Momente: Einfach mal die Zeit abwarten

Hallo!

Wie oft kommt es vor, dass Eltern ihre (nicht nur autistischen) Kinder um etwas bitten und es geht einfach kein Weg rein? Die Eltern können sich den Mund fusselig reden (Redewendung) und es passiert... NICHTS. Dieses Verhalten wird dann meistens als Sturheit der Kinder aufgefasst. Mitunter kann es allerdings auch daran liegen, dass eine vermeintliche Kleinigkeit an Veränderung des Tagesablaufs derart aus dem Konzept gebracht hat, dass wir nicht fortfahren können. Hier handelt es sich dann wirklich nicht um Sturheit (natürlich können auch autistische Kinder stur sein), sondern um eine Verhaltensweise, die wir aufgrund des Autismus einfach nicht anders steuern können. So eine Situation musste meine Freundin Julia während unserer gemeinsamen Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme (ein knappes Jahr, das bei manchen Berufsbildungswerken vor die Ausbildung gesetzt wird, und in dem die zukünftigen Azubis intensiv gefördert werden, damit sie anschließend erfolgreich die Ausbildung absolvieren können) an einem Nachmittag im Keller mit mir erleben.

Im Wohnheim wurde für autistische Auszubildende bzw. andere Azubis die aufgrund ähnlicher Störungen wie z. B. Mutismus viele andere Freizeitangebote nicht nutzen konnten bzw. eher unangenehm fanden, "Malen für Autisten" angeboten. Das fand in einer Kleingruppe im Keller eines Wohnheimgebäudes statt. Immer Donnerstagnachmittag (bin mir nicht mehr ganz sicher) um eine gewisse Zeit. (Ich weiß jetzt leider nicht mehr konkret zu welcher Uhrzeit das immer war.) Ich war die einzige Autistin aus dem BvB, meine Freundin war eigentlich keine Autistin, durfte aber immer mit, weil ich damals noch unglaublich schüchtern war und ohne sie, als meine größte Bezugsperson das Angebot nicht hätte wahrnehmen können. Es war immer ein richtig tolles Nachmittagsritual. Eines schönen Nachmittags sind wir frohen Mutes wieder zum Malen in den Keller und fanden... einen komplett leeren Raum vor!! Keine anderen Teilnehmer, keine Betreuerin, kein Tee, keine Keks, nichts! Nur quadratische farbige Umrisse an der Wand erinnerten daran, dass dort immer Malen stattfindet. Wir waren uns aber zu hundert Prozent sicher, dass wir zur richtigen Zeit da sind und definitiv alle hätten da sein müssen. Ich wurde schon unruhig. (Was ist hier los? Auf Frau Mustermann ist doch immer Verlass!!) Wir haben uns also erst einmal an den Tisch gesetzt und haben gewartet. Vielleicht hat sie noch kurz ein Gespräch mit einem anderen Azubi und die restlichen haben sich nur verspätet.

Und haben gewartet... Und gewartet... Und gewartet... Und: ach ja, gewartet. Julia war es zwischendurch dann irgendwann schon fast ein bisschen zu blöd, theoretisch war offensichtlich, dass niemand mehr kommt, aus welchem Grund auch immer. Ich war allerdings auch nicht davon zu überzeugen, einfach abzuhauen. Also ist sie irgendwann auf die glorreiche Idee gekommen, mit dem Handy im Zentralen Dienstzimmer bei den Betreuern anzurufen und zu fragen, wo denn alle bleiben, um mich davon zu überzeugen, dass es nicht mehr stattfindet. Der Betreuer hat uns dann erklärt, dass die Betreuerin krank geworden ist, das Malen daher ausfallen muss und man uns leider nicht Bescheid gesagt hat, weil sie uns nicht auf dem Schirm hatten (eigentlich war das Malen nur für Azubis, selten für BvBler). Es würde ihm leid tun, aber es würde niemand mehr kommen. Nun könnte man meinen, dass das für mich ein Anlass gewesen wäre, nun doch aufzugeben und wieder ins Wohnheim zurückzugehen. Mitnichten.

Das Malen war ein fester Punkt in meinem Donnerstagnachmittag und es war für mich in dem Moment quasi unmöglich die "fest geblockte" Zeit einfach so durch etwas anderes zu ersetzen. Julia hat mir gut zugeredet, doch mit ins Wohnheim zu kommen, weil ja eh nichts mehr sein würde. Es ging nicht. Ich habe immer wieder folgenden Satz wiederholt: "Nein, jetzt ist malen!" Sie: "Aber sie ist krank! Du hast es doch gehört, heute ist leider kein Malen!" Ich: "Aber es ist jetzt malen!" Diese Unterhaltung haben wir locker eine Stunde geführt, bis mir irgendwann so kalt geworden ist und ich mich so steif gefühlt habe, dass ich bereit war, doch mit ins Wohnheim zu kommen. Ich bin einfach nicht darauf klar gekommen, dass ich jetzt urplötzlich meinen Nachmittag mit einer anderen Aktivität ausfüllen zu müssen. Für mich war um diese Zeit malen und konnte in dem Moment durch nichts anderes ersetzt werden. Es war nicht mal unbedingt bequem, die ganze Zeit in dem Keller am Tisch sitzen zu bleiben und ein Teil von mir hat auch gecheckt wie sinnlos das ist, und trotzdem war es nicht möglich. Ich musste den größten Teil der Zeit absitzen, um dann mit dem Abendbrot fortfahren zu können. Etwas anderes machen, oder einfach im Zimmer zu malen, war keine akzeptable Lösung - das Malen ist ja schließlich immer im Keller. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir einfach einen Ortswechsel vornehmen? 

Ich bin meiner Freundin Julia zutiefst dankbar, dass sie wahrgenommen hat, dass ich ihr nicht unnötig das Leben schwer gemacht habe, indem ich sie zwinge, sinnlos im Keller zu bleiben, sondern ich wirklich nicht anders handeln konnte. Sie ist nämlich durchgängig bei mir geblieben und hat das gemeinsam mit mir ausgehalten, dass die Zeit jetzt einfach vergehen muss, damit wir mit dem nächsten normalen Punkt weiter machen konnten. Sie hat immer wieder gesagt, dass heute kein Malen mehr stattfindet und hat auch dutzende Ersatzvorschläge gemacht, was wir stattdessen tun könnten, aber es war mir unmöglich darauf einzugehen. Durch den Schreck, dass der Donnerstagnachmittag ganz anders verläuft als gewöhnt, ist sie irgendwie nicht richtig zu mir durchgedrungen. Im Nachhinein haben wir dann doch noch ein bisschen im Zimmer gemalt. Wenn du das hier liest: Julisch - ich danke dir von ganzem Herzen, dass du die Kälte und die steifen Muskeln durch anderthalb Stunden sitzen, für mich in Kauf genommen hast und mich nicht dazu gezwungen hast, mit dir mitzukommen bzw. mich auch nicht alleine gelassen hast.  🧡

Wenn euer autistisches Kind/eure autistische Freundin/Familienmitglied das nächste Mal wieder seine vermeintlich sturen Minuten/Stunden hat, schaut doch einfach mal genauer hin. Was wäre sonst zur gewohnten Zeit gerade? 

Anne

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