Autismus und Weglauftendenzen

Guten Tag!

Laut einer Studie aus New York aus dem Jahr 2016 leiden von allen Kindern, die in den USA zeitweise verloren gehen, mindestens 25 % unter einer Autismus-Spektrums-Störung oder anderen Entwicklungsstörungen. Besonders häufig sind Kinder im Alter von 6 - 11 Jahren betroffen, danach nimmt das Risiko glücklicherweise etwas ab, wenngleich es auch nicht ausgeschlossen ist. Glücklicherweise sind nicht alle Autisten von dem Phänomen betroffen, aber es gibt wirklich sehr viele autistische Menschen, die eine sogenannte Weglauftendenz haben. Wenn eine zusätzliche geistige Behinderung vorliegt, ist das Risiko, dass die Kinder einfach ihr eigenes Ding machen und plötzlich verschwinden sogar noch größer. 

Was sind Weglauftendenzen?

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind mit Ihrem autistischen Kind gemeinsam auf dem Spielplatz. Bis eben war das Kind noch im Sandkasten beschäftigt und glücklich und zufrieden und urplötzlich steht es auf und läuft einfach los, weil es auf der anderen Straßenseite etwas interessantes gesehen hat. Oder Sie haben das Kind nur eine Sekunde aus den Augen gelassen, weil der Kuchen aus dem Ofen geholt werden muss und plötzlich steht die Haustür weit offen und das Kind ist weg. Oder Sie sind vielleicht Lehrerin in einer Schule und auf einmal macht sich das Kind aus dem Staub - Klassenzimmertür auf und der Schüler macht einen Spaziergang durchs Schulhaus. Vielleicht gehen Sie mit dem Kind gerade spazieren, alles ist gut, und auf einmal reißt sich das Kind von der Hand los und läuft zu dem Hund in 300 Meter Entfernung, den es jetzt und sofort streicheln muss. Der Straßenverkehr ist ihm völlig egal. Ich vermute, dass diese Situationen ganz gut beschreiben, was Weglauftendenzen sind. Wenn betroffene Eltern noch weitere Situationen auf Lager haben, die dieses Phänomen erklären, schreibt es gern in die Kommentare.

Warum laufen die Kinder weg?

Ganz wichtig: die allerwenigsten betroffenen Kinder flüchten vor ihren Erziehungsberechtigten, weil sie Angst vor ihnen haben oder gerade etwas schlimmes passiert ist. Viel realistischere und häufigere Gründe sind folgende:
  • Das Kind hat einen starken Bewegungsdrang und kann es in geschlossenen Räumen nicht so gut aushalten, bzw. sind ihm die Begleiter vielleicht zu langsam, auf einem Spaziergang.
  • Das Kind vergisst einfach, dass es noch seine Eltern "im Schlepptau" hat und läuft dorthin, wo ihm es gerade gut gefällt. Bei Kindern, die sich leicht ablenken lassen, kann das durchaus vorkommen.
  • Es ist etwas spannendes auf der anderen Straßenseite, das muss man sich doch mal genauer anschauen.
  • Man wird doch mal einen Spaziergang machen können...
  • Das Kind leidet gerade unter einem bestimmten Reiz in seiner Umgebung und will diesem entgehen, in dem es den Raum/das Gebäude einfach verlässt.
  • Es scheitert an der Perspektivübernahme. Dem Kind ist überhaupt nicht klar, dass die Eltern nicht wissen, wo es hingeht (es selbst weiß es ja schließlich).
Ganz oft, kommt es aber auch vor, dass dem Weglaufen überhaupt keine logische Situation vorausging, sodass Eltern oft überhaupt keine Chance haben, vorherzusehen, dass das Kind gleich verschwindet. Aus diesem Grund kann man den betroffenen Eltern auch definitiv nicht den Vorwurf machen, dass sie nicht ausreichend auf ihre Sprösslinge aufpassen. Auf Nachfrage wissen die Kinder nämlich teilweise selbst nicht, warum sie losgestiefelt sind.

Welche Gefahren ergeben sich durch die Weglauftendenzen?

Nicht nur, dass man logischerweise teilweise gar nicht weiß, wo man das Kind suchen soll (wenn es keine bestimmten Lieblingsplätze hat), die meisten autistischen Kinder haben auch ein super schlechtes Gefahrenbewusstsein. Sie haben kein oder nur ein mangelndes Gefühl dafür, wo für sie ggf. Lebensgefahr besteht, z. B. wenn man einfach ohne zu gucken über die Straße rennt, oder im Schneesturm ohne Absprache und ohne Jacke rausgeht, um mal eben die Oma im Nachbarort zu besuchen. 

Außerdem sind besonders autistische Kinder fremden Menschen gegenüber jetzt nicht unbedingt kooperativ. Es kann durchaus passieren, dass bei einer solchen Suche die Polizei gerufen wird, weil die Eltern überhaupt keine Ahnung haben, wo sie das Kind noch suchen sollen. Wenn das Kind dann vielleicht nicht mit dem Polizist spricht oder sogar noch vor ihm wegläuft, weil es ihn ja nicht kennt, macht das die Situation logischerweise nicht besser. 

Was kann man tun, um die Gefahr für die Kinder so gering wie möglich zu halten?

Es besteht Grund zur Hoffnung, dass mit zunehmendem Alter der Kinder auch das Risiko des Weglaufens abnimmt. Aber bis dahin kann es natürlich immer wieder vorkommen, dass sich das Kind auf einen unabgesprochenen Ausflug macht und nun gesucht werden muss. Ich habe einige Tipps, wie man das Risiko für die Kinder während dieser Phase so gering wie möglich halten kann. 
  • Türen abgeschlossen halten (Schlüssel außer Reichweite des Kindes aufbewahren)
  • dem Kind ein Tracker unterjubeln (z. B. in die Innenseite der Tasche, damit er nicht gefunden wird vom Kind) - so kann man es wenigstens zielgerichtet suchen, weil man es zum Beispiel mit dem Handy orten kann
  • Nachbarn und Bekannten im selben Ort für die Weglauftendenz sensibilisieren, damit sie das Kind ggf. vielleicht schon am Anfang aufhalten können.
  • Kindersachen mit Adresse und Telefonnummern von zu Hause versehen 
  • dem Kind erklären, dass es immer mit Polizei und anderen Hilfskräften kooperieren soll (setzt natürlich voraus, dass das Kind ein gewisses Verständnis dafür hat
  • Bei Ausflügen mit anderen Begleitpersonen diese vorher klar darüber informieren, das Weglauftendenzen vorliegen, damit sie wissen, worauf sie achten müssen.
Ansonsten bleibt nur viel Geduld und gute Nerven. Und liebe Eltern: denkt immer daran: ihr könnt nichts für das Weglaufen von eurem Kind. Es ist manchmal einfach kaum zu verhindern. Wenn ihr noch irgendwelche Tipps habt, um die Gefahren zu minimieren - immer her damit. :)

Habt einen schönen Tag!
Anne


Kommentare

  1. Ich war immer sehr neidisch auf die Mütter, die auf dem Spielplatz auf der Bank sitzen und lesen konnten. Nur ab und zu mussten sie nach ihren Kindern gucken.
    Ich musste meinem Sohn in maximal zwei Meter Entfernung hinterher laufen, damit ich ihn festhalten konnte bevor er raus und auf die Straße rennt. Das war sehr anstrengend.
    In der Kita hat er dann zum Glück gelernt, dass man an der Straße stehen bleiben muss. Und mit der Zeit hat er auch gelernt, dass man bei der "Herde" sprich Familie bleiben muss.

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    1. Oh je, das klingt auf jeden Fall nach einer ziemlich "bewegten" und wahrscheinlich auch anstrengenden Zeit. Umso besser, dass er es jetzt offenbar verstanden hat. Das Bild mit der Herde gefällt mir total, es ist extrem passend und für Kinder ziemlich leicht zu verstehen. Ganz viel tolle Familienzeit für euch mit möglichst wenig "Schattenspielen" (wenn man seinem Kind hinterherlaufen muss, ist man ja im Prinzip der Schatten des Kindes)! :)

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