Autismus und telefonieren

Hallo!

Gehört ihr zum Team Whatsapp/Telegram/SMS/Email/etc. oder eher zum Team Telefonieren/Gespräche führen? Also ich gehöre eindeutig zu den Menschen, die tausend Mal lieber eine Email schicken würden, als jemand anzurufen... Durch meine Arbeit hat sich das ein bisschen verändert - ich habe gelernt, dass man teilweise die benötigte Antwort schneller bekommt, wenn man den Kollegen anruft/direkt in das entsprechende Büro geht, aber wenn es irrelevant ist, wie schnell ich die Antwort bekomme und/oder es sich um eine kompliziertere oder emotionale Angelegenheit handelt, würde ich grundsätzlich immer das schreiben vorziehen.

Unfassbare vielen Menschen im Autismus-Spektrum fällt telefonieren nämlich unsagbar schwer.  Es kommt bei manchen AutistInnen darauf an, um welche Art von Gespräch es sich handelt - ich kann z. B. auf Arbeit mehr oder weniger sehr gut telefonieren, weil es sich dabei immer um Gespräche handelt, die in etwa dasselbe Thema haben - mein Aufgabengebiet. Ich hangele mich dann an einem nicht aufgeschriebenen Leitfaden entlang, in dem ich die notwendigen Informationen abfrage, die ich benötige - ich weiß ja, was ich benötige, um das Anliegen bearbeiten zu können. Mal eben beim Pizzalieferdienst anrufen oder einen Termin beim Hausarzt vereinbaren, oder jemanden anrufen um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, so etwas ist dagegen alles andere als einfach! 

Wo liegen die Probleme?
  • Der Gesprächspartner hält sich in der Regel nicht 100 % - ig an ein Telefonierablauf.
Ich habe einen klaren Ablauf, nach dem ich mich richte, wenn ich telefoniere. Auch der ist nicht verschriftlicht, er existiert einfach in meinem Kopf. Es fängt an mit: "Hallo, hier ist G... (mein Nachname)." Danach warte ich auf Rückmeldung ("Hallo Frau G."), anschließend teile ich mein Anliegen mit oder beantworte das Anliegen der anrufenden Person. Wenn die Person aber schon ans Telefon geht mit der Begrüßung "Hallo Frau G..." bin ich schon raus. Ich kann dann meinen Standartsatz schließlich nicht mehr verwenden und muss erst mal schauen, was ich stattdessen sagen könnte. Es ist wie bei einer Perlenkette - eine unvorhergesehene Reaktion am Telefon lässt die Perle zerspringen - es entsteht eine Lücke in der Kette, die ich irgendwie erst einmal überbrücken muss. Einfach die nächste Perle nachschieben funktioniert nicht, ich fange dann an zu grübeln, was ich sagen könnte... Ich bin quasi aus dem Konzept gebracht. Da das Gegenüber das mich anruft, meinen insgeheimen Leitfaden nicht kennt und vermutlich selbst keinen konkreten eigenen hat, können solche "Kleinigkeiten" innerhalb eines Telefonates recht häufig auftreten, und das ist unfassbar anstrengend.

  • Bei nicht-dienstlichen Gesprächen ist unklar, wie das Gespräch verläuft.
Bei den meisten Telefonaten, die nicht zu unserem Aufgabengebiet gehören, sondern eher privater Natur sind, können wir uns nicht wirklich darauf einstellen, wie sie ablaufen. Wenn wir täglich eine Pizza bestellen oder einen Termin vereinbaren würden, würde das auch irgendwann problemlos laufen, weil wir dann für diese Art Telefonat ebenfalls eine Art Leitfaden hätten - so gehen wir aber "volles Risiko" - weil wir keinen Plan haben, wie das Gespräch verlaufen wird. Das macht es für viele AutistInnen unmöglich, einfach mal spontan irgendwo anzurufen. Bei Telefonaten wie Geburtstags-Gratulationen kommt noch das Problem dazu, dass die meisten von uns nicht besonders gut im Smalltalk führen sind, wir wissen also nicht, was wir sagen sollen. 
  • Spontane Anrufe reißen uns manchmal raus. Außerdem besteht Unsicherheit.
Ich weiß auch von einem bekannten Autisten, dass er ein großes Problem hat, wenn er spontan angerufen wird. Einerseits erschrecken wir uns teilweise vor dem plötzlichen Geräusch, zum anderen reißt es uns aus unseren Aktivitäten raus, in die wir danach erst einmal wieder reinfinden müssen. Problematisch ist auch, wenn die Telefonnummer nicht bekannt ist - wer ist da dran und was zur Hölle will derjenige von mir?! Je nach Tagesform gehe ich bei unbekannten Nummern einfach nicht ran - die werden knallhart ignoriert. (Geht auf Arbeit natürlich nicht, aber da bin ich daran gewöhnt.) 

Was könnte uns helfen? 
  • Es sollte automatisch auch eine Emailadresse bei Schreiben/auf Websites angegeben werden.
Das große Problem liegt eigentlich darin, dass wir oft zum telefonieren gezwungen werden, weil manche Institutionen oder z. B. Arztpraxen keine Emailadresse angeben. Das ist nicht nur für uns anstrengend, sondern ist auch für z. B. Gehörlose oder nicht-sprechende Menschen ein immenses Problem.  Uns wird dadurch ein wichtiger Kommunikationsweg einfach geklaut. Es würde uns massiv helfen, wenn ihr in Schreiben oder auf die Websites automatisch auch den Kommunikationsweg der Email eröffnen würdet. (Ich habe jetzt eine Hausarztpraxis gefunden, die sich auf diesen Weg einlässt!)
  • Setzt nicht voraus, dass wir anrufen. 
Gerade im privaten Bereich sind viele ja nicht unbedingt begeistert, wenn Geburtstagsglückwünsche per WhatsApp, etc. eingehen. Es gilt als unpersönlich. Gerade bei autistischen Menschen kann aber genau das Gegenteil der Fall sein! Wenn wir euch schreiben, haben wir viel mehr Zeit zu überlegen, was wir schreiben wollen und können es auf euch zuschneiden. Wenn wir anrufen, ist das meist vom Smalltalk her so anstrengend, dass wir das Gespräch einfach nur kurz halten wollen - und dann spucken wir die üblichen Floskeln aus, die es gerade erst unpersönlich machen!
  • Teilt uns vorher mit, wenn ihr telefonieren wollt. 
So könnt ihr sicherstellen, dass wir dann auch wirklich Zeit für das Telefonat haben und uns auch ganz auf euch konzentrieren und nicht nebenbei noch in einem anderen Thema festhängen gedanklich. Außerdem kann es sinnvoll sein, wenn ihr uns vorher schon sagt, worüber ihr reden wollt. Dann können wir uns schon mal Gedanken darüber machen und ihr erhöht die Chance, dass ihr eine wohldurchdachte Antwort bekommt. 

Habt einen schönen Tag.
Anne

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