Sollte man eine Diagnostik machen lassen?

Guten Tag!

"Ihr Kind könnte eine Autismus-Spektrums-Störung haben." Die Eltern haben es vielleicht schon bemerkt, dass ihr Kind vielleicht ein bisschen anders tickt, aber Autismus? Könnte sich der Kinderarzt/die Erzieherin/der Therapeut vielleicht auch einfach irren? Es könnte doch genauso gut sein, dass mein Kind einfach ein bisschen schüchtern oder in der Entwicklung noch nicht so weit ist. Aber was wenn doch? Sollte ich eine Diagnostik machen lassen? Was bringt mir das? 

Genau darüber möchte ich heute schreiben. Wichtig: diese Entscheidung muss jeder für sich selbst treffen, da sollte man sich auch auf keinen Fall von irgendjemand reinreden lassen, ob es Fachpersonal ist oder in der Familie. Dieser Beitrag soll eine rein sachliche Hilfestellung für diese Entscheidung geben. Außerdem möchte ich Familien eventuell ein bisschen die Sorge davor nehmen.

Dieser Beitrag gilt übrigens auch 1:1 für erwachsene Menschen, die glauben, dass sie eine Autismus-Spektrums-Störung haben. Ich habe mich der Einfachheit halber für eine spezielle Personengruppe entschieden, die ich in diesem Beitrag anspreche, es gilt aber auch für euch. Denn die Befürchtungen, die vor einer Diagnose bestehen, sind höchstwahrscheinlich ziemlich identisch. Sollten noch weitere auftreten, die mir jetzt nicht eingefallen sind, gebt mir gern über die Kommentare Bescheid, dann gehe ich darauf noch ein. Auch die Vorteile einer Diagnostik sind weitestgehend gleich. 

Befürchtungen, die vielleicht gegen eine Diagnose sprechen können:
  • Die Diagnose könnte sich nachteilig auf die zukünftigen Chancen auswirken.
Manche Eltern haben Angst, dass die Diagnose bedeutet, dass dem Kind nicht dieselben Chancen offen stehen wie einem "normalen" Kind. Sie haben Bedenken, dass einem zum Beispiel von Anfang an eine Förderschule empfohlen wird, statt es erst einmal in einer Regelschule zu versuchen. Oder dass es vielleicht im Erwachsenenleben dazu führt, dass die Heranwachsenden vielleicht vom Arbeitgeber aufgrund des Autismus nicht genommen werden könnten, weil Berührungsängste ggü. Menschen mit Einschränkungen bestehen. Diese Sorge ist unbegründet. Ich kann sie nachvollziehen, aber: niemand ist gezwungen, die Diagnose irgendjemand gegenüber zu sagen. Man ist nicht mal gegenüber dem Arbeitgeber gezwungen, seine Schwerbehinderung anzugeben. Es kann Vorteile haben, weil man bevorzugt eingestellt werden muss, aber man ist mitnichten gezwungen, diese Diagnose offenzulegen - vorausgesetzt sie wirkt sich nicht auf die Arbeit aus. Das Kind kann demzufolge mit Autismus diagnostiziert werden, die Eltern wissen es, vielleicht auch der engere Familien- und Freundeskreis, für alle anderen kann Max Mustermann aber trotzdem ein ganz normales Kind mit speziellen Eigenheiten sein. 
  • Man drückt seinem Kind den Stempel "behindert" auf
Auch diese Befürchtung könnten Eltern haben. Aber eine Behinderung ist ja nichts, was Eltern ihrem Kind andichten - es ist ja etwas das tatsächlich da ist!! Man bildet sie sich nicht ein, sie wird (so denn vorhanden) von einem Fachmann/einer Fachfrau diagnostiziert. Sie ist im Fall von Autismus seit Geburt vorhanden und taucht nicht einfach so auf. Sie entsteht nicht, weil man mit dem Kind zur Diagnostik geht. Die Diagnostik ist ja lediglich dafür da, festzustellen ob eine Einschränkung besteht, damit man das Kind eventuell besser unterstützen kann. Wenn ein Kind nach einer Diagnostik die Diagnose Autismus bekommt, hatte es die quasi schon vorher. Es hätte sie auch ohne die Diagnostik gehabt. Und wie oben schon gesagt: niemand ist gezwungen, diese Diagnose bekannt zu geben. 
  • Was, wenn mein Kind nicht autistisch ist?
Also so viel vorweg: selbst wenn nach der Diagnostik herauskommt, dass das Kind nicht im Autismus-Spektrum liegt, ist das nicht schlimm. Die Eltern sind ja in aller Regel keine SpezialistInnen im Bereich Autismus, darum gehen sie ja zu einem Spezialisten, der sich auskennt. Meistens haben die Fachkräfte aber bereits eine Idee im Hinterkopf, woran die Schwierigkeiten liegen könnten, wenn es nicht Autismus ist. Denn die haben in aller Regel ein Medizin-/oder Psychologiestudium absolviert und kennen die entsprechenden Störungsbilder, können also weitervermitteln. Und dann weiß man zumindest: okay, Autismus ist es nicht, jetzt können wir weiter suchen. Vielleicht ist euer Kind auch neurotypisch und hat auch keine andere psychische Erkrankung, sondern braucht nur spezielle Unterstützung - dann ist das doch auch super - aber dann kann man euch konkrete Tipps geben. 
  • Eine Diagnostik ist für das Kind unfassbar anstrengend...
Im Diagnostikverfahren wird selbstverständlich versucht, autistische Verhaltensweisen "herauszukitzeln", damit der Untersucher herausfinden kann, ob Autismus vorliegt. Psychologen/Ärzte die Autismus diagnostizieren, sind aber speziell auf den Umgang mit autistischen Menschen geschult und sehr einfühlsam. Als ich bei der Diagnostik war, hat meine Psychologin von Anfang an nicht vorausgesetzt, dass ich ihr die Hand gebe und hat auch keinen Blickkontakt eingefordert. Dabei war da noch nicht einmal klar, ob ich Autismus habe. Es ist auch nicht zu erwarten, dass Verhaltensweisen die euer Kind an den Tag legt (oder ihr selbst, falls ihr erwachsen seid und überlegt, ob ihr euch diagnostizieren lasst) untersagt werden. Die Diagnostikleiter wissen wie AutistInnen ticken und sie WOLLEN ja autistisches Verhalten sehen. Außerdem versuchen sie grundsätzlich, die Situation so stressfrei und angenehm wie möglich zu halten. Es ist also sehr stark davon auszugehen, dass euer Kind während der Diagnostik genauso sein darf wie es ist. 

Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Tests die gemacht werden, eher wie kleine Challenges sind. Ich war mit 18 zur Diagnostik und mir hat es sogar Spaß gemacht - und da wurden die Testverfahren für Erwachsene angewendet. Die Kinder wollen ja quasi dem Tester zeigen, was sie können und es wirkt eher wie ein nettes kleines Spiel. Natürlich ist so eine Diagnostik anstrengend, die Kinder sollen ja Dinge machen, die ihnen nicht so gut liegen und es dauert auch seine Zeit. Aber: der Diagnostikleiter wird dem Kind nie zurückmelden, wenn es die Aufgabe nicht korrekt absolviert hat. Stattdessen wird er es loben. Es gibt tatsächlich auch kein richtig und kein falsch bei den Tests - es geht eher um die Herangehensweise, die der Mensch an den Tag legt, bzw. wie er sich verhält bei bestimmten Dingen. 

Vorteile einer Diagnose
  • Es kann ein Schwerbehindertenausweis beantragt werden.
Ich kann natürlich nicht versichern, dass das Kind auf jeden Fall einen Schwerbehindertenausweis bekommt, aber die Chance, dass das der Fall ist, ist ziemlich groß. Mit einem solchen Ausweis sollen die Nachteile, die der behinderte Mensch durch seine Einschränkung erleidet ausgeglichen werden. Je nachdem wie hoch die Schwerbehinderung ausfällt, kommt man damit zum Beispiel in Museen, Kino, Schwimmbad, oder ähnliche Freizeiteinrichtungen ermäßigt hinein. Ich finde das absolut fair - wie oft kommt es denn besonders mit autistischen Kindern vor, dass man vorzeitig einen Ausflug beenden muss, weil es vielleicht unter Reizüberflutungen leidet? Wenn man dann vorher den vollen Eintritt bezahlt hat, aber vielleicht schon nach einem viertel der Zeit abbrechen muss, hat man ja die doppelte Bestrafung, weil man das Geld "zum Fenster rausgeworfen hat". Es wird quasi davon ausgegangen, dass Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkungen das Angebot nicht in demselben Maß wie gesunde Menschen nutzen kann und das soll durch den geringeren Eintritt ausgeglichen werden. Je nach Schwerbehindertengrad können auch noch Merkzeichen wie H (Hilflosigkeit) oder B (ständige Begleitperson erforderlich) dazu kommen, die z. B. bedeuten, dass die Begleitperson die autistische Person kostenlos begleiten kann, sie hat dann auch freien Eintritt. 
  • Es sind besser abgestimmte Therapien möglich.
Autismus ist zwar nicht heilbar, es gibt aber dennoch Therapiemöglichkeiten, die für eine Erleichterung im Alltag sorgen, bzw. bestimmte Teilschwierigkeiten verbessern können. Zum Beispiel verbessert die Physiotherapie die Körperwahrnehmung und die Koordination, was meist beides bei autistischen Menschen betroffen ist. Auch Logopädie und Ergotherapie können das Kind in seiner Entwicklung voranbringen. Nur weil Autismus nicht heilbar ist, bedeutet das ja nicht, dass das Kind sich nicht weiterentwickeln und seine Fähigkeiten verbessern kann! Es braucht nur eventuell ein bisschen intensivere Unterstützung als neurotypische Kinder, dabei können die Therapien helfen. Derjenige der die Diagnostik macht, kann Empfehlungen geben, welche wirklich notwendig sind und worauf besonders Wert gelegt werden soll. Er kann zum Beispiel eine Empfehlung für den Kinderarzt schreiben, was er konkret verordnen soll. Außerdem gibt es die Autismustherapie, bei der gezielt die Wahrnehmung und Empathie und die Kommunikation, bzw. der allgemeine Umgang mit anderen Menschen speziell gefördert wird. Sie soll das Kind nicht neurotypisch machen, aber auf ein Leben in der neurotypischen Welt bestmöglich vorbereiten. Um diese Therapie in Anspruch nehmen zu können, ist eine Diagnose natürlich unabdingbar. 
  • Die Schwierigkeiten sind endlich erklärbar, bzw. ist Beratung möglich.
Wenn Eltern nicht unbedingt im pädagogischen, psychologischen oder medizinischen Bereich tätig sind und vielleicht keinen anderen Autisten in der Familie haben und das Kind sich nicht hundertprozentig auffällig ist, sind die bestehenden Schwierigkeiten meistens erst einmal nicht erklärbar. Sie wissen nicht, warum sich das Kind so verhält, wie es sich verhält, bzw. warum es sich gewisse Verhaltensweisen auch nach der 100. Ermahnung noch nicht angeeignet hat. Das kann immens frustrierend und erschöpfend sein. Meistens hilft es den Eltern, wenn sie aufgrund der Diagnose dann eine Erklärung dafür haben. Außerdem kann der Arzt/der Psychologe, der die Diagnostik vorgenommen hat, im Anschluss konkrete Hilfestellung geben. Entweder er kann für konkrete Situationen, die immer wieder schwierig sind, konkrete Hilfestellungen geben, zumindest aber kann er weitere Ansprechpartner nennen, die einem dann Unterstützung geben können. 

Fazit: 

Im Prinzip sehe ich nichts, was dagegen spricht, eine Diagnostik in Anspruch zu nehmen. Es kann ein bisschen dauern, einen Termin zu bekommen. Aber Autismus ist ja nichts lebensbedrohliches oder etwas das rapide schlechter wird (es sei denn, es ändert sich etwas gravierendes im Leben der autistischen Person). Es wäre also im schlimmsten Fall etwas Geduld erforderlich. 

Habt einen schönen Tag.
Anne

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