Warum Autismus nichts mit schlechter Erziehung zutun hat

Guten Tag,

viele Eltern autistischer Kinder bekommen von ihrem Umfeld zum Teil den Vorwurf, sie würden ihr Kind nicht richtig erziehen. Vielleicht:

- schauen die Kinder ihrem Gesprächspartner beim unterhalten nicht in die Augen 
(Gilt für ersten und zweiten Anstrich: "Habt ihr ihm nicht beigebracht, dass sich das so gehört?!")
- geben sie Besuch nicht die Hand 

- reden sie gar nicht mit fremden Besuchern, sondern nur mit Mama und Papa/Bruder und Schwester

- erleiden sie gerade einen Meltdown (sieht aus wie ein Wutanfall), weil sie mit den Reizen überfordert sind ("Ihr müsst ihm halt beibringen, dass nicht immer alles nach seiner Nase geht. Wenn er das kapiert hat, tickt er auch nicht mehr ständig aus!")

- essen sie nur ganz bestimmte Lebensmittel ("Der ist doch nur verwöhnt! Gib ihm mal drei Tage nicht das was er haben will - wenn er Hunger hat, wird er schon was anderes essen!")
- ...

Solche oder so ähnliche Sätze werden garantiert schon einige Eltern mit Kindern im Autismus-Spektrum zu hören bekommen haben. Absolut unberechtigterweise. Autismus hat NICHTS mit schlechter Erziehung zu tun! Bei Autismus handelt es sich um eine angeborene - nicht heilbare Entwicklungsstörung. Liebe Eltern autistischer Kinder: lasst euch bitte um keinen Preis einreden, dass ihr eure Kinder "falsch" oder "zu wenig" erzieht. Egal welche Regeln oder Strafen ihr einführt - der Autismus und die damit verbundenen Schwierigkeiten werden niemals verschwinden. Ihr könnt eure Kinder durch liebevolles Unterstützen und dem Nutzen verschiedener pädagogisch-therapeutischer Methoden (wie z. B. den TEACCH-Ansatz, PECS, etc.) das Leben ein bisschen erleichtern und werdet dadurch unter Umständen mit weniger Meltdowns umgehen müssen, weil ihr eurem Kind dadurch die notwendige Struktur gebt, aber ihr könnt den Autismus damit nicht heilen. Ihr seid als Eltern, die jeden Tag mit dem Kind zu tun haben, die absoluten Experten und wisst ganz genau, was in welcher Situation gerade dran ist und was euer Kind gerade braucht. 

Liebe unwissende, die Eltern solche Sätze um die Ohren werfen: glaubt mir, Eltern mit Kindern die unter einer Autismus-Spektrums-Störung leiden, werden auch ganz ohne eure Appelle alles versuchen, um die Situation so gut wie möglich zu verbessern. Denkt ihr es macht den Eltern z. B. Spaß jeden Tag extra für das Kind zu kochen oder es irgendwie davon abzuhalten, sich selbst zu verletzen, weil es durch eine heftige Reizüberflutung gerade vollkommen durchdreht und vielleicht gerade gegen sämtliche verfügbare Gegenstände schlägt? Meint ihr nicht, dass die Eltern auch gern wöllten, dass ihr Kind auch mit anderen Menschen in Kontakt treten kann? Durch solche Sätze macht ihr es ihnen noch schwerer, als sie es unter Umständen ohnehin schon haben. Und ihr tut auch dem autistischen Kind absolut Unrecht. 

Es gehört zum Störungsbild des Autismus dazu, dass Betroffene (egal ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener) Schwierigkeiten haben, soziale Regeln zu verstehen und umzusetzen. Zusätzlich kommt eine andere Reizverarbeitung dazu, meist nehmen autistische Menschen Reize viel intensiver wahr, als ihr das tut. Was für euch selbstverständlich ist, kann für eine(n) Autisten unfassbar ermüdend und anstrengend sein. Schaut doch mal genauer hin und versucht euch in den kleinen Menschen hineinzuversetzen, dem ihr unterstellt, dass er sich nicht richtig zu benehmen weiß! 

- Der vermeintliche Wutanfall kann auch ein Meltdown sein. Er wird ausgelöst durch überfordernde Emotionen oder viel zu viele Reize. Ein autistischer Mensch ist nicht in der Lage, den Meltdown willentlich zu stoppen bzw. zu kontrollieren - vollkommen unabhängig, was man ihm in dem Moment versprechen würde. Es ist eine Überforderungsreaktion des Gehirns! Für den Autisten ist dieser Zustand unfassbar anstrengend. So anstrengend, dass er sich hinterher teilweise kaum noch bewegen kann!

- AutistInnen haben enorme Probleme Mimik und Gestik des Gegenübers zu erkennen und zu verstehen was es bedeutet. Wenn sie ihrem Gesprächspartner in die Augen schauen beim Gespräch, haben sie (je nach Schwere des Autismus) ein einziges Rätsel vor sich. Sie sind dann so sehr mit dem Analysieren eurer Mimik beschäftigt, dass die Hälfte vom Inhalt den ihr von euch gebt, irgendwo in der Mitte verloren geht. Wir können euch wesentlich besser zuhören, wenn wir nicht die irritierende Mimik vor uns haben.

- Jemand die Hand zu schütteln, kann sich anfühlen, als würde man in einen Ameisenhaufen fassen. Viele AutistInnen haben unfassbare Probleme Körperkontakt zuzulassen. Manche können das nicht mal bei Eltern/Geschwistern tolerieren. Ihr seid "Fremde"! Das wäre genauso, als würde euch ein vollkommen fremder Mensch mitten auf der Straße auf die Wange küssen. Das würdet ihr ja auch nicht wollen, und so ist es mit normalem Körperkontakt auch bei manchen Autisten.

- Manche AutistInnen haben Schwierigkeiten damit, neue Dinge zuzulassen. Das liegt an ihrem extremen Bedürfnis nach Routinen. In Kombination mit der veränderten Reizwahrnehmung, kann das dazu führen, dass sie bestimmte Konsistenzen im Mund nicht ertragen können. Sie bekommen dann z. B. Würgereiz, wenn sie weiche Dinge essen sollen oder erleiden im Gegensatz dazu vielleicht Schmerzen, wenn etwas zu knusprig ist, weil sie eine Überempfindlichkeit haben. Durch ihr Routinenbedürfnis sind sie es gewohnt, z. B. immer dasselbe zu essen. Wenn sie plötzlich jemand auffordert, etwas anderes zu essen, kann sie das vollkommen überfordern und aus der Bahn werfen! Das kann in extremen Fällen dazu führen, dass ein Hungergefühl, sie eben nicht dazu bringen würde, auch mal etwas anderes zu essen - sie sind nicht in der Lage, etwas anderes zu essen. (Das ist selbstverständlich nicht bei allen AutistInnen der Fall, aber in manchen Fällen kann das der Fall sein.)

Ich finde es falsch, Eltern autistischer Kinder vorzuwerfen, sie würden ihr Kind nicht richtig erziehen. Denn in 99 % aller Fälle versuchen die Eltern bereits alles um eine Verbesserung der Situation zu erreichen (schon allein, damit ihr Kind ein leichteres Leben führen kann). Bzw. wären die Kinder teilweise aufgrund ihres Störungsbildes (weswegen sie die Diagnose ja bekommen haben) gar nicht in der Lage, aufgrund der Erziehungsmaßnahmen ihr Verhalten zu verändern. 

Macht es ihnen doch bitte nicht noch schwerer als sie es möglicherweise ohnehin schon haben. 
Habt einen guten Tag.
Anne

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