Autismus und Spezialinteressen

Hallo!

Ich habe schon häufiger auf Social Media - Plattformen eine Art "Q & A" gemacht - eine Autistin beantwortet die Fragen der Neurotypen (und vielleicht auch einiger Autisten). Was denkt ihr, was ist einer der meistgestellten Fragen? Tatsächlich fragen ganz viele, was meine besondere Fähigkeit ist. Ich vermute, die Menschen denken dabei an Rain-Man, bzw. das Savant-Syndrom, welches ganz oft in Filmen genutzt wird und in der Regel mit Autismus gleichgesetzt wird. Wie ich in einem anderen Beitrag aber mal geschrieben habe, haben nur ganz wenige Autisten weltweit tatsächlich das Savant-Syndrom, welches mit besonderen Inselbegabungen einhergeht. By the way: Savants müssen gar nicht unbedingt Autismus haben! 

Um den Mythos aus dem Weg zu räumen: es gibt ganz sicher autistische Menschen, die eine Inselbegabung haben, die meisten AutistInnen sind aber genauso intelligent (oder nicht intelligent) wie neurotypische Menschen auch. Was allerdings korrekt ist: viele AutistInnen sind kleine Experten in bestimmten Themengebieten und kennen sich darin in der Regel besser aus, als ihre neurotypische Umwelt. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine Inselbegabung, sondern ein/oder mehrere Spezialinteressen.

Was ist ein Spezialinteresse?

AutistInnen haben meistens recht eingeschränkte Interessen. Stattdessen haben sie eines oder mehrere kleine Interessengebiete, mit denen sie sich intensiv auseinandersetzen und alles Mögliche an Wissen anhäufen, dass sie dazu irgendwie finden können, während sie sich aber für andere Themengebiete so gut wie gar nicht interessieren. Wenn Autisten sich mit ihrem Spezialinteresse beschäftigen, kann es sein, dass sie vollkommen die Zeit und teilweise sogar Grundbedürfnisse vergessen. Mein Spezialinteresse (Tempelritter/Mittelalter) ist durch ein Gespräch mit zwei jungen Männern entstanden, die Tempelritter dargestellt haben. Bevor mein Kumpel und ich uns mit ihnen unterhalten haben, musste ich auf Toilette, ich war müde und ich hatte Hunger/Durst. Es war spät. Eigentlich wollte ich nach Hause gehen, aber mein Kumpel wollte unbedingt mit ihnen reden. Okay, gesagt getan. Setzen wir uns halt mal ein paar Minuten hin. Aus ein paar Minuten sind mind. anderthalb Stunden geworden, die ich so überhaupt nicht wahrgenommen habe. Genauergenommen weiß ich nicht, wie lange wir wirklich mit den beiden da saßen, aber wir haben den Nightliner verpasst - und das will was heißen! Ich hatte keinerlei Bedürfnisse mehr zu gehen...

Ein Spezialinteresse ist also kurzgefasst ein eingeschränktes Themengebiet, in dem wir uns unfassbar gut auskennen, meistens wesentlich besser, als Neurotypen das tun. Das ist aber keine besondere Fähigkeit - auch Neurotypen könnten diesen Kenntnisstand erreichen, wenn sie sich in derselben Intensität mit dem Thema befassen würden. Meistens interessiert sie das Themengebiet aber nicht so stark wie wir, weswegen sie sich eben nicht so gut damit auskennen. Meistens wirkt sich die Beschäftigung mit diesem Themengebiet auf uns sehr beruhigend und entspannend aus, wir nutzen es gern zur Stressminderung. Besonders interessant: für die Beschäftigung mit unserem Spezialinteresse können wir sogar viele Reize aushalten. Ich halte es zum Beispiel sehr gut auf der Kleinmesse aus, obwohl dort viele Menschen sind und es unfassbar laut und reizintensiv ist. Wäre es etwas anderes, könnte ich diese Geräuschkulisse mit Sicherheit nicht (oder zumindest nicht so lange) tolerieren. 

Wie entsteht ein Spezialinteresse?

Habt ihr schon mal gehört, dass man am besten mit Emotionen und allen Sinnen lernt? Was uns besonders bewegt (negativ oder positiv) bleibt in unserem Gedächtnis haften. Ihr könnt euch doch garantiert an die peinliche Abfuhr im Alter von 12 Jahren erinnern, aber dafür nicht an die 3. Klassenarbeit in Mathematik in genau diesem Alter... Vielleicht hattet ihr mit 12 noch keine Abfuhr von eurem Schwarm, aber ich schätze ihr wisst, worauf ich hinaus will. Meistens wird das zum Spezialinteresse, was uns irgendwie besonders begeistert oder beeindruckt hat. Mein Spezialinteressen sind u. a. Kirmes (oder auch Rummel, bzw. hier Kleinmesse genannt), Mittelalter (Heilkräuter, Ritter, Burgen, etc.), Sand, Autismus und Harry Potter (auch Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg und Elea Eluanda haben früher auf jeden Fall dazugehört). Außerdem versuche ich gerade intensiv, die Programmiersprache Java zu erlernen.

Wo das Mittelalter-Spezialinteresse herrührt, habe ich ja im oberen Abschnitt schon erwähnt, mein Spezialinteresse für die Kirmes ist entstanden, weil ich damals auf der Kleinmesse einen jungen Mann kennengelernt habe, der an einem Karussell geholfen hat. Ich bin mit ihm zusammengekommen und ab dem Zeitpunkt war es quasi um mich geschehen. Ich habe angefangen, intensiv die Schausteller bei ihrer Arbeit zu beobachten, zu experimentieren, welche Körperhaltung ich nutzen muss um mich möglichst gut im Karussell halten zu können ohne umhergewirbelt zu werden, ich habe überprüft, was man im Karussell alles machen kann (man kann hervorragend via Gebärden über mehrere Gondeln hinweg kommunizieren, schreiben klappt dagegen nicht so gut...). Außerdem führe ich Listen, welche Fahrgeschäfte ich schon gefahren bin, ... Ich glaube ihr merkt schon allein an dem Abschnitt, wie begeistert ich von diesem Themengebiet bin. Spezialinteressen entstehen also meist durch intensive (vor allem positive) Gefühle. Die wollen wir wieder erleben, also beschäftigen wir uns immer und immer wieder mit dem Thema.

Was ist der Unterschied zu einem normalen Hobby?

Ein Unterscheidungsmerkmal ist meines Erachtens z. B. das Thema. Natürlich gibt es auch Spezialinteressen, die sich mit denen von Neurotypen decken, aber in der Regel sind sie eher "kauzig". Also so Nischen, die die meisten Leute tendenziell eher nicht interessieren.

Wenn wir einmal über unser Spezialinteresse sprechen, können wir nur sehr schwer wieder damit aufhören. Bzw. kommen wir vielleicht überhaupt erst ins reden, wenn einer unser SI anspricht... Meine Bekannten wissen eigentlich ganz genau - wenn sie wollen, dass ich mich unterhalte, lassen sie eine Bemerkung zu Harry Potter oder so fallen - mag ich auch vorher die ganze Zeit geschwiegen haben, so bin ich dann komplett on Fire. Oder auch mal auf einem Referatsausflug. Meine Kollegin wollte ein bisschen Smalltalk betreiben und meinte, der Turm auf den wir gerade zulaufen, hat doch eine gewisse Ähnlichkeit mit Hogwarts - zack, wurde sie mit Harry Potter zugetextet, mir sind alle möglichen Sachen noch dazu eingefallen und konnte ehrlich gesagt kaum wieder von dem Thema abkommen... Oder neulich - es war der letzte Tag mit gemeinsamen Arbeitsweg, bevor mein Kumpel sich in den Urlaub verabschiedet hat - Ritual außer Kraft bedeutet eigentlich immer purer Stress. Mein Kumpel weiß inzwischen aber, wie ich ticke und er hat mich gleich am Anfang gefragt, wie ich den bei Java mit meinem aktuellen Projekt vorankomme und hat mir von Programmen erzählt, die er so geschrieben hat. Ich war im Kopf so derartig mit Java beschäftigt, dass mir überhaupt nicht aufgefallen ist, dass es der erst mal letzte Tag ist... 

Ein weiterer Punkt ist auf jeden Fall auch die Intensität und die Art, sich mit dem Hobby zu beschäftigen. Kennt ihr jemand, der zu seinen Hobbys tausende an Listen führt? Oder immer wieder dieselben Filme/Bücher dazu guckt/liest, weil es noch nichts neues darüber gibt? Dutzende Fakten zu dem Thema auswendig vorbeten kann? Oder ganze Ordner mit Informationen zu diesem Thema füllt? Ich glaube ihr wisst, worauf ich hinaus will. 

Was sonst noch wichtig wäre zu erwähnen

Nicht jede(r) AutistIn hat ein Spezialinteresse. Es ist absolut kein Ausschlusskriterium bei der Diagnose, wenn kein Spezialinteresse vorliegt. Außerdem können die Spezialinteressen wechseln - früher konnte ich z. B. Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg, Bibi und Tina und Elea Eluanda auswendig mitsprechen. Bei Elea Eluanda habe ich sogar eine Art Vokabelheft mit den arambolischen Vokabeln geführt (bin gar nicht sicher, ob ich die nicht nach wie vor kann). Außerdem habe ich Hexenbücher geschrieben, dutzende Quiz über Bibi Blocksberg gelöst, etc. Heute höre ich zwar noch gern die Folgen (inzwischen natürlich nicht mehr über Kassette sondern Streamingdienste), aber interessiere mich eher für Harry Potter bzw. Synchronsprecher im Allgemeinen. Das ist ja auch ganz logisch. Auch AutistInnen entwickeln sich weiter und interessieren sich nicht mehr für die Themen, die sie mit 5 total spannend fanden. 

Auch müssen sich nicht alle AutistInnen täglich mit ihrem Spezialinteresse auseinandersetzen, ich zum Beispiel tue das nicht täglich, wenn ich mich aber damit beschäftige, dann direkt für mehrere Stunden und intensiv. Es gibt aber definitiv AutistInnen, die das jeden Tag tun und die das auch zwingend benötigen, um zur Ruhe zu kommen. 

Das wären jetzt so die wichtigsten Informationen zum Thema Spezialinteresse. Ich würde übrigens nicht ausschließen, dass ich möglicherweise etwas mehr über meine Spezialinteressen geschrieben habe, als unbedingt notwendig gewesen wäre. :D Aber das ist ja charakteristisch für dieses Thema.

Habt einen schönen Tag.
Anne






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