Merkzeichen "W" im Schwerbehindertenausweis

Guten Tag!

Neulich habe ich auf Twitter eine Petition gefunden, die an den Deutschen Bundestag gerichtet ist. Ziel der Petition ist die Einführung des Merkzeichens "W" in den Schwerbehindertenausweis. "W" soll für Besonderheiten in der Wahrnehmung stehen, wie sie z. B. bei Menschen mit Autismus auftreten. Das bedeutet aber nicht, dass das Merkzeichen eine Extrawurst nur für AutistInnen ist. Ganz im Gegenteil - Autismus ist bei weitem nicht die einzige Erkrankung/das einzige Störungsbild, bei dem Menschen Schwierigkeiten mit ihrer Wahrnehmung haben. Es würde demzufolge einigen Betroffenen zu Gute kommen. 156 Menschen haben diese Petition mitgezeichnet (inklusive mir). Inzwischen ist die "Unterschriftensammlung" abgeschlossen und derjenige der sie ins Leben gerufen hat, ist nun mit den Verantwortlichen vom Deutschen Bundestag im Gespräch. Eine endgültige Entscheidung, ob das Merkzeichen eingeführt wird, ist noch nicht getroffen worden, nun heißt es abwarten und Daumen drücken. Ihr könnt zwar nicht mehr mitzeichnen, aber ich habe euch den Link dennoch mal beigefügt, es ist eine interessante Beschreibung dabei. 



Warum sollte das Merkzeichen eingeführt werden?  

Hintergrund ist, dass viele Autisten und andere Betroffene mit Wahrnehmungsstörungen meist eine Reizfilterschwäche haben. Das bedeutet, dass sie alle (oder zumindest sehr viele Reize) die um sie herum sind gleichzeitig und in der gleichen Intensität wahrnehmen. Viele Neurotypen schaffen es, unnötige Reize auszublenden. Sie konzentrieren sich zum Beispiel in einem überfüllten Cafe nur auf das Gespräch mit ihrem Mitmenschen und können Gespräche von anderen Menschen, der laufenden Kaffeemaschine, scharrenden Stühlen, etc. einfach "überhören". Autisten gelingt das eher schlecht als Recht. Je nachdem, wie vielen Reizen sie am Tag ausgeliefert sind, kann das zu Reizüberflutungen führen. Symptome davon sind zum Beispiel extreme innere Unruhe, Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Aggressivität (nicht unbedingt gegen andere Menschen), ... Wenn es die Betroffenen nicht schaffen, diesen Reizen zu entfliehen und die Reizüberflutung zu unterbrechen, können sie in schlimmere Zustände wie Meltdown oder Shutdown geraten. Wer mehr zu Reizüberflutung, Meltdown und Shutdown erfahren möchte, kann sich gern meine drei Beiträge dazu durchlesen. Hier würde es jetzt den Rahmen sprengen. 

Da die Mehrzahl der Bevölkerung keine Probleme in diesem Bereich hat, ist unsere Umwelt so gut wie gar nicht auf die Bedürfnisse von Betroffenen ausgelegt. Das geht schon damit los, dass man auf Großveranstaltungen wie Messen (ja, auch Autisten wollen solche Events mal besuchen) oder zum Beispiel in der Innenstadt keinerlei Rückzugsorte findet. Wenn man also zum Beispiel nicht merkt, dass man schon erschöpft ist, und dann noch beschließt in die Innenstadt zu gehen, dort aber merkt, dass es doch nicht geht, ist das Chaos quasi vorprogrammiert. Das Merkzeichen "W" soll es Betroffenen ermöglichen, entweder direkt die Bedingungen vorzufinden, die sie benötigen um einer Reizüberflutung vorzubeugen, oder bei einer akuten Reizüberflutung einen Rückzugsort zu finden und schlimmeres zu verhindern.  

Was könnte das Merkzeichen in der Praxis bringen?
  • Einzelzimmer in Krankenhäusern
Stellt euch mal vor, ihr seid so krank oder verletzt, dass ihr in ein Krankenhaus müsst und ihr seid mit einem oder mehreren Mitpatienten im Zimmer. Ihr habt mit euren eigenen Schmerzen zu tun, habt vielleicht Angst und seid zusätzlich unruhig, weil alles anders ist (ihr seid ja nun nicht gerade täglich im Krankenhaus und kennt die entsprechenden Abläufe) und nebenbei müsst ihr auch noch die Geräusche ertragen, die euer Mitpatient macht, bzw. die medizinischen Geräte, mit denen der Mitpatient vielleicht versorgt wird. Dazu kommt vielleicht noch, dass auf dem Flur ein ziemlicher Trubel ist, Ärzte und Schwestern laufen hin und her, schieben Wagen über die Station, ständig kommt jemand rein und macht komische Sachen mit einem. Zusätzlich kommt noch dazu, dass ihr vielleicht nicht versteht, warum sich der Mitpatient so komisch verhält (vielleicht hat er starke Schmerzen und ist darum extrem abweisend). Die beschriebene Situation ist eigentlich das Rezept für das perfekte Chaos. Nun könnte man sagen: "Ja aber, das geht doch auch Neurotypen so - die müssen da doch auch durch!" Korrekt. Aber nun lest euch noch mal durch, was ich im oberen Abschnitt zu Reizüberflutungen geschrieben habe und schaut dann, ob das miteinander vergleichbar ist. 

Viele AutistInnen haben solche Angst davor, die gerade beschriebene Situation zu erleben, dass sie sich vielleicht weigern, ins Krankenhaus zu gehen oder überhaupt medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das darf doch nicht sein! Wenn man das Merkzeichen W hätte, wüsste das Krankenhauspersonal, dass es nicht einfach nur eine Extrawurst sein soll, sondern wirklich erforderlich ist, ein Einzelzimmer bereit zu stellen. Außerdem können sie sich so vielleicht ein bisschen besser auf den Patienten einstellen.

  • Bahnfahrt in der 1. Klasse (ohne Aufpreis)
Ich bin früher während der Ausbildung häufig mit dem Zug gependelt (am Anfang wollte ich am Wochenende noch nicht im Wohnheim bleiben) und habe dort leider oft erlebt, wie anstrengend eine solche Bahnfahrt ist. Vor allem wenn der Zug extrem vollgestopft ist, war es zum Teil wirklich die Hölle. Nun hatte ich aber mein 2. Klasse-Ticket und konnte logischerweise keinen ruhigeren Bereich suchen und "musste da durch". Eine zusätzliche "Baustelle" ist es, dass ich einen gewissen Abstand zu anderen Menschen benötige, um mich wohlzufühlen. Wenn die Bahn vollgestopft war, war es also extrem laut, sehr warm und zu voll. So ist es dann teilweise vorgekommen, dass ich im BBW angekommen bin und einen Meltdown bekommen habe, weil z. B. das Backpapier alle war. Normalerweise hätte ich mich darüber geärgert, aber hätte es irgendwie verkraften können. So war ich aber schon "vorgeschwächt" wegen der Reizüberflutung in der Bahn und dann musste ich mich ganz spontan auch noch damit abfinden, dass ich nicht wie gewohnt, das Backpapier unter die Brötchen legen konnte. Es war einfach zu viel in dem Moment. 

Mit dem Merkzeichen "W" könnte man dem Bahnpersonal nachweisen, dass es gute Gründe dafür gibt, dass man mit einem 2. Klasse-Ticket in der 1. Klasse sitzt. Niemand spricht davon, dass die komplette Zugfahrt kostenlos ist, es geht lediglich darum, im Bedarfsfall in einen ruhigeren Bereich wechseln zu können. Das würde vielen Menschen mit Wahrnehmungsstörungen wirklich extrem helfen.

  • Rückzugsräume auf Messen/in Kinos/bei Konzerten, etc.
Das Beispiel ist noch weiter von der Realität entfernt, als die oberen Beispiele, bei denen es nur Aufklärungsarbeit und Gespräche mit z. B. Krankenhausmitarbeitern oder der Deutschen Bahn bedeutet. Grund dafür ist, dass es einfach noch keine Rückzugsräume gibt. Aber mal angenommen es gäbe sie. Wenn dann jeder Neurotyp dort einreitet, weil er gerade mal ein bisschen sich ausruhen will, ist er für die Menschen, die wirklich dringend Ruhe benötigen, weil sie eine Wahrnehmungsstörung haben, quasi für die Katz (Redewendung für "sinnlos"). Dann könnten sie auch draußen in den Menschenmassen bleiben, weil es dann im Rückzugsraum nicht anders als draußen wäre. Mit diesem Merkzeichen könnte man eine Überfüllung dieses Raumes verhindern. Betroffene haben meist ohnehin einen Schwerbehindertenausweis dabei, sie könnten also nachweisen, dass sie zu der Zielgruppe gehören, für die dieser Raum gedacht ist. Nun werden kritische Stimmen wieder sagen: "Toll, wieder eine Extrawurst für Autisten." Aber ganz ehrlich: wie oft habt ihr einen der oben beschriebenen Zustände bereits erlebt? Und wie oft musstet ihr eine richtig tolle Veranstaltung eher verlassen, weil es eben keinen Rückzugsort gab, um sich kurz zu erholen? Meines Erachtens handelt es sich bei solchen Maßnahmen nicht um eine Extrawurst, sondern um einen Nachteilsausgleich in einer Welt, in der Autisten die Minderheit sind und deren Umwelt entsprechend wenig auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist.

Fazit

Aus meiner Sicht, wäre es durchaus sinnvoll, dieses Merkzeichen einzuführen. Es wäre definitiv ein Schritt in die richtige Richtung, was Barrierefreiheit betrifft. Denn Barrierefreiheit bedeutet nicht nur, dass ein Fahrstuhl vorhanden ist, dass keine unnötige Stufe an der Haustür ist oder dass Therapiehunde in öffentliche Gebäude dürfen. Barrierefreiheit bedeutet, dass möglichst niemand behinderungsbedingt auf bestimmte Dinge verzichten muss, bzw. dass es sowohl Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen ermöglicht werden sollte, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Habt einen schönen Tag.

Anne

P.S. Ich halte euch auf dem Laufenden, wie es ausgegangen ist!

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