Würde ich eine Anti-Autismus-Pille nehmen?

Hallo!

Um Irritationen vorzubeugen: es gibt aktuell (und höchstwahrscheinlich auch in Zukunft) kein Medikament gegen Autismus. Aber rein hypothetisch - was wäre wenn? Würde ich mir ein solches Medikament geben lassen? Ich finde das ein spannendes Gedankenexperiment, darum geht es heute mal genau um diese Frage.

Erleichterungen

Ein Anti-Autismus-Medikament würde mein Leben in jedem Fall erheblich erleichtern:
  • Es wäre wesentlich leichter auf andere Menschen zuzugehen/neue Leute kennenzulernen.
  • Es wären keine Kopfhörer/Ohrenstöpsel mehr erforderlich um z. B. zum Eishockey zu gehen.
  • Ich hätte keine Reizüberflutungen mehr.
  • Es gäbe keine Ausraster mehr, wenn sich mein Plan schlagartig ändert.
  • Ich könnte mich wesentlich besser in andere Menschen hineinversetzen und emphatisch agieren.
  • Es gäbe keine Missverständnisse mehr, weil ich Ironie/Sarkasmus/Sprichwörter verstehe.
  • ...
Die Vorteile eines solchen Medikaments liegen natürlich auf der Hand. Man könnte noch dutzende weitere aufzählen, dabei wird man glaube ich nicht fertig, zumal jeder Autist/jede Autistin natürlich individuelle Vorstellungen davon hat, welche Fähigkeiten sie gern hätten, die sie durch den Autismus nicht haben. Ich glaube die oben genannten Veränderungen würde kein Autist der Welt freiwillig ausschlagen, einfach weil das Gegenteil davon (also der jetzige Ist-Zustand) das Leben doch ziemlich einschränkt, den einen mehr, den anderen weniger - aber die Schwierigkeiten sind alle ähnlich. Ich sehe allerdings auch 

Negative Auswirkungen eines solchen Medikamentes

Und das ist meines Erachtens sogar der spannendere Teil. Warum würden Autisten vielleicht trotz der positiven Dinge auf die Einnahme eines solchen Medikamentes verzichten? 
  • Der Besuch meiner Autismus-Selbsthilfegruppe wäre nicht mehr erforderlich und das fände ich irgendwie sehr schade. Denn die Menschen sind mir schon gut ans Herz gewachsen.
  • Vermutlich würde ich meinen sagenhaften Blick für Details verlieren. (Ich sehe z. B. auf den ersten Blick wenn meine Kollegen den Namen von einem Kind falsch geschrieben haben, sowas springt mir direkt ins Auge. Ich bin auch super gut in solchen Aufgaben wie "Finde die einzige 8 unter den Nullen!")
  • Höchstwahrscheinlich hätte ich an der Ausübung meiner Spezialinteressen nicht mehr so viel Spaß. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Besuch eines Rummels nicht mehr so viel Spaß machen würde, wenn man sich nicht noch ringsherum mit so vielen Sachen beschäftigen würde.
  • Ich würde höchstwahrscheinlich den einen oder anderen Freund verlieren. Die Menschen kennen einen mit Autismus - sie sind es nicht anders gewohnt. Wenn der Autismus wegfallen würde, würde sich zwangsläufig auch der Charakter und das Verhalten des Menschen ändern, der dieses Medikament bekommen hat. Das Gehirn von autistischen Menschen hat eine andere Arbeitsweise als das von Neurotypen - dadurch sehen wir gewisse Dinge auch anders und verhalten uns zum Teil anders als neurotypische Menschen. Damit kämen viele Menschen vermutlich nicht klar.
  • Ich würde meine 5 zusätzlichen Urlaubstage verlieren, die ich durch meine Schwerbehinderung habe. (Just Kidding - erstens habe ich den Ausweis nicht auf Autismus und zweitens wäre das niemals ein Grund für mich, auf eine solche Chance zu verzichten.)
  • ...
Die Gründe, warum man auf ein solches Medikament verzichten würde, sind natürlich auch wieder von Autist zu Autist unterschiedlich. 

Aber würde ich es nun nehmen?

Das ist eine verdammt gute Frage. Ich wünsche mir sehr sehr oft, dass Autismus einfach heilbar wäre, weil sich dann reichlich Baustellen in meinem Leben einfach so in Luft auflösen würden. Das wäre schon wunderschön. Aber: (fast) jedes Medikament hat Nebenwirkungen. Was wäre das vom Anti-Autismus-Medikament? Das wäre natürlich wichtig zu wissen. Außerdem: vertrage ich es? Ich habe verschiedene Allergien... 3) Wie schmeckt es und was muss ich tun, damit es wirkt? Muss man es mehrfach nehmen oder ist nur eine einmalige Einnahme erforderlich? Und wie wirkt es sich auf meinen Charakter aus? 

Was ich sehr schwierig finde: das Medikament hätte eine direkte Auswirkung auf das Gehirn. Autismus ist ja im Prinzip ein anderes Betriebssystem des Gehirns, ein solches Medikament würde einen quasi komplett auf links drehen. Mit samt des Charakters, seinen Eigenschaften, seinen Gedanken und Empfindungen zu bestimmten Dingen, etc. Das ist schon ein gruseliger Gedanke... Wenn ich wüsste, dass es nur die Beschwerden wegmacht (also Reizüberflutungen, Probleme mit Planänderungen, Schwierigkeiten sich in andere Menschen hineinzuversetzen, etc.) würde ich keine Sekunde zögern. Wenn es den Autismus dagegen komplett heilen würde, würde ich es glaube ich ablehnen, weil ich viel zu große Angst davor hätte, dass sich mein Charakter komplett verändert... Denn der Charakter ist unweigerlich mit dem Autismus verbunden, weil er teilweise davon bedingt ist. Mein ganzes Leben wäre ein anderes, wenn ich das Medikament nehmen würde. Ich müsste mich komplett neu orientieren in meiner Umwelt... Hätte höchstwahrscheinlich komplett neue Interessengebiete, würde auf einmal ganz anders meine Umwelt wahrnehmen... Ganz ehrlich? Ich glaube, dass mich das überfordern würde, zumindest von jetzt auf gleich und komplett. 

Ich vermute daher, dass ich das Medikament nicht nehmen würde. So widersprüchlich das auch klingen mag, wenn man meinen regelmäßigen Wunsch nach einer Heilung von Autismus hört. Denn eigentlich wünsche ich mir ja nicht, dass mein Autismus komplett gelöscht wird - er hat ja durchaus auch Vorteile... Ich möchte von den negativen Auswirkungen befreit werden (siehe erster Abschnitt). Den Rest würde ich schon gern behalten. Aber wie es in der Medizin immer so ist: aller Wahrscheinlichkeit gibt es nur hop oder top. Entweder ganz oder gar nicht. Wenn ich durch ein Medikament stundenweise von den Beschwerden befreit werden könnte (unter Beibehaltung des normalen Charakters), würde ich es in jedem Fall nehmen, egal was es kostet und egal wie es schmeckt. Auch wenn ich mit Charakterveränderung einhergehend die Möglichkeit hätte, das Leben eines Neurotypens zu erfahren, würde ich keine Sekunde zögern, aber so für immer mit allen Auswirkungen, die es nun mal hat, würde ich es ablehnen.

An die AutistInnen unter euch: wie würdet ihr diese Frage beantworten? Würdet ihr ein solches Mittel nehmen? Wenn nein - warum nicht? Wenn ja - welche Vorteile überwiegen für euch den Nachteilen? Schreibt es gern mal in die Kommentare!

Habt einen schönen Tag und viel Spaß bei dem Gedankenexperiment!
Anne

Kommentare