Autismus und Regeln

Guten Tag!

Hände hoch: wer ist schon mal über eine rote Ampel gegangen? Vielleicht war weit und breit kein Auto zu sehen und man musste doch so dringend weiter... Natürlich ist das nicht schön und ist auch überhaupt kein gutes Vorbild für Kinder, aber ich würde darauf wetten, dass schon ziemlich viele gegen diese Regel verstoßen haben. (Ich offen gestanden ebenfalls.) Viele werden auch trotz Nachtruhe weiter laut Musik gehört haben, weil die Party gerade soo cool war und Musik in Zimmerlautstärke ein echter Stimmungskiller gewesen wäre. All das sind Regeln/Gesetze des Alltags, gegen die man sich halten sollte, weil andernfalls sogar Konsequenzen drohen. Und trotzdem kenne ich niemanden, der sich je an sämtliche Regeln, die so existieren, gehalten hat. Logischerweise weil manche Regeln gar nicht bekannt sind, zum anderen aber auch, weil es einfach menschlich ist. Es ist gerade niemand da, der zuguckt / es ist ja nur ausnahmsweise / ich habs eilig... Da gibt es hundert Gründe. Aber wie ist das mit Autisten? Die sind doch angeblich so regeltreu. Können die überhaupt gegen Regeln verstoßen? Um dieses Thema soll es heute gehen.

Verstoßen Autisten mitunter gegen Regeln / Gesetze?

Zuallererst muss ich euch enttäuschen. Auch Menschen im Autismus-Spektrum verstoßen hin und wieder gegen die Regeln und Gesetze dieser Welt. Auch wir sind nicht perfekt. Erstens ist uns die Existenz mancher Gesetze gar nicht bekannt (die wenigsten Menschen haben sämtliche Gesetze im Kopf) und zweitens sind wir einfach auch Menschen, die mitunter manche Regeln einfach nicht einsehen und sie dann gelegentlich zu unseren Gunsten entweder ausdehnen oder einfach ignorieren. Oder bewusst dagegen verstoßen. Es gibt auch autistische Straftäter. Leider sind auch wir davon nicht gefeit. Zugegebenermaßen sind die meisten AutistInnen aber durchaus sehr regel- und gesetzestreu und die Wahrscheinlichkeit, dass sie (bewusst) gegen Regeln oder Gesetze verstoßen, ist sehr gering. Mal angenommen man hat eine Schulklasse mit 30 Kindern, ein Kind davon ist Autist. Der Großteil der Klasse ist sich einig: die Lehrerin ist nicht da, wir gehen nicht Bescheid sagen, sondern machen uns jetzt hier eine nette Freistunde. Einige machen Blödsinn, manche beschäftigen sich ruhig, der Autist wird extreme Gewissensbisse haben, weil die Schulregel gilt: wenn der Lehrer nicht auftaucht, muss im Sekretariat Bescheid gegeben werden. Aber die anderen verbieten es. Was nun? Oder Max und Martina stehen an der Ampel, die ewig nicht grün wird. Martina ist neurotypisch, Max ist Autist. Martina: "Ach komm, wir gehen jetzt einfach über rot. Kommt doch eh nichts." Max: "Nein, das ist gegen die Regeln." Solche Szenen werden mit AutistInnen immer wieder auftreten. 

Warum halten sich Autisten häufig so stur an geltende Regeln?

Ein Grund dafür ist, dass die Welt in der wir leben übermäßig viel von neurotypischen Menschen bewohnt wird, die sich ganz häufig anders als autistische Menschen verhalten. Sie haben eine andere Art zu kommunizieren (ich sage nur: Ironie / Sarkasmus / Sprichwörter / Körpersprache / etc.) und verhalten sich mitunter, aus Sicht autistischer Menschen, absolut unlogisch (auch wenn mir jetzt kein geeignetes Beispiel einfällt). Das bedeutet, dass Autisten in ihrem Alltag relativ häufig raten müssen, wie sie sich richtig verhalten sollen. Gesetze und Regeln dagegen sind absolut ideal. Sie geben absolut klar vor, was zu tun und zu lassen ist, ein Gerüst an dem man sich entlang hangeln kann. Außerdem sind sie niedergeschrieben und gelten für so quasi jeden Menschen auf dem Planeten Erde, sie sind also extrem verlässlich. Für die Situationen im Leben, für die es Gesetze oder Regeln gibt, müssen Autisten sich keinen eigenen "Fahrplan" überlegen, wie sie jetzt am besten agieren sollten, es ist ja ganz klar vorgegeben - weniger erforderliche Denkarbeit. Es führt also zu Entspannung auf der Seite der Autisten.

Außerdem bedeutet das Abweichen von Regelungen und Anweisungen, dass man sich anders verhalten soll, als man das sonst tun würde. Das führt dazu, dass man mitunter nicht weiß, was auf einen zukommt, wenn man es anders macht als sonst. Also wieder Unsicherheit. Man hält doch IMMER an der roten Ampel an und wartet auf grün... Und dabei zählt man immer die Autos die vorbei fahren. Jetzt auf einmal über die Ampel drüber gehen? Nee. Geht irgendwie gar nicht. Das macht man doch sonst auch nicht. Oder wie das Beispiel mit der Klasse. Wenn kein Lehrer kommt, gibt man Bescheid und die Sekretärin kümmert sich darum, dass jemand in die Klasse kommt und Aufgaben verteilt oder sogar den Unterricht vertritt. Wenn man jetzt nicht Bescheid sagt, muss man sich 45 min komplett alleine beschäftigen und weiß überhaupt nicht, was man machen soll. Man muss aber auch sagen, dass die möglichen Konsequenzen bei Nichteinhaltung von Normen negative Konsequenzen haben könnte (z. B. Diskussionen), das ist ja auch wieder anstrengend.

Unterschied "Soziale Regeln" / Gesetze

Um eine Regel befolgen zu können, muss man sie allerdings logischerweise zunächst kennen und verstehen. Daran kann es bei autistischen Menschen mitunter scheitern. Ich denke da insbesondere an die sogenannten "sozialen Regeln". Also: ich sage nicht immer meine Meinung, wie es mir gerade passt, weil das andere Menschen verletzen könnte. Neurotypen ist auch klar, dass man nicht mit Jogginghose in die Oper geht, oder dass man seinem Gesprächspartner immer in die Augen schauen sollte. Oder dass man mitunter lügen sollte, wenn die Freundin fragt, ob die Hose ihr gut steht. Und, und, und. Das sind doch auch Regeln. Warum halten sich Autisten trotzdem häufig nicht daran?

 Die Antwort darauf ist denkbar einfach: es handelt sich hierbei um häufig unausgesprochene, nicht schriftlich fixierte Ansichten von vielen Menschen, von denen vorausgesetzt wird, dass die Leute sie kennen und umsetzen. Es ist quasi ein ungeschriebenes Gesetz. Genau hier liegt das Problem... Autisten können häufig überhaupt nicht nachvollziehen, wieso manche Dinge in der Gesellschaft so gefordert sind. Es macht für sie überhaupt keinen Sinn und mitunter kriegen sie auch gar nicht mit, dass diese "Regel" existiert. Wenn man den geforderten Verhaltenskodex nicht kennt, kann man sich nicht daran halten. Und wenn es keinen Sinn macht und es handelt sich nicht um etwas, das Konsequenzen im Sinne von Strafen hat, macht es für Autisten auch beim Kennen dieser Regel keinen Sinn - dann hält er sich trotzdem nicht dran. Nun könnte man sagen, dass es sehr wohl Konsequenzen hat, wenn man sich nicht an soziale Regeln hält - nämlich zum Beispiel, dass negativ über einen gesprochen wird. Autisten sind diese Art von Konsequenzen allerdings häufig vollkommen egal. Sie interessieren sich meist nicht so wirklich was andere über sie denken könnten - sie selber achten ja auch nicht auf so etwas bei anderen Menschen, also ist das für sie kein passender Anreiz. Geltende Gesetze dagegen, machen in der Regel durchaus Sinn und werden aus dem Grund beachtet und umgesetzt.

Fazit

Die meisten AutistInnen halten sich überdurchschnittlich häufiger an Recht und Gesetz bzw. an Regeln und Vorschriften, als das bei ihren neurotypischen Mitmenschen der Fall ist. Das liegt daran, dass sie Sicherheit bieten und vor allem ein virtuelles Gerüst sind, an dem man sich im verworrenen Alltag verlässlich entlang hangeln kann. Wenn wir aber die Regeln nicht nachvollziehen können bzw. gar nicht verstehen oder kennen, verstoßen auch wir mitunter gegen Regeln. Außerdem natürlich, wenn es zu unserem Vorteil wäre, die Regeln ein wenig auszudehnen oder zu ignorieren. Da sind wir einfach wie Neurotypen: eben menschlich, keine Roboter. 

Habt einen schönen Tag.
Anne


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