Momente: Free Hugs (von überlegten Berührungen im Alltag)

Hallo!

zu allererst: das Erlebnis, von dem ich euch erzählen möchte, hat weit vor der Corona-Pandemie stattgefunden.  Ich habe mit einer Freundin einen Ausflug in die Innenstadt gemacht und wir wollten uns gerade wieder auf den Heimweg machen, als wir plötzlich auf einem großen Vorplatz auf eine Gruppe junger Menschen gestoßen sind. Vermutlich Studenten. Zwischen ihnen standen Schilder, bzw. manche hatten auch T-Shirts an, und zwar mit der Aufschrift: Free Hugs. Gratis Umarmungen? Was ist denn das für ein merkwürdiges Angebot? Wir sind kurz stehen geblieben und wurden direkt von einer jungen Frau und einem jungen Mann angesprochen. Sie würden gratis Umarmungen anbieten, das würde den meisten Menschen gut tun, ob wir nicht auch wöllten. Nein, eigentlich nicht... Ich als Autistin stehe jetzt eigentlich nicht so auf Berührungen - schon gar nicht von völlig fremden Menschen. Aber irgendwie will man auch kein Spielverderber sein... Die jungen Menschen spürten unsere Unsicherheit. "Ach komm, ich beiße nicht! Und beklauen tu ich dich auch nicht!" Na gut... Ich habe mich von der jungen Dame umarmen lassen und fand es überraschenderweise eigentlich fast angenehm, was ich wirklich nicht erwartet hätte. Die Umarmung war kurz und fest (mir wurde übrigens tatsächlich nichts geklaut, was ich ehrlich gesagt ein wenig befürchtet hatte). 

Die Studenten haben mich vorher gefragt, ob ich umarmt werden möchte. Wenn ich definitiv nein gesagt hätte, hätten sie mich auch in Ruhe gelassen, das haben sie mir explizit vorher noch gesagt. Sehr wahrscheinlich werden einige, das uneigennützige Angebot der jungen Menschen ausgeschlagen haben. Weil sie einfach nicht von fremden Menschen umarmt werden wollen, was ich durchaus nachvollziehen kann. Gut, dass sie vorher gefragt wurden. Im Alltag passiert es allerdings häufig, dass neurotypische Menschen nicht fragen, ob ihre Berührung erwünscht ist. Vor Corona gehörte es quasi zum Standard, dass gute Freunde / Familie zum Beispiel zur Begrüßung mit einer Umarmung begrüßt werden, mindestens jedoch mit Handschlag. Oder dass bei Unterhaltungen oder zum Trost der Arm um die Schultern gelegt wird, oder zum Zeichen der Zuneigung bei einem Date die Hand der vielleicht zukünftigen Partnerin genommen wird. Für die Mehrheit der Menschen stellt das kein Problem dar, für autistische Menschen - die eine besondere Wahrnehmung haben oder zum Beispiel psychisch kranke Menschen, die Probleme mit körperlichen Berührungen haben, kann das mitunter extrem unangenehm sein. 

Bei meiner Familie zum Beispiel sind Umarmungen völlig in Ordnung, aber danach kommt schon eine ziemliche Abstufung, von wem ich mich umarmen / abklatschen (High Five) / oder vielleicht auch gar nicht berühren lasse. Manchmal unterscheidet sich das auch - je nach Tagesform. Es gibt Tage, da bin ich schon früh durch die Fahrt mit dem ÖPNV reiztechnisch so erschöpft, dass ein simples Hand schütteln, fast schon zu einer Reizüberflutung führen kann. Es gibt für mich nichts besseres, als dass das dämliche Hand schütteln durch Corona endlich vorbei ist. (Ich hoffe, das bleibt auch so!) Selbst wenn ich traurig bin, ist es noch lange nicht gesagt, dass ich mich umarmen lassen kann, auch nicht von meinen engsten Bekannten oder Familienmitgliedern. Für viele Autisten (oder eben psychisch beeinträchtigte Menschen) könnte jede Berührung (egal von wem und welcher Art) so sein, als würden neurotypische Menschen ohne Rücksprache von einem fremden Menschen umarmt werden (eben wie bei der Free Hug - Aktion). Man kann uns zum Teil nicht ansehen, wie es in uns drinnen gerade aussieht - eine unvorhergesehene Berührung kann aber entsprechend negative Auswirkungen auf unseren kompletten weiteren Tagesverlauf haben. Bei einem Menschen mit Trauma, kann eine plötzliche Berührung zum Beispiel auch zu einem Flashback führen, auch wenn ihr es ganz harmlos als Begrüßung gedacht habt und überhaupt nichts böses im Sinn hattet.


Mein Tipp: Fragt vorher nach! 

Zwei super liebe Menschen in meinem Freundeskreis haben das eingeführt. Ich hatte zu einem Welt-Autismus-Tag mal einen allgemeinen Beitrag auf Facebook geschrieben, wie es für mich ist, Autismus zu haben und was Autismus allgemein so ist. Dabei habe ich unter anderem auch über die Sache mit den Berührungen geschrieben. Das haben diese beiden Menschen gelesen. Seitdem machen wir es so: Wenn wir uns treffen, fragen sie zu allererst nach, ob ich umarmt werden möchte, lieber nur ein High Five machen möchte oder vielleicht auch gar nichts von alldem. Eine winzige Frage - für die beiden überhaupt kein Aufwand, mir bringt das aber enorm viel! Ich muss mich nicht erklären oder sonst irgendetwas, ich kann einfach anhand meiner Tagesform entscheiden, was gerade angenehm für mich ist und alle sind zufrieden. Überlegt euch doch mal, ob ihr das vielleicht auch in euren Alltag integrieren wollt. Vielleicht profitieren ja auch neurotypische Menschen davon! Denn ich bin mir sehr sicher, dass nicht nur Autisten teilweise überhaupt keine Lust auf Umarmungen, Hand geben oder ähnliches haben. 

Habt einen schönen Tag.
Anne

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