Guten Tag!
Der letzte Beitrag zu Wohnformen für Autisten ist jetzt schon eine ganze Weile her, aber spät heißt ja nicht nie. :-) Im letzten Beitrag habe ich die Möglichkeit beleuchtet, dauerhaft bei den Eltern wohnen zu bleiben. Heute möchte ich über das andere "Extrem" schreiben, nämlich: eigene Wohnung (z. B. mit Partner), ohne professionelle Unterstützung. Autismus und eine eigene Wohnung? Ja, denn Autismus an sich schließt nicht aus, dass man irgendwann so selbstständig ist, dass man ohne permanente Betreuung allein leben und alles was damit zu tun hat, selbstständig händeln zu können. Da bei vielen AutistInnen eine Entwicklungsverzögerung vorliegt, benötigen viele auch mit dem Erreichen der Volljährigkeit noch eine gewisse Übergangszeit, in denen sie bei den Eltern wohnen, weil sie einfach noch nicht in der Lage dazu sind. Das ist ja auch bei vielen neurotypischen Heranwachsenden so. Aber grundsätzlich kann die eigene Wohnung irgendwann eine realistische Möglichkeit sein! Ich zum Beispiel wohne auch in meiner eigenen Wohnung und bin super happy damit.
Vorteile einer eigenen Wohnung
- Man wird wesentlich schneller selbstständig.
Mal ehrlich - die Bemühungen der Erziehungsberechtigten in allen Ehren, ihren Nachwuchs zur Selbstständigkeit zu erziehen... Aber zu Hause bei Mama und Papa wird doch niemand ernsthaft selbstständig. Das liegt schon allein daran, dass es nicht so wirklich Konsequenzen hat, wenn es nicht funktioniert - die Eltern sind ja schließlich als Back-Up da, die werden schon dafür sorgen, dass immer was im Kühlschrank ist und die Wohnung nicht vollständig verdreckt, auch wenn man vielleicht seiner Pflicht nicht nachgekommen ist, den Müll runter zu schaffen oder staubzusaugen oder das Zimmer aufzuräumen. Sie sind immer da um es zu retten, denn sie wollen ja selber nicht, dass es ins Chaos ausartet.
Ihr wisst schon wie ich das meine. Wenn man in einer eigenen Wohnung wohnt, ist plötzlich niemand mehr da, der einem hinterher putzt und wenn man zu faul ist um einzukaufen, muss man halt damit leben, dass der Kühlschrank leer ist und es mal eine Woche nur trockene Nudeln gibt. Oder wenn man ewig wartet, bis man die Wäsche wäscht - tja, wenn keine Klamotten mehr im Schrank sind, wird man schon von selbst irgendwann auf die Idee kommen, die Waschmaschine anzustellen. Das ist das, was vielen Eltern Sorge macht, wenn ihre Kinder ausziehen wollen - dass es eben leider nicht so gut klappt, wie es laufen müsste. Aber mal ehrlich - die wenigsten Dinge sind so schlimm, dass sie sofortige Intervention benötigen, sondern sind allerhöchstens unangenehm. Na und? Wenn man ein paar mal die Erfahrung gemacht hat, dass es blöde Konsequenzen hat, wird man irgendwann von selber anfangen, rechtzeitig vorzubeugen. So wird man viel viel schneller selbstständig.
- Die Umgebungsreize werden wesentlich reduziert.
Natürlich kann man auch Pech haben und einen "Elefanten" als oberen Nachbarn haben, aber im Regelfall ist es in einer eigenen Wohnung wesentlich ruhiger, als wenn sich mehrere Menschen eine Wohnung teilen (Stichwort WG, der Beitrag folgt später). Es muss ja gar nicht heißen, dass die Familienmitglieder mit Absicht Krach machen, sie leben nun einmal und das geht nicht ohne Geräusche ab. Das ist auch überhaupt nicht schlimm, es ist ja schön wenn man merkt, dass noch jemand da ist und man profitiert voneinander, aber manchmal möchte doch jeder einfach mal seine komplette Ruhe haben und vor allem auch niemanden sehen müssen. Da geht es Neurotypen genauso wie Autisten. Das ist völlig normal. In der eigenen Wohnung ist man definitiv allein! Und das ist etwas, was ich teilweise definitiv schätze. Gerade nach einem Tag, der extrem reizintensiv war, bin ich froh, wenn ich genau weiß: so, jetzt bin ich in meiner Wohnung und muss definitiv keine Konversation mehr führen.
- Man kann wesentlich unabhängiger seine eigenen Rituale/Routinen durchführen.
Gemeinsam wohnen bedeutet grundsätzlich auch immer, aufeinander Rücksicht nehmen zu müssen. Wenn man nicht permanent Konflikte führen möchte, muss man sich auf gemeinsame Spielregeln einigen (z. B. keine Musik mehr ab 21 Uhr, wer geht wann ins Bad, wann wird Abendbrot gegessen, etc.) Gemeinsame Rituale sind schön, sie stärken das Miteinander und sind für alle Beteiligten angenehm, weil man Zeit miteinander verbringen kann. Wenn man allerdings in einer eigenen Wohnung wohnt, kann man sich z. B. seine Zeiten so einteilen, wie man das persönlich für sich will. Man muss sich quasi mit niemandem absprechen, sondern kann alles so gestalten, wie es für einen selbst gut passt. Und man muss auch kein schlechtes Gewissen haben, weil man vielleicht gegen 23 Uhr noch mal in die Küche geht um sich einen Late-Night-Snack zuzubereiten - man wird damit niemanden wecken! Das ist gerade für Autisten wirklich super praktisch, die ihre Rituale soo dringend brauchen.
- Man kann (fast) alles selber entscheiden.
Besonders für junge Erwachsene wichtig: man wird nicht mehr in dem Umfang kontrolliert, wie das noch in der elterlichen Wohnung der Fall war. Sowas wie Schlafenszeiten kann man plötzlich vollkommen selbst für sich entscheiden, bzw. man muss auch niemand mehr fragen, wenn man jemand zum Übernachten einladen möchte. 😅 Ist ja dann die eigene Wohnung. Die meisten Eltern haben natürlich nichts dagegen, wenn man sich einen Freund einlädt, oder mal jemand bei einem schlafen soll, aber natürlich musste man immer fragen, bevor man jemand einfach so eingeladen hat. Komplette Entscheidungsgewalt kann natürlich auch schwierig sein, weil man erst einmal lernen muss, welche Routinen und Rituale für sich selbst wichtig und sinnvoll sind, aber grundsätzlich ist das richtig cool.
Nachteile einer eigenen Wohnung
- Man ist natürlich alleine.
Was ein Vorteil ist, hat auch meistens eine Kehrseite der Medaille. Gerade das Allein sein, ist eine extreme Umstellung am Anfang. Man muss sich erst einmal daran gewöhnen, dass nicht mehr rund um die Uhr ein Ansprechpartner mit in der Wohnung ist. Ich habe das große Glück, dass meine Familie sehr dicht dran wohnt. Meine Mama wohnt in derselben Straße, meinen Bruder und meinen Papa kann ich fußläufig erreichen. Wenn irgendetwas ist, rufe ich nur einmal kurz an und meine Mama ist da oder ich gehe zu ihr. Das Glück hat aber nicht jeder, das sollte man sich natürlich überlegen, ob man das aushalten kann. Unter Umständen wäre eine Wohngemeinschaft eine bessere Alternative, wenn man Schwierigkeiten hat alleine zu leben (also ohne Mitbewohner).
- Einige Dinge werden zumindest am Anfang noch kräftig schief gehen.
Es ist unmöglich alle Fähigkeiten zu entwickeln, die man benötigt, wenn man in einer eigenen Wohnung leben möchte. Manche Dinge müssen einfach in die Hose gehen, damit man daraus lernt. Learning by Doing. Ich zum Beispiel hatte am Anfang ganz arge Probleme damit meine Wohnung ordentlich zu halten und regelmäßig zu putzen. Zugegeben, das ist auch jetzt noch nicht meine Stärke, aber es klappt schon wesentlich besser als noch am Anfang, als ich hier eingezogen bin. Man muss mir immer noch manchmal liebevoll in den Popo treten (Achtung: nur ein Sprichwort!), aber grundsätzlich habe ich das wesentlich besser im Griff.
Am Anfang kann es hilfreich sein, wenn z. B. die Eltern regelmäßig zu Besuch kommen und Hinweise geben, was besser gemacht werden muss, bzw. was zu beachten ist und gelegentlich mal die Post mit durchgehen und überprüfen, ob sie schon bearbeitet wurde, bzw. was sonst erledigt werden muss. Gerade bei solchen wichtigen Angelegenheiten kann das sehr wichtig sein, aber das machen die meisten Eltern ja ohnehin von selbst. Wichtig ist natürlich auch, dass man demjenigen beibringt, was er selbst tun kann, damit es besser funktioniert und ihm nichts durch die Lappen geht.
- Man ist für alles selbst verantwortlich.
Der Vorteil an mehreren Leuten in einer Wohnung ist natürlich, dass man die Verantwortung teilt. Gerade wo alles noch neu ist, kann das sehr schnell überfordernd sein. Weil teilweise einfach auch die Erfahrungswerte fehlen. Man muss einkaufen, Wäsche waschen, regelmäßig die Wohnung putzen, Rechnungen bezahlen, Post bearbeiten, Miete begleichen, vielleicht Treppe putzen, ... An alles muss man selbst denken und hat auch nicht ständig jemand da, der einen unterstützt. Vor allem wenn es ein Tag war, an dem man überreizt ist, fällt es einem unheimlich schwer, überhaupt noch irgendetwas im Haushalt zu machen. Auch hier ist es sinnvoll, wenn die Eltern am Anfang noch Unterstützung geben.
Fazit
Eine eigene Wohnung fördert in jedem Fall unheimlich die Selbstständigkeit und ist sinnvoll, wenn der autistische Mensch viel Ruhe und Zeit für sich braucht. Außerdem ist es natürlich auch wichtig, dass er lernt allein klar zu kommen, weil die meisten Eltern nicht unsterblich sind. (Das soll keine Angst machen, aber spätestens wenn dieser Punkt erreicht ist, stehen die Autisten die nur bei ihren Eltern gelebt haben, irgendwann da und wissen überhaupt nicht was sie tun sollen.) Wichtig ist, dass besonders am Anfang noch regelmäßige Unterstützung durch die Eltern oder andere Familienmitglieder bzw. durch Ambulant Betreutes Wohnen gewährleistet ist. Über das ambulant betreute Wohnen, werde ich im nächsten Beitrag schreiben.
Habt einen schönen Tag!
Anne
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