Warum Autisten sich oft nicht optimal ernähren

Guten Tag,

viele Eltern bzw. Begleiter autistischer Kinder/erwachsener AutistInnen bzw. AutistInnen selbst werden mir sofort zustimmen, wenn ich folgende These aufstelle: AutistInnen ernähren sich häufig nicht gerade optimal. Entweder:

1. Sie essen zu wenig. (oder)
2. Sie essen zu viel. (oder)
3. Sie essen überwiegend ungesunde Lebensmittel. (oder)
4. Sie ernähren sich häufig sehr einseitig. 

Seid getröstet: es geht euch nicht allein so. Ich kenne einige AutistInnen die Schwierigkeiten mit dem Essverhalten haben (inklusive mir, leider. Bei mir treffen die Punkte 2 - 4 zu. Ich hatte aber auch schon eine Phase, da habe ich entschieden zu wenig gegessen.) Es ist nicht so, dass wir überhaupt kein Interesse daran haben uns gesund zu ernähren. Klar - auch wir essen super gern Knabbereien, Süßigkeiten oder Fastfood - das trägt nicht gerade zu einer gesunden Ernährung bei, der andere Teil ist allerdings unverschuldet - er liegt in unserem Störungsbild begründet. 

Gestörtes Sättigungs-, Hunger- oder Durstgefühl

Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung haben teilweise Probleme, die Signale die ihr Körper aussendet, adäquat wahrzunehmen. Das führt dazu, dass sie zu spät oder gar nicht erkennen, wenn sie Durst haben, hungrig sind oder wann sie genug gegessen haben und satt sind. Neurotypische Menschen nehmen in der Regel die typischen Körpersignale wie Magenknurren, Durstgefühl oder Völle wenn sie ausreichend gegessen haben, sehr gut wahr. Auch der Körper von autistischen Menschen löst diese Signale aus - Autisten spüren ihren Körper aber nicht so intensiv, wie das bei Neurotypen der Fall ist und "überhören" diese Mitteilungen. Die logische Folge ist, dass je nachdem welche Signale nicht (oder schlecht) wahrgenommen werden, dauerhaft zu wenig/zu viele Lebensmittel oder Getränke zugeführt werden. 

Ich versuche gerade abzunehmen, habe aber tatsächlich echt Schwierigkeiten damit. Mein größtes Problem darin ist mein Sättigungsgefühl. Ich nehme es wahr, aber leider erst, wenn ich schon kurz vor dem platzen bin. Ergo esse ich oft zu viel, obwohl mein Körper bereits bei einer deutlich kleineren Menge ausreichend Nährstoffe bekommen hätte. Außerdem ist es oft ein ziemliches Problem zu entscheiden, was eine angemessene Portionsgröße sein könnte. Inzwischen nutze ich einen meiner Lieblingsbecher als Maßeinheit (bis zum Ende des bedruckten = angemessene Portionsgröße für Nudeln), oder zwei Brötchen sind ausreichend, aber ansonsten ist es meist wirklich schwierig so etwas abzuschätzen.

Es gibt uns Sicherheit, immer dasselbe zu essen.

Die meisten autistischen Menschen haben das Lebensmotto: "Bloß keine Überraschungen." Am allerliebsten sind uns eigentlich Routinen und dazu zählt auch, größtenteils immer dieselben Lebensmittel zu uns zu nehmen. Mein typischer kulinarischer Tag ist:

Frühstück: 

- Naturjoghurt mit Tiefkühlfrüchten und Müsli/Haferflocken
- Alternative: Brezel vom Bäcker/Brötchen mit Honig, Marmelade

Mittagessen:

- etwas aus der Kantine auf Arbeit
- Alternative: etwas bestelltes (es stehen eigentlich nur 4 verschiedene Lokalitäten zur Verfügung)
- Alternative: Brötchen mit Wiener (selbstverständlich nur von einem bestimmten Bäcker)

Abendbrot:

- 2 Brötchen mit Butter und Schinken
- Alternative: Nudeln oder auswärts essen

Aber auch beim Mittagessen ist es nicht so, dass ich alles esse, was in der Kantine angeboten wird... Ich habe ca. 10 Gerichte, die gegessen werden (manche auch nur mit weggelassenen Komponenten), der Rest kommt gar nicht in die Tüte, weil ich die Hauptbestandteile nicht mag. Tatsächlich bin ich unglaublich wählerisch, ich habe nur eine Handvoll akzeptierter Lebensmittel. Die auch nicht mit allen Zubereitungsformen (Kartoffeln als Brei/Mus werden z. B. nur von Mama/Papa zubereitet gegessen, ansonsten sind sie nicht tolerierbar.) 

Ab und zu, ganz selten, überkommt mich der Gedanke, dass ich mal ein neues Lebensmittel ausprobieren möchte. Dann wird es aber mitnichten sofort gegessen. Ich muss mich erst mal gedanklich eine Weile damit auseinandersetzen, ob ich das wirklich kosten möchte. Und dann auch niemals allein - immer mit einer Bezugsperson gemeinsam (Freundin oder Familie). Und schon gar nicht pur, erst mal verarbeitet in einem Gericht, dass ich so eigentlich ganz gern esse. Zucchini z. B. hätte ich pur niemals ausprobiert - verarbeitet in einem Puffer war sie aber okay. Denn da musste ich mich nicht mit der Konsistenz und dem Geschmack beschäftigen - sie war nämlich nicht herauszuschmecken. Brokkoli habe ich neulich auch gekostet - als Kartoffel-Brokkoli-Auflauf. Danach nicht noch mal, obwohl es nicht schlecht war. Jetzt möchte ich Zucchini auf ein neues Level bringen - verarbeitet in einer Gemüsepfanne, also schon in ihrer Reinform. Bisher ist es aber nur bei der Idee geblieben. 

Bei neuen Lebensmitteln bestehen zu viele unbekannten Komponenten: wie schmeckt es, wie ist die Konsistenz, werde ich es vertragen (bei Allergikern), ... Es zu probieren bedeutet, sich darauf einzulassen, dass man keine Ahnung hat, welche Reize man gleich wahrnehmen wird. Viel zu anstrengend. Wisst ihr was ich meine? Unsere gewohnten Lebensmittel sind keine Überraschung mehr, es erfordert keine besondere Verarbeitungsleistung, es wird quasi automatisch gegessen. 

Aufgrund festgefahrener Rituale ist es schwer, das Essverhalten zu ändern.

Das wird mir gerade beim abnehmen zum Verhängnis. Die meisten Leute verstehen nicht, dass ich mich nicht einfach mal gesünder ernähre und einfach die Chips weglasse oder z. B. Schwarzbrot esse statt Weizenbrötchen. Bei mir ist das Problem, dass ich erst gar nicht merke dass ich Hunger habe, wenn ich ihn spüre, dann brauche ich aber sofort Food. Bis ich dazu komme, mir etwas richtiges zuzubereiten, greife ich dann zunächst auf die Chips zurück, weil die sofort verfügbar sind. Was soll ich statt den Chips als Ersatz nehmen? Es gibt nichts, das so zuverlässig sofort greifbar ist. 

Und die ungesunden Lebensmittel gegen gesunde Lebensmittel zu ersetzen ist ebenfalls schwierig. Die Brötchenzubereitung gehört zum Abendritual: 12 min 30 s in den Ofen, 20 min abkühlen lassen - währenddessen Butter und Schinken aus dem Kühlschrank auf den Tisch legen, damit sie die korrekte Konsistenz erreichen, essen. Und ich kaufe tatsächlich auch immer eins zu eins dieselben Brötchen. Als Alternative werden eigentlich nur Toast und ganz bestimmte Sorten Schwarzbrot/Mischbrot akzeptiert. Die aber eigentlich nur im Notfall. Ich müsste also ein safes Lebensmittel gegen ein Alternativprodukt eintauschen. Wenn ich aber statt des Brötchens Schnitte essen würde, muss ich erst eine neue Routine erarbeiten - wie oft toasten, damit es die perfekte Konsistenz hat? Ihr merkt, es ist schwieriger als ihr denkt. 

Was kann helfen, damit die Ernährung besser wird?

- Gebt uns konkrete Maßeinheiten an die Hand, die wir für die Bestimmung einer angemessen Portion anwenden können. (Am allerbesten sind Zahlen, also Grammanzahl, 2 Hände, etc.)

- Stellt einen Trinkplan/Essplan auf. (Wenn kein Hunger-/Durstgefühl vorhanden sein sollte) Wenn diese Körpersignale nicht wahrgenommen werden, muss das eben anhand eines Plans geregelt werden.

- Wenn tatsächlich eine Mangelernährung vorliegt (fragt den Arzt, der kann das mit einem Bluttest recht einfach feststellen), könnt ihr es mit "Bestechung" versuchen. (Erst wird eine winzige Menge von dem unbekannten/ungeliebten Nahrungsmittel gegessen, als Belohnung gibt es danach das gewünschte Lebensmittel.)

- Stellt das neue Lebensmittel immer wieder wie selbstverständlich mit auf den Tisch. Am allerbesten ist es, wenn ihr es selbst esst und das ganze gar nicht weiter thematisiert. Irgendwann wird das Kind von allein neugierig und schnappt sich mal ein Stückchen davon. Vielleicht zermatscht es die Kiwi erst mal nur mit der Hand und legt sie dann wieder zur Seite. Seid nicht enttäuscht - das nächste Mal leckt es vielleicht schon an der Kiwi... Wir brauchen Zeit um uns an neue Dinge zu gewöhnen und benötigen zum Teil intensive Beschäftigung damit - vor allem Kinder! (Das machen auch neurotypische Kinder teilweise so.)

Ich wünsche euch ganz viel Erfolg beim ausprobieren und viel Mut und Geduld, wenn ihr selbst gerade vor habt, an eurer Ernährungsweise etwas zu verändern. Ihr schafft das!! 👊💪

Anne

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