was logischerweise auch einen gewissen Einfluss auf das Baby hat) - die betroffenen Kinder haben sich nach dieser Behandlung vollkommen "normal" entwickelt. In so einem Fall ist eine solche Diagnostik natürlich goldwert. Es gibt aber eben auch Erkrankungen, die man zwar diagnostizieren kann, aber die trotzdem nicht heilbar sind. Dazu gehört nun einmal Autismus. Was sollen die Eltern dann also mit dem Wissen, dass ihr Kind Autismus hat, anfangen? Es macht sie nur unnötig verrückt.

Es ist völlig unklar, wie sich das Kind tatsächlich entwickeln wird.

Dieses Argument fällt wieder in die Kategorie: "Eine Vorab-Diagnose macht die Eltern nur verrückt." Ein Beispiel wäre Trisomie 21: es gibt Betroffene, die brauchen rund um die Uhr Betreuung und Beaufsichtigung, haben extreme gesundheitliche Probleme und können überhaupt nichts alleine, und wieder andere leben nahezu selbstständig und benötigen nur ab und zu Unterstützung. Genauso ist es auch bei Autismus. Nur anhand der Diagnose Autismus lässt sich überhaupt nicht ableiten, wie stark der Autismus sein wird. Es gibt sogar Betroffene, die werden erst im Erwachsenenalter oder sogar gar nicht diagnostiziert, weil sie kaum auffällig sind bzw. nur ganz wenig Probleme haben. Es gibt also meines Erachtens keinen nennenswerten Erkenntnisgewinn für die Eltern.

Das Kind könnte unterschätzt werden.

Wenn man bereits vor der Geburt weiß, dass das Kind Autismus hat, und man ignoriert zusätzlich die Tatsache, wie unterschiedlich autistische Menschen entwickeln, kann es passieren, dass man dem Kind wesentlich zu wenig zutraut. Zum Beispiel könnten Eltern auf die Idee kommen, ihr Kind nicht in eine Kita zu geben, weil autistische Menschen Probleme mit Reizüberflutung haben und es in einem Kindergarten immer so trubelig ist. Oder das Kind wird von Anfang an in eine Förderschule gegeben, weil manche Autisten zusätzlich unter Intelligenzminderung leiden - dabei wäre das Kind ein super erfolgreicher Gymnasiast. Außerdem könnte es passieren, dass das Kind quasi wie ein "rohes Ei" behandelt wird, weil die Eltern ihm jegliche Schwierigkeiten ersparen möchten. Ja, gut - diese Beispiele sind alle recht überspitzt, aber das Risiko, dass die betroffenen Sprösslinge so behandelt werden, ist bei vielen Familien auf jeden Fall gegeben - und das ist ja nun wirklich nicht förderlich, da dem Kind so die Chance genommen wird, sich weiterzuentwickeln.

Gäbe es Vorteile einer solchen "Vorab-Diagnose"?

So richtig ernsthafte Vorteile, die eine Autismusdiagnose im Mutterleib mit sich bringen würden, fallen mir ehrlich gesagt nicht ein, so sehr ich auch darüber nachdenke und welche finden will. Dafür sind die Auswirkungen, die Autismus auf die Betroffenen hat, viel zu unterschiedlich und die Möglichkeiten positiv auf die Entwicklung des Kindes einzuwirken, wenn man den Autismus eher kennen würde, viel zu gering. 

Was müsste sichergestellt werden, wenn eine solche Diagnostikform eingeführt werden würde?

  • Es darf keine Pflichtuntersuchung werden.
Die Eltern sollten in jedem Fall selbst darüber entscheiden dürfen, ob sie wissen wollen, ob ihr Kind Autismus haben wird oder nicht. Schließlich wäre die Entwicklung des Kindes auch mit der Diagnose immer noch ein absolutes Überraschungspaket. Außerdem hat Autismus sehr selten Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes und eine Diagnose kann nachwievor auch im Kindes-/oder Erwachsenenalter gestellt werden vermutlich. Daher hätte es keinerlei negativen Auswirkungen auf das Kind, wenn die Eltern die Diagnose noch nicht wüssten. 
  • Eine Autismusdiagnose darf auf keinen Fall ein Grund für Abtreibung sein.
Es gibt Krankheiten oder Behinderungen, die im Mutterleib diagnostiziert werden können, die leider Gottes eine straffreie Abtreibung auch nach einer gewissen Schwangerschaftswoche ermöglichen. Darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben, wie gerechtfertigt das wirklich ist. Da das Spektrum bei Autismus aber unglaublich umfangreich ist, und es zum Beispiel keinesfalls sicher ist, dass das Kind ein "Pflegefall" wird, sondern es sich mit gewisser Unterstützung nahezu normal entwickeln kann, wäre eine Abtreibung aus diesem Grund absolut ungerechtfertigt. 
  • Die Eltern müssen umfassend beraten werden.
Dazu gehört zum einen, dass ihnen vor der Entscheidung, ob die Untersuchung durchgeführt werden soll, klar gemacht wird, dass ihre Entscheidung keinerlei Einfluss auf die spätere Entwicklung haben wird. Zum anderen müssen die Eltern aber auch, falls die Diagnose gestellt wird, genau wie bei der aktuellen Diagnostik umfassend darüber aufgeklärt werden, was es überhaupt mit Autismus auf sich hat. Welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt, wie sich die Kinder entwickeln können, etc. Sie dürfen auf gar keinen Fall allein gelassen werden.

Fazit

Insgesamt bin ich glaube ich ganz froh, dass es bisher keine Möglichkeit gibt, Autismus bereits im Mutterleib zu diagnostizieren. Ich sehe keine besonderen Vorteile darin, den Autismus bereits vor der Geburt festzustellen, da spezielle Förderungen ohnehin erst ab einem gewissen Alter Sinn machen. Ein Baby zum Beispiel profitiert noch nicht von Autismustherapie, weil es noch gar nicht in der Lage ist, die Eindrücke, die ihm vermittelt werden sollen, zu verarbeiten. Es hilft auch den Eltern nur bedingt in ihrer Erziehung weiter, weil ohnehin individuell geschaut werden muss, was das Kind benötigt. 

Verwerflich wäre eine solche Diagnostik aber meines Erachtens auch nicht. Es gibt Nachteile, die eine solche Diagnose im Säuglingsalter mit sich bringen würde (wie oben beschrieben), aber die Untersuchung wäre vermutlich nicht gefährlich und würde bei geeigneter Beratung auch für das Kind keine unfassbar starken Benachteiligungen mit sich bringen. Insgesamt würde ich das Gedankenspiel so vollenden: könnte man machen, muss man aber nicht.

Wie seht ihr das? Hättet ihr als Eltern schon vor der Geburt eures kleinen Wesens gewusst, dass es Autismus haben wird? Bzw. wie sehen das die AutistInnen, die hier mitlesen? Habt einen schönen Tag!
Anne

 

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