Können AutistInnen schwindeln?

Hallo!

Was denkt ihr? Können wir lügen/schwindeln/flunkern? Die meisten Menschen die man dazu befragt, sind der Auffassung, dass AutistInnen immer die Wahrheit sagen und nicht lügen können. Aber stimmt das überhaupt?

Jein. Grundsätzlich sind wir in der Lage zu schwindeln. Wir sind aber meist nicht erfolgreich.

Wir haben keinen eingebauten Mechanismus, der es verhindert Unwahrheiten auszusprechen. Was allerdings stimmt: wir schwindeln höchst selten und sagen in der Regel die Wahrheit. Nicht weil wir ein besseres Moralempfinden als Neurotypen hätten. Nein, wir sind nur in der Regel nicht besonders erfolgreich damit. Mir zum Beispiel sieht man sofort an, wenn ich den Versuch unternehme zu schwindeln. Ich hab keine Ahnung woran die Neurotypen das erkennen, aber es ist, als würde mir wie Pinocchio die Nase wachsen. (Was sie natürlich nicht tut.) 

Man kann beim schwindeln aber tatsächlich Veränderungen an der Nase ablesen, das ist wissenschaftlich erwiesen! Die Temperatur verändert sich - die Nasenspitze wird kühler, weil lügen uns unter Stress setzt und sich dadurch die Blutgefäße zusammenziehen. Außerdem schwillt die Nasenschleimhaut dabei ein bisschen an, was dazu führt, dass die Nase zwar nicht länger, zumindest aber einen Hauch dicker wird. 

Zur Beruhigung: die Veränderungen sind so derartig gering, dass sie in der Regel nicht auffallen werden, wenn man jetzt nicht explizit Messungen mit Spezialgeräten vornimmt. Ich habe aber eine andere Theorie, warum autistische Menschen beim flunkern signifikant häufiger auffliegen, als das bei Neurotypen der Fall ist:

- adäquater Gesichtsausdruck ist schwer umzusetzen

Um erfolgreich schwindeln zu können ist ein neutraler Gesichtsausdruck erforderlich, der weder besondere Aufregung noch ein schlechtes Gewissen ausdrückt. Die angeflunkerte Person soll glauben, dass es eine realistische Aussage ist und das funktioniert nicht, wenn derjenige der gerade schwindelt, beschämt grinst oder es nicht schafft, der anderen Person dabei ins Gesicht zu sehen. Neurotypen wissen wie ein neutraler Gesichtsausdruck aussieht und setzen ihn automatisch ein. Autisten müssen über diese Frage viel intensiver nachdenken und selbst wenn sie wissen, wie man gucken sollte, ist es noch lange nicht gesagt, dass sie diese Mimik auch korrekt wiedergeben... Ich zum Beispiel muss beim flunkern immer grinsen, bzw. gucke so übertrieben neutral, dass es schon wieder auffällig ist. Wenn man also zu auffällig guckt, hat man fast schon verloren.

- Was muss ich erzählen, damit meine Geschichte glaubwürdig ist?

Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich gut in die andere Person hineinversetzen können. Nun sind Autisten aber leider nicht gerade dafür bekannt, dass ihnen das besonders gut liegt. Wenn der Gesichtsausdruck vielleicht noch funktioniert, so scheitern wir spätestens an dieser Voraussetzung. Wenn ich also flunkere, dann in der Regel eher auf dem Niveau eines 4-jährigen: ich behaupte das Gegenteil von dem was mir angelastet wird. ("Ich hab das aber gemacht!"/"Ich hab das nicht gemacht!") Also quasi nur Flunkereien, bei denen ich mir keine Geschichte ausdenken muss, alles andere ist mir zu anstrengend. Da sage ich lieber gleich die Wahrheit, das ist in 99 % der Fälle viel einfacher, als sich etwas ausdenken zu müssen.

Autisten lügen in der Regel nicht aus Höflichkeit.

"Findest du, dass mir das Kleid steht?" Nein, eigentlich nicht - es lässt deinen Popo ziemlich dick aussehen. "Es steht dir wunderbar! Jetzt noch eine schöne Kette und du bist die Schönste auf der ganzen Hochzeit." Eine solche Konversation wird man mit einem Autisten niemals führen. Ich würde sogar soweit gehen, dass es ein sinnloses Unterfangen ist, Autisten solche Fragen zu stellen. Mir zum Beispiel ist es vollkommen egal, wie die Person in dem Kleidungsstück aussieht. Ich orientiere mich beim überlegen, wie die Person tickt und ob ich sie mag, grundsätzlich nie an den Klamotten. Ich konzentriere mich darauf, welchen Charakter die Person aufweist oder wie sie mich behandelt. Wenn sie ein superlieber Mensch ist, kann sie in einem Kartoffelsack vor mir stehen. Ich bin der Meinung, dass Menschen das tragen können was sie wollen und nicht in irgendwelche Schubladen dafür gesteckt werden sollten. Ich hasse nichts mehr, als wenn Menschen in irgendwelchen Vorurteilen denken. Darum achte ich nicht darauf, ob das Kleid vielleicht den Popo dick macht oder die Farbe den Menschen vielleicht blass macht. Wenn ihm die Kleidung gefällt, ist das doch irrelevant! Ich sage aber durchaus, was mir auffällt. Also zum Beispiel: "Man sieht durch den dünnen Stoff die Unterhose durchdrücken." Ich weiß inzwischen, dass es Menschen verletzen kann, wenn sie ein Kleidungsstück wunderschön finden und ihnen aber jemand sagt, dass es ihnen nicht steht. Aber nur wenn man der Person offen sagt, was man wahrnimmt, kann sie sämtliche Fakten in ihre Kaufentscheidung mit einfließen lassen. Sie hat hinten nun mal keine Augen! Sie anzuflunkern wäre unfair. 

Autisten lügen eigentlich nie, um jemand anderen die Schuld "in die Schuhe zu schieben".

Menschen im Autismus-Spektrum haben einen unfassbaren Sinn für Gerechtigkeit. Wenn ich sage: "Tom hat den Fußball gegen das Fenster geschossen!" dann hat er das auch gemacht und ich habe es explizit gesehen und es besteht nicht das Risiko, dass es vielleicht doch ein anderer Junge war, der Tom nur ähnlich sieht. Wenn ich es selber war, würde ich das auch genauso sagen. Ich hätte ein viel zu schlechtes Gewissen, wenn jemand eine Strafe bekommt, obwohl er gar nichts gemacht hat. Ich würde dann immer daran denken, wenn ich Tom mal wieder sehe oder die Person, der ich das erzählt habe, und ich habe ein verdammt gutes Gedächtnis. In der Regel macht das überhaupt keinen Sinn. 

Zugegeben: wenn ich etwas vergessen habe, dass ich selbst wieder gut machen kann und der andere kriegt keine Strafe dafür, schiebe ich es in seltenen Fällen auf den großen Unbekannten. Also z. B. "Der Milchlieferant hat Lieferschwierigkeiten. Darum ist sie noch nicht da, sie kommt aber Mittwoch." Lieferschwierigkeiten sind nichts, wofür die Firma etwas kann, ergo würde sie nicht bestraft werden dafür und es ist so realistisch, dass man es in der Regel auch nicht nachprüfen wird. Es handelt sich dabei um die klassischen Notlügen, die jeder Mensch ab und zu nutzt.

Aber wenn ich einen großen Fehler gemacht habe, dann gebe ich das auch zu. Es macht überhaupt keinen Sinn in so einem Punkt zu lügen. Man müsste die ganze Zeit aufpassen, dass man sich nicht verquatscht, hätte ein schlechtes Gewissen und in der Regel gibt es immer eine Lösung für das Problem. Mir hat noch niemand "den Kopf abgerissen" wenn ich zugegeben habe, dass ich Bockmist gemacht habe. Im Gegenteil. Mein Gegenüber hat es sogar gelobt, wenn ich es zugegeben habe und es gibt meist "mildernde Umstände". Es gibt keinen Fehler den man gemacht hat, der so schlimm ist, dass man ihn nicht zugeben kann.

Autisten lügen nicht, um einen bestimmten Vorteil für sich zu erlangen.

Situation: Eltern und Kind stehen an der Zirkuskasse. Das Kind ist 8 Jahre alt, aber bis zum Alter von 7 Jahren hat es freien Eintritt, die Eltern könnten also Geld sparen. Also sagen sie zu ihrem Sprössling: "Du bist 7 Jahre alt!! Egal was man dich fragt - du bist 7!" Verkäuferin lächelt Kind gewinnbringend an: "Wie alt bist du denn?" Eltern fangen an zu schwitzen, antworten bevor ihr Kind etwas sagen kann... "Sie ist 7!" Kind entrüstet: "ICH BIN DOCH ABER SCHON 8!!" Eltern: 🙇😫 Kassiererin: 😂😂😂😂 Na liebe Eltern? Kennt ihr diese Situation? Genau wie Kinder auch, sehen Autisten überhaupt keinen Sinn darin, etwas zu sagen, was nicht der Wahrheit entspricht, nur um einen Vorteil dafür zu erlangen. Kinder verstehen nicht, warum sie mit ihrem Alter schwindeln sollten, sie sind doch schon älter und sind vor allem stolz darauf. Sie verstehen nicht, dass die Eltern Geld einsparen. Aber auch Autisten jeglichen Alters sehen meist keinen Grund darin, etwas zu behaupten, das nicht der Fall ist, um einen Vorteil dadurch zu erlangen. Da steht uns unsere moralische Vorstellung dagegen: was uns nicht zusteht, sollen wir auch nicht ausnutzen. 

Autisten würden niemals lügen, um jemanden in strafrechtlichen Angelegenheiten zu schützen.

Ich kenne keine einzige autistische Person, die es moralisch übers Herz bringen würde, jemandem der möglicherweise eine Straftat begangen hat, ein falsches Alibi zu geben. Zugegeben, der Fall wird extrem selten auftreten, aber das möchte ich erwähnen. Vor Gericht würden wir immer ausnahmslos die Wahrheit sagen. Egal, ob die angeklagte Person jetzt unser allerbester Freund, ein Familienmitglied oder unser Feind ist. Weder würden wir unseren Feind mit einer Falschaussage in Bedrängnis bringen, wenn wir genau wissen, dass er es nicht war, noch würden wir unsere Angehörigen schützen, wenn wir wüssten, sie hätten ein Verbrechen begangen. Wir könnten es nicht aushalten, eine Autoritätsperson zu belügen und damit das Risiko einzugehen, dass eine Person die ein Verbrechen begangen hat, nicht bestraft wird oder jemand unschuldiges eingesperrt wird. 

Autisten sind durchaus in der Lage, kleine Notlügen zu verwenden.

Wir sind natürlich auch nicht moralisch perfekt. Auch wir verwenden kleinere Notlügen. Ein Beispiel: meine Freundin und ich hatten einen Lieblingsplatz zum chillen. Die Friedhofsmauer, auf der man super bequem sitzen konnte und die auch von der Höhe her gut erreichbar war. Meine Mutter hat diesen Platz aber immer als gefährlich empfunden, weil direkt vor dem Friedhof eine Straße war und nur ein sehr schmaler Fußweg davor. Sie hat uns also grundsätzlich verboten, auf der Friedhofsmauer zu sitzen. Wenn sie mich nach dem Treffen mit meiner Freundin gefragt hat, ob wir wieder auf der Mauer saßen, hab ich, um Diskussionen aus dem Weg zu gehen durchaus auch ab und zu gesagt: "Nee, wir waren auf dem Spielplatz/auf dem Marktplatz." Einfach weil mir die Gefahr jetzt als nicht allzu groß erschien und ich hinter dem Verbot keinen richtigen Sinn gesehen habe. Oder ein anderes Beispiel: Ich habe Haarausfall und soll mir täglich ein Spray auf die Kopfhaut sprühen, damit die Haare an der Stelle besser wachsen. Wenn meine Mutti mich fragt, ob ich das Spray drauf gemacht habe, sag ich durchaus ab und zu "Ja, hab ich." obwohl ich es in den letzten zwei Wochen mehr vergessen als draufgesprüht habe. Das tue ich nicht, um sie zu verletzen oder ernsthaft anzulügen, sondern um einfach Diskussionen über die Notwendigkeit dieses Sprays entgegenzuwirken. Ich weiß doch selber, dass ich es regelmäßig anwenden muss, damit es was bringt... Es ist also nicht erforderlich darüber zu diskutieren. 

Fazit:

Autisten sind grundsätzlich in der Lage dazu, Worte auszusprechen, die nicht der Wahrheit entsprechen. Sie haben keinen eingebauten Mechanismus, der das verhindern kann. Sie sind aber nicht gut im Lügen und sehen zusätzlich in den meisten Situationen, wo Neurotypen lügen würden, keinen Sinn darin und empfinden es als viel zu anstrengend. Für sie überwiegt der Nachteil, dass sie ewig mit einem schlechten Gewissen rumlaufen müssten, bzw. dass sie sich zu stark dafür anstrengen müssen und tun es daher in den allerseltensten Fällen. 

 

Kommentare