Sind AutistInnen kindischer?

Guten Tag!

Neulich hat ein Familienangehöriger meinen Schloss Einstein-Ordner entdeckt, wo ich Übersichten über diese Fernsehserie sammle. Die Reaktion war: "Oh je. Bist du nicht langsam mal zu alt dafür?" Zugegeben, Menschen in meiner Altersgruppe gehören nicht mehr unbedingt in die Zielgruppe von Schloss Einstein. Außerdem höre ich gelegentlich auch noch Bibi Blocksberg/Bibi und Tina/Benjamin Blümchen als Hörspiele (mittlerweile bei einem Streaming Dienst). Und ich weiß, dass auch viele andere AutistInnen sich noch für Dinge interessieren, für die sie eigentlich schon zu alt sind und sich nicht mehr dafür interessieren dürften. Oder sie reagieren im sozialen Kontext teilweise immer noch wie Menschen, die eigentlich eher jünger sind. Es gelingt ihnen z. B. vielleicht nicht eine sachliche Diskussion zu führen oder sie reagieren mit einem Wutanfall wenn sie gerade ein Spiel verloren haben, obwohl man das jetzt eher mit kleineren Kindern verknüpft. Sind Autisten kindisch und irgendwie nicht richtig entwickelt? Ich würde sagen: nein. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Ich möchte heute ein bisschen über die Gründe dafür aufklären und ein bisschen für Verständnis werben.

Autismus ist eine Entwicklungsstörung.

Unser Gehirn ist kein Multitasking-Talent, es kann sich immer nur auf ein was richtig intensiv konzentrieren, danach kommt der nächste Schritt. Und genauso ist es auch in der kindlichen Entwicklung. Wenn das Kind zum Beispiel gerade krabbeln lernt, wird es in der Regel nicht gleichzeitig riesengroße Sprünge in der sprachlichen Entwicklung machen. Das Gehirn ist mit dem erlernen des neuen Bewegungsablaufs viel zu intensiv beschäftigt, als dass es sich gleichzeitig noch mit einem anderen Bereich stark beschäftigen kann. Wenn sich das Kind zum Beispiel gerade sprachlich ganz stark weiterentwickelt, bleiben die anderen Bereiche auf dem Stand stehen, den sie bereits erlernt haben. Wenn dieser Entwicklungsschritt abgeschlossen ist, kommt der nächste an die Reihe. In der Regel entwickeln sich Kinder immer ungefähr gleich. Ungefähr im Alter von anderthalb Jahren können die meisten Kinder laufen, wenn sie ein Jahr alt sind sprechen sie erste Wörter, das kann sich allerdings auch hinziehen, bis sie zweieinhalb Jahre alt sind. Wie lange die Entwicklung dieser Teilbereiche dauert, kann sich je nach Kind um ein paar Monate unterscheiden - schließlich ist jedes Kind ein bisschen anders, aber grundsätzlich erlernen sie in bestimmten Altersstufen ganz bestimmte Dinge. Die Entwicklung von Kindern verläuft in der Regel sogar derartig identisch, dass der Kinderarzt anhand von Tabellen erkennen kann, ob bei dem Kind eine Entwicklungsverzögerung vorliegt.

Bei Autismus handelt es sich allerdings um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Entwicklungsstörung an sich bedeutet zunächst erst einmal nur, dass das Kind sich nicht so entwickelt, wie es im Regelfall passieren sollte. Also dass das Kind zum Beispiel auch mit drei Jahren noch nicht sprechen kann, obwohl es organisch theoretisch in der Lage dazu sein müsste. Oder dass es mit zwei Jahren noch krabbelt. Nur weil manche Kinder eine Entwicklungsstörung haben, muss das aber noch lange nicht bedeuten, dass sie es niemals erlernen können - es dauert teilweise nur etwas länger als gewöhnlich und muss ggf. durch Physiotherapie, Logopädie oder Ergotherapie unterstützt werden. Tiefgreifend ist eine Entwicklungsstörung dann, wenn nicht nur ein Entwicklungsbereich verzögert ist, sondern mehrere. Zum Beispiel die soziale und die sprachliche Entwicklung, oder noch mehr Entwicklungsbereiche. Das Gehirn eines Kindes mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung muss also immer doppelte Arbeit leisten. Es entwickelt sich in dem nicht betroffenen Entwicklungsbereich im Normbereich und muss aber gleichzeitig noch die Entwicklungsschritte nachholen, die es bis dahin noch nicht erlernt hat. Nun kann aber kein Mensch zaubern - wie ich bereits erwähnt habe: unser Gehirn ist nicht multitaskingfähig - schon gar nicht wenn es um die Entwicklung geht. Kinder fühlen sich in der Regel im Alter von 3 - 12 Jahren von Hörspielen angesprochen. Wenn die Kinder aber entwicklungsverzögert sind, kann das dazu führen, dass sie erst im Alter von 6 Jahren so richtig Spaß daran entwickeln, weil sie es vorher vielleicht noch gar nicht richtig nachvollziehen können, was da passiert... Ist es dann ein Wunder, wenn man sich zum Beispiel noch im Alter von 16 für Hörspiele interessiert? Die verzögerte Entwicklung erklärt aber auch, warum noch ein 15-jähriger ausflippen könnte, wenn er bei einem Spiel verliert - die Frustrationstoleranz muss einfach noch ausgebaut werden. Man kann von entwicklungsverzögerten Menschen einfach nicht verlangen, dass sie sich zu 100 % altersgemäß verhalten.

Es dient der Entspannung.

Wie ich in dem Beitrag über Routinen schon geschrieben habe, sind die Gehirne von Neurotypen und Autisten anders verschaltet. Man kann es gut mit dem Straßenverkehr vergleichen. Die Gedankengänge die durchlaufen werden bevor eine Entscheidung getroffen wird, sind die Straßen. Die Straßen von Neurotypen sind untereinander miteinander vernetzt, wie in einem bunten Wollknäuel. Ein Beispiel: die Bahn fällt aus, man muss aber zu einem wichtigen Termin. Um zu einem Termin zu kommen nutzen Autisten die Straßen A, B und C (diese Schritte sind nacheinander notwendig um pünktlich anzukommen - also erst mit der Bahn zum Bahnhof, dann zu Haltestelle Musterstraße, dort steigen wir in die Bahn X um dann noch die Teststraße entlangzulaufen). Wenn die Bahn ausfällt, stoßen sie beim befahren der Gedankenstraße B auf eine Sackgasse. Sie müssen nun zunächst zu Straße Z - der Notfallstraße, wo sämtliche Straßen abzweigen wenn irgendwo eine Sackgasse ist. Neurotypen nutzen sofort eine der zehn Abzweigungen die unter anderem auf Straße B liegen und kommen sofort auf die Idee, dass am Bhf ja auch noch die S-Bahn fährt. Ich vermute ihr versteht was ich meine. Bei Neurotypen sind die Gedankenstraßen mit lauter Abzweigungen und Trampelpfaden versehen, bei Autisten fehlen diese Trampelpfade, sodass sie immer erst einmal einen riesigen Umweg "fahren" müssen um weiter machen zu können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir erheblich mehr Denkarbeit leisten müssen, als das bei neurotypischen Menschen der Fall ist. 

Wenn wir uns nachmittags dann also mit einem Themengebiet beschäftigen, womit wir uns bereits im Alter von 12 Jahren intensiv auseinander gesetzt haben, dann ist das Thema zugegebenermaßen nicht altersgerecht. ABER: wir kennen den Inhalt dieses Thema in vielen Fällen bereits in- und auswendig, es ist keine zusätzliche Hirnleistung mehr erforderlich. Eine alte Serie zu schauen vermittelt Sicherheit - es gibt keinerlei Überraschungen, weil man die Serie ja bereits geschaut hat und genau weiß was gleich kommt. Wir können uns dabei massiv gut entspannen! Und das ist immens wichtig! Wenn wir nonstop unser Gehirn mit irgendwelchen neuen Informationen füttern würden, wären wir irgendwann überfordert. Das geht Neurotypen doch auch so! Nach der Arbeit kommen zum Beispiel die wenigsten auf die Idee auch noch eine Fortbildung zu besuchen, die mit der Arbeit zu tun hat! 

Fazit und: Muss man sich denn unbedingt immer erwachsen verhalten?

Ja, in gewissen Fällen kann es sein, dass autistische Menschen kindlicher wirken, als das bei Neurotypen in ihrem Alter der Fall wäre. Das liegt zum Beispiel auch daran, dass sie soziale Regeln nicht unbedingt beachten (warum ist ein Thema für einen anderen Beitrag) - sie z. B. ganz offen und ehrlich und ohne Kompromisse ihre Meinung sagen, obwohl man das im Erwachsenenalter vermutlich nicht mehr erwarten würde, weil die meisten Erwachsenen wissen, dass manche Kommentare andere Leute verletzen. In der Regel gibt es aber sehr gute Gründe dafür. (Zum Beispiel eine Entwicklungsverzögerung)

Ich kann aber ohnehin nicht nachvollziehen, warum neurotypische Menschen immer wieder der Meinung sind, sich dazu äußern zu müssen, dass das womit man sich beschäftigt, nicht der üblichen Altersgruppe entspricht. Ist das denn sooo schlimm, dass man das unbedingt kommentieren muss? Es hat doch auch was nostalgisches wenn man sich mit Dingen beschäftigt, die man in seiner Kindheit gemacht hat. Wofür gibt es Pokemon Go? Doch wohl nicht ausschließlich für Kinder - es gibt so viele Erwachsene die dieses Spiel spielen, weil es sie an ihre Kindheit erinnert hat. Genauso wie die ganzen Handyspiele - aufgrund der extrem vielen In-App-Käufe gehe ich schwer davon aus, dass sie für Erwachsene konzipiert worden sind. Es ist doch vollkommen in Ordnung gelegentlich einfach mal abzutauchen und sich in seine Kindheit zurückzuversetzen. Wer nie irgendetwas macht, dass eigentlich eher einem Kind zugeschrieben wird, der werfe den ersten Stein. 

Akzeptiert eure Mitmenschen doch einfach mal so wie sie sind. Wenn sich jeder Erwachsene nur mit Serien beschäftigen würde, die ihrem Alter entsprechen, wären die youtuber die alte Kinderserien hochladen doch vollkommen nutzlos. :-) Habt einen schönen Tag und spielt doch einfach auch mal wieder Kind. Ihr werdet sehen wie sehr ihr das genießt.

Anne

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