Weinen AutistInnen bei Filmen?

Hallo!

Auf die Idee zu diesem Beitrag bin ich gekommen, als ich letztens mit einer Freundin den Heidi-Spielfilm gesehen habe, und ich mehrfach feuchte Augen hatte. Man sagt Autisten ja nach, dass sie grundsätzlich eigentlich nicht so emotional veranlagt sind, sondern eher sachlich drauf sind. Eigentlich sollen sie sich ja nicht so gut in ihre Mitmenschen hineinversetzen können und haben häufig Schwierigkeiten, ihre eigenen Emotionen wahrzunehmen, zu erkennen und zu verarbeiten. Ergo ist eigentlich nicht davon auszugehen, dass sie nun ausgerechnet bei Filmen weinen, oder doch? 

Grundsätzliches

Die Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Das geht ja schon bei Neurotypen nicht, schließlich ist jeder Mensch einzigartig und jeder findet andere Dinge besonders traurig oder besonders schön. Darum kann ich hier auch nur von meinen Erfahrungen sprechen. Außerdem kommt es ja auch darauf an, welche Erfahrungen der Mensch in seinem Leben schon gemacht hat und was ihn darum besonders anrührt. Ein Beispiel ist die Ballade "Der Erlkönig". In der Schule habe ich das Gedicht einfach nur monoton aufgesagt, weil ich musste und war froh, dass ich es fehlerfrei aufgesagt habe. Inzwischen bekomme ich Tränen in den Augen, wenn die letzte Strophe anbricht "Erreicht den Hof mit Mühe und Not, in seinen Armen das Kind war tot". Meine Oma und mein Uropa sind inzwischen gestorben, ich kann mich also irgendwie ein bisschen besser in die Situation hineinversetzen, die der Vater gespürt haben muss - früher war ich noch nicht so weit - ich hatte die Erfahrungen noch nicht und war außerdem noch lange nicht so geübt darin, mich in Menschen hineinzuversetzen. Die grundsätzliche Veranlagung zu weinen, hat aber jeder Mensch (egal ob Neurotyp oder Autist), seit seiner Geburt. Grundsätzlich ist es also jedem möglich, bei Filmen zu weinen. 

Eher Filmmusik als Situation.

Ich weine grundsätzlich eher selten bei Filmen. Dafür kann ich mich viel zu schlecht darauf einlassen. Die laufen eher so im Hintergrund, um meine Langeweile zu vertreiben. Ich kann auch der Handlung folgen und weiß worum es geht, bzw. finde ich die Handlung auch richtig toll, das ändert aber trotzdem nichts daran. Bei Heidi habe ich trotzdem Tränen in den Augen. Nicht wegen der Handlung, sondern wegen der mega starken Filmmusik. Richtig gehört - ich heule nicht, wenn der Großvater so scheiße zu Heidi ist, sondern wenn sie die Luke vom Dachboden öffnet und diese epische Musik läuft, während sie den Ausblick genießt. Auch außerhalb von Filmen kommt es häufig vor, dass ich bei richtig richtig richtig schöner Musik Tränen in den Augen habe - völlig egal welches Genre und ob es ein trauriges Lied ist. Es kann auch richtig wild sein, es kickt mich irgendwie trotzdem. Das Phänomen: Person weint und die andere Person muss mitweinen, kenne ich gar nicht. Das geht mir eher auf den Keks, als dass es mich irgendwie berührt. Wenn passende Musik im Hintergrund laufen würde, die mir die Situation "erklärt", würde ich vielleicht auch mitweinen.

Ich kriege die Stimmung eher unterschwellig mit.

Ich weine zwar bei Filmen meist nicht, aber trotzdem bekomme ich mit, dass der Film traurig ist und mein Unterbewusstsein spricht darauf an, ohne das konkret mitzubekommen. Zum Beispiel bei der Serie "Club der roten Bänder" - 70 % aller Menschen die ich kenne, weinen bei der Serie regelmäßig. Wenn wir das früher abends im Berufsbildungswerk gemeinsam geguckt haben, stand immer eine Rolle Klopapier auf dem Tisch. Ich habe sie nie benutzen müssen. Habe mich aber nach dem schauen immer merkwürdig in mir zurückgezogen gefühlt. Ist schlecht zu beschreiben. Irgendwie abgestumpft. Manche stecken sich Ohrenstöpsel in die Ohren, weil ihr Partner/ihre Partnerin schnarcht, das ist vielleicht ein passendes Bild. Ich stopfe (UNBEWUSST) meine emotionalen Antennen mit Watte voll, sodass nicht so wirklich viel von den Emotionen ankommt, die der Film/die Serie transportieren will. Ich mache das wirklich nicht bewusst. Es ist vermutlich eine Art Schutzmechanismus von meinem Gehirn, das natürlich weiß, dass ich mit zu vielen Emotionen überfordert werde. Auf jeden Fall bin ich nach einem Filmabend von Club der Roten Bänder, meist nicht mehr besonders menschenkompatibel und muss mich dann ausruhen (das abwehren von Emotionen kostet nämlich reichlich Energie). 

Ich wundere mich teilweise zu sehr über die Handlung.

Ich sitze teilweise einfach vor dem Fernseher und denke: ???. Ich kann zum Teil überhaupt nicht nachvollziehen, warum die Personen so handeln, wie sie es tun. Oder Dinge sagen, die sie so nicht meinen. So zum Beispiel bei Heidi. Ich weiß, dass der Großvater unglaublich traurig darüber ist, als Heidi wieder mit nach Frankfurt soll (kurz vor Ende des Films, nachdem Klara wieder laufen kann und sie wieder mit dort hin soll), er weiß noch nicht, dass sie sich dazu entschlossen hat, da zu bleiben und kann absolut nicht nachvollziehen, warum er zu Heidi dann sagt, dass er sie nicht da haben will. Er meint doch das komplette Gegenteil - er will sie doch da haben... In dem Moment "verschwende" ich meine Energie dafür, die völlig sinnfreie Aktion des Großvaters zu verstehen, statt mich wie die meisten Neurotypen in Heidi hineinzuversetzen und total sentimental zu werden. Die verstehen meist eher, wie der Großvater tickt und können sich mehr auf Heidi konzentrieren. Mir wurde das auch schon erklärt, aber trotzdem konzentriere ich mich immer mehr darauf, dass sein Verhalten völlig unlogisch ist. 

Fazit

Um bei einem Film zu weinen, benötigt es die Kompetenz, sich in die handelnden Figuren hineinzuversetzen - und zwar in alle gleichermaßen. Außerdem muss man den Film an sich heranlassen und emotionale Situationen gut verarbeiten können. Autisten fällt das meistens schwer, wodurch ich jetzt mal davon ausgehe, dass die meisten bei Filmen eher nicht weinen - unmöglich ist es aber nicht. Und: es heißt nicht, dass die autistischen Menschen der Film komplett kalt lässt, möglicherweise spüren sie die Stimmung durchaus, können sie aber entweder nicht rauslassen oder nicht adäquat wahrnehmen, weil ihr "Schutzfilter" das meiste abfedert.

Habt einen schönen Tag.

Anne 

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