Autismus und Masking

Hallo!

Ab einem Alter von 1,5 Jahren kann bei einem Kind Autismus diagnostiziert werden. Das ist allerdings selten, da die Entwicklung bei Kids in dem Alter noch unfassbar unterschiedlich ist und teilweise stark voneinander abweichen kann, ohne dass man direkt an eine Störung oder Behinderung denken muss. Manchmal geht es auch in der Kita noch alles gut, weil es den Erziehern gelungen ist, die Bedürfnisse des Kindes gut zu erfüllen und die eventuelle Besonderheiten vielleicht als Teil des Charakters des Kindes wahrgenommen haben, weil sie ggf. nicht darauf geschult sind, Autismus zu erkennen. Spätestens in der Schule, wenn die Kinder dann urplötzlich komplett anderen Strukturen, als sie es eigentlich gewohnt sind, ausgesetzt werden und damit ihre Sicherheit verschwindet, oder die ersten zwischenmenschlichen Schwierigkeiten mit den Mitschülern auftreten, fällt meistens auf, dass irgendetwas nicht stimmt und es wird eventuell eine Diagnostik durchgeführt. Es gibt aber auch Menschen im Autismus-Spektrum die erst im Erwachsenen-Alter oder sogar nie diagnostiziert werden. Woran liegt das? Diese AutistInnen betreiben sogenanntes "Masking"!

Was bedeutet Masking?

Wer war schon einmal bei dem Musical "König der Löwen"? Dort tragen die Schauspieler in der Regel Masken oder sind geschminkt, weil sie in diesem Moment keine Menschen, sondern wilde Tiere (z. B. Löwen, Giraffen, etc.) darstellen wollen und das ohne eine Veränderung des Äußeren überhaupt nicht oder nur sehr schwer möglich wäre. Autisten setzen eine virtuelle Maske auf. Sie versuchen auch etwas anderes darzustellen, als sie sind - allerdings nicht äußerlich sondern innerlich. Sie versuchen ihren Autismus zu verstecken und sozusagen "normal" zu wirken (ich weiß, wer ist schon normal). Dafür beobachten und analysieren sie ihre neurotypische Umwelt intensiv und versuchen deren Verhaltensweisen zu imitieren. Was neurotypische Menschen intuitiv machen (Blickkontakt halten beim Gespräch, Hände schütteln zur Begrüßung, Mimik und Körpersprache verwenden - viele Dinge davon würden autistische Menschen nicht automatisch machen), dafür brauchen Autisten ziemliche Konzentration. Sie lernen auswendig, wann welche Verhaltensweise sozial angemessen und/oder erwartet wird und versuchen sie adäquat umzusetzen. Meistens verstehen Autisten den Sinn dieser Verhaltensweisen überhaupt nicht, wissen aber, dass es aber in der Gesellschaft besser ankommt, wenn man diese anwendet. Ein anderer Teil des Maskings ist es aber auch, autistisches Verhalten (z. B. Stimming wie Schaukeln mit dem Oberkörper, schnelles auf und ab bewegen der Arme) zu unterdrücken/zu verstecken. Ziel des Ganzen ist es, dass der Autismus dem Gegenüber überhaupt nicht auffällt. Oft entscheiden sich Autisten gar nicht bewusst dafür, es ist eher so, dass ihr Unterbewusstsein gelernt hat, dass das für sie vermeintlich besser ist.

Was bringt Masking?

Tja, mal eine ganz ehrliche Frage an die neurotypischen Leser: Stellt euch eine Sachbearbeiterin im Bürgeramt vor, die munter auf ihrem Schreibtischstuhl vor sich hinschaukelt und dabei möglicherweise monoton vor sich hinpfeift. Was würdet ihr von dieser Mitarbeiterin halten? Sehr wahrscheinlich würdet ihr sie mindestens für ein bisschen schräg halten, möglicherweise würdet ihr aber auch versuchen, zu einer anderen Mitarbeiterin zu gehen, weil sie euch mit diesem Verhalten (übrigens ein Verhalten, dass bei vielen Autisten unfassbar für Entspannung sorgen würde) massiv irritieren würde und schlimmstenfalls sogar den Eindruck vermittelt, als wüsste sie überhaupt nicht was sie da tut. Auch ein Chef, der sich mit Autismus nicht besonders gut auskennt, würde ggf. Zweifel daran haben, ob diese Mitarbeiter für sein Amt geeignet ist und würde eventuell eher einen neurotypischen Bewerber einstellen. Und das, obwohl die autistische Bewerberin eine Top-Ausbildung hat und extrem gut Bescheid wüsste. Nur wegen ihrem Verhalten würde sie im Vorstellungsgespräch "aussortiert" werden... 

Gleiches gilt natürlich auch für den Freundeskreis. Es gäbe garantiert nicht wenige Menschen, denen es peinlich wäre, mit einem Kumpel in die Disco zu gehen, der die ganze Zeit mit den Armen flattert und gleichzeitig ständig Autogeräusche nachahmt - es wäre ihnen sehr wahrscheinlich völlig egal, wie entspannend das für den Betroffenen ist - denn die anderen würden mega komisch gucken... (Natürlich sind nicht alle Neurotypen so!) Viele AutistInnen haben Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinversetzen, aber sie sind nicht blöd - sie bekommen die Reaktionen ihrer Umwelt auf dieses Verhalten sogar sehr gut mit. Und wer möchte schon gern ausgeschlossen werden? Was liegt da also näher, als das "komische" Verhalten abzustellen, um gesellschaftlich anerkannt zu werden? 

Ein anderer Grund wäre, dass AutistInnen häufig in ihrer Umwelt "anecken" würden, wenn sie nicht die neurotypischen Verhaltensweisen umsetzen würden. Ein Mensch, der andere beim Gespräch nicht anschaut, gilt im allgemeinen als unhöflich, weil er sich vermeintlich nicht für seinen Gesprächspartner interessiert. Ein Mensch der anderen nicht die Hand gibt, galt vor Corona definitiv als unerzogen... Natürlich kann man seinen Mitmenschen erklären, warum man das alles nicht macht - es kostet allerdings auch wieder ziemlich viel Energie und bedeutet gleichzeitig, dass man sich "nackig" macht. Ich möchte nicht unbedingt, dass alle Menschen in meinem Umfeld wissen, dass ich Autismus habe. Das ist etwas intimes, das nicht jeden etwas angeht. Und wer sagt denn, dass die Person diese Information für sich behält und nicht vielleicht ausplaudert? Auf den ersten Blick ist es wesentlich leichter, sich einfach zu "verstellen" und gegen seine eigentlichen Instinkte zu handeln, dafür aber nicht aufzufallen und sich nicht erklären zu müssen. 

Zu guter Letzt sorgen schlecht recherchierte Filme und Serien dafür, dass extrem viele Mythen über Autisten im Umlauf sind, die so gar nicht stimmen, aber für ein falsches Bild bei neurotypischen Menschen sorgen. Dadurch existieren bei vielen Menschen Berührungsängste, wenn sie hören, dass ihr Mitmensch Autismus hat. Ihr seht, es gibt sehr viele "gute" Gründe für AutistInnen sich zu verstellen und einfach neurotypisch zu spielen.


Gefahren durch Masking

Wie ihr vermutlich schon ahnt, ist das ständige Verstellen im Alltag nicht nur positiv. Dieses Masking ist für AutistInnen unfassbar anstrengend. Das liegt daran, dass sie diese Verhaltensweisen, die sie anwenden um im Alltag nicht auffallen, ja nicht intuitiv machen. Masking erfordert eine enorme kognitive Leistung. Sie müssen sich darauf konzentrieren ihre auffälligen Verhaltensweisen zu unterdrücken. Gleichzeitig überlegen sie permanent, was gerade angebracht wäre an Verhalten und was man tun kann, um diese Verhaltensweisen umzusetzen und dabei keiner vollkommenen Reizüberflutung zu erliegen. Die Gehirne von neurotypischen Menschen können maximal 13 - 15 % gleichzeitig bewusst wahrnehmen, zu mehr ist das Gehirn nicht in der Lage. Autisten nehmen dagegen 20 - 30 % ihrer Umweltreize bewusst gleichzeitig wahr, ihr Gehirn arbeitet also schon mal wesentlich intensiver. Wenn sie dann auch noch versuchen, sich anzupassen, kann man sich vorstellen, wie ausgelastet das Gehirn ist... Remember: Neurotypen nehmen weniger wahr als Autisten und müssen über ihr alltägliches Verhalten nicht besonders nachdenken. Am Ende des Tages sind autistische Menschen deswegen meistens extrem erschöpft. Je nachdem wie oft/lange Autisten dieses Masking betreiben, kann es richtig gefährlich werden. 

Viele Autisten, die sich im Alltag permanent anpassen, leiden nach ein paar Jahren dieser Belastung unter Depressionen. Genauer genommen unter Erschöpfungsdepressionen, weil diese Aktivität unfassbar viel Energie kostet. Gleichzeitig entwickeln sie irgendwann eventuell den Gedanken: "Es ist nicht in Ordnung, so wie ich bin, ich muss mich verstellen um in der Gesellschaft anerkannt zu sein." Auch dieser Gedanke kann nachvollziehbarerweise zu Depressionen führen. 

Zu guter Letzt kann "zu gut" einstudiertes und perfektioniertes Masking aber auch dazu führen, dass eine Diagnose erst spät oder sogar gar nicht gestellt wird, weil nicht auffällt, dass die Betroffenen Probleme haben bzw. auffällig sind. Besonders Mädchen/Frauen sind leider viel zu gut darin, sich anzupassen. Selbst wenn es durch Zufall zu einer Diagnostik kommen sollte, kann es passieren, dass die Betroffenen derart gut angepasst sind, dass es dem Versuchsleiter nicht gelingt, hinter die Fassade zu schauen. Bei einer Diagnostik wird durch verschiedene Tests selbstverständlich versucht autistisches Verhalten herauszukitzeln und die Psychologen und Ärzte sind natürlich speziell auf Autismus geschult. Wenn die Anpassung aber zu gut eingeübt ist, kann es passieren, dass genau das leider nicht gelingt. Ich hatte das Glück, dass ich durch die Neueingewöhnung in das Berufsbildungswerk überhaupt keine Kapazitäten mehr dafür hatte, Masking zu betreiben. Die Auffälligkeiten, die durch den Autismus ausgelöst werden können, hätten offensichtlicher kaum sein können...

Fazit

Es besteht dringender Aufklärungsbedarf über Autismus. Die Menschen müssen erfahren, dass ein autistischer Mensch nicht nur ein komischer Kauz ist, sondern welche Gründe sein bisweilen merkwürdiges Verhalten hat, bzw. warum er manche Verhaltensweisen nicht umsetzt. Und es ist wichtig, dass klar wird, dass Autismus unfassbar viele Facetten haben kann - nicht alle Betroffenen brauchen zum Beispiel rund um die Uhr Betreuung und Beaufsichtigung. Nicht jeder hat eine geistige Behinderung. Manche sind sogar extrem begabt. Je mehr Menschen über die Besonderheiten und Eigenschaften dieser Menschen Bescheid wissen, desto weniger besteht überhaupt ein Grund dafür, sich auf Krampf verstellen zu müssen - weil das Umfeld weiß, dass es Autismus gibt und was es damit auf sich hat. Außerdem sollten Autisten von ihrem Umfeld viel mehr so akzeptiert werden, wie sie sind und nicht auf Anpassung bestanden werden. 

Vielen Betroffenen würde es auch extrem helfen, wenn ihnen z. B. ihre Freunde regelmäßig versichern, dass sie sich ihnen zu liebe, nicht verstellen müssen. Am glaubwürdigsten ist eine solche Aussage natürlich, wenn der Autist dann zum Beispiel mal wirklich vor sich hinschaukelt und dieser Verhaltensweise keine besondere Aufmerksamkeit beigemessen und sie vor allem nicht kommentiert wird. Mein Lieblingshausmeister weiß, dass ich Autismus habe und er nimmt mich genauso wie ich bin. Wenn ich ihm zum Beispiel mal wieder einen Zettel in die Hand drücke, weil ich mal wieder nicht verbal vermitteln kann, was ich mitteilen möchte, liest er ihn einfach und antwortet mündlich so darauf, als ob ich ihm das gesagt hätte. Er fragt mich nicht, warum ich nicht einfach mit ihm spreche, er nimmt es einfach so hin. Es ist auch kein Problem, wenn ich ihn frage, ob seine Aussage gerade ein Witz war. Er weiß, dass er das nicht automatisch voraussetzen kann. Es ist ein so angenehmes Miteinander, weil ich einfach Anne sein kann. An die neurotypischen LeserInnen die AutistInnen in der Familie oder im Freundeskreis haben: probiert es doch mal aus. Ich bin sicher, dass ihr einige Überraschungen erleben werdet, weil ihr viele (auch positiven) Facetten des Menschen durch das Masking noch gar nicht kennengelernt habt. 

Habt einen tollen Tag.
Anne

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