Autismus und Mimik - Teil 1

Guten Tag,

eines der mit Abstand größten Probleme von autistischen Menschen, ist das Erkennen der Mimik im Gesicht des Gegenübers. Je nachdem, wie oft ein Autist mit Neurotypen zusammen ist und wie intensiv er sich darin übt, ist diese Fähigkeit mal besser und mal schlechter ausgeprägt. Insgesamt kann man aber festhalten, dass es Autisten unheimlich schwer fällt, anhand von Mimik und Gestik zu erkennen, wie das Gegenüber sich gerade fühlt. 

Grundemotionen vs. Unterformen der Emotionen

Was viele Menschen im Autismus-Spektrum recht zuverlässig erkennen ist, ob es der Person gerade grundsätzlich gut oder eher nicht so gut geht. Wir haben gelernt, dass weinen zum Beispiel bedeutet, dass die Person traurig ist, ein strahlendes Gesicht für Freude steht, eine schreiende Person ist meist wütend und jemand der zittert hat Angst oder friert. Unser Vorteil ist, dass nahezu alle Menschen weltweit diese Basisemotionen identisch über das Gesicht ausdrücken. Da wir diese Emotionen natürlich in gewisser Weise selbst kennen (wir sind ja keine Roboter, sondern Menschen) können wir also einschätzen, ob das gerade ein positives oder ein negatives Gefühl ist. Sobald es aber keine der üblichen Grundemotionen sind, wird es schon verdammt schwierig. Zu den Unterformen zähle ich mal zum Beispiel Verlegenheit, Unsicherheit, Eifersucht, Neid (ist das dasselbe?), Abscheu, Überraschung, etc. Eben diese winzigen Abstufungen. Dadurch dass es so viele Gefühle gibt, ist es nahezu unmöglich, sich alle dazu passenden Gesichtsausdrücke zu merken. 

Und hier liegt das Problem. Neurotypen lernen diese Gesichtsausdrücke nicht auswendig und gleichen sie mit einer Art Datenbank ab, sondern wissen intuitiv wie sich ihr Mitmensch fühlt. Ich weiß nicht, wie die Neurotypen das machen, sie können es einfach. Ich vermute, dass es mit den Spiegelneuronen (sie sind dafür zuständig, dass wir das Gesicht verziehen, wenn ein Mitmensch sich stößt, weil wir wissen, dass das weh tut) zu tun hat, die bei Menschen mit Autismus schwächer ausgebildet sind. 

Übungen sind, wenn vorhanden, kaum alltagstauglich

Um dieses Missverständnis vorweg zu nehmen: egal wie intensiv AutistInnen diese Fähigkeit trainieren - sie werden nie intuitiv erkennen, wie sich ihr Gegenüber fühlt. Tatsächlich würde ich es eher mit einer Art "auswendig lernen" vergleichen, wenn es denn überhaupt funktioniert. Im Berufsbildungswerk wurde mit mir eine Art Trainingsprogramm am Computer gemacht. Dabei wurden immer wieder verschiedene Gesichter mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken gezeigt und man musste mit Multiple Choice entscheiden, wie die Person auf dem Foto sich fühlt. Nach einer Weile habe ich dann fast immer richtig gelegen, bin aber im Alltag keinen Deut besser geworden. Wie denn das? Nun, ganz einfach: die Bilder haben sich innerhalb eines gewissen Zeitraums (mehrfach pro Trainingseinheit) wiederholt und ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis... Ich vermute, ihr wisst worauf ich hinaus will. 

Es gibt so gut wie keine Übungen, mit denen Autisten diese Fähigkeit trainieren können. Schon gar nicht im Selbststudium und auch die professionellen Programme wie das, was man mit mir ausprobiert hat, sind nicht wirklich geeignet. Warum das nicht? 
  • Multiple-Choice-Auswahl
 Die meisten Übungen, die man z. B. im Internet findet (meist Selbsttests von z. B. Brigitte, etc.) sind mit Multiple-Choice. Es wird quasi ein Bild gezeigt und man bekommt unten drunter Antwortmöglichkeiten, die einem vorgeben, wie sich die Person fühlen könnte und man entscheidet sich für eine. 1. ist es zu einfach - die Antwortmöglichkeiten sind so unterschiedlich, dass man nur nach dem Ausschlussverfahren gehen muss. Ein weinender Mensch ist schon mal nicht fröhlich, erste Antwortmöglichkeit raus. Überrascht ist er vermutlich auch nicht, also bleibt nur traurig. Und 2. und das ist meines Erachtens der wichtigste Punkt: im Alltag hält die Person auch kein Schild mit drei Antwortmöglichkeiten bereit, aus denen man sich eine aussuchen kann. Da muss man ganz spontan und vollkommen ohne Hilfestellung erkennen, was gerade Phase ist.
  • Man hat Ewigkeiten Zeit, das Gesicht zu analysieren.
Im realen Leben bewegt das Gegenüber quasi sekündlich seine Gesichtsmuskeln und verändert damit die Mimik. Man hat niemals die Zeit, sich so lange, wie man eben braucht, das Gesicht anzuschauen und die Mimik zu analysieren. Natürlich komme ich mit viel Überlegungsarbeit irgendwann zu einem guten Ergebnis, wenn ich das Foto lange genug angestarrt habe. Wenn ich im richtigen Leben aber herausfinden will, wie es ihm geht, muss ich das innerhalb von Sekundenbruchteilen herausfinden, schon allein, weil es für das Gegenüber irgendwann unangenehm ist, länger angestarrt zu werden. 
  • Mimik ist viel zu überdeutlich dargestellt
Menschen die mit dem Ziel "Gefühle ausdrücken" fotografiert werden, geben sich meist allergrößte Mühe, diese Gefühle extrem deutlich darzustellen. Ich weiß nicht, wie sie das machen - ich kann z. B. nicht attock wütend oder verängstigt schauen, weil ich keine richtige Idee habe, wie das aussieht. Tatsache ist aber, dass die Emotionen überdeutlich ausgedrückt werden. Das ist gut für den Anfang, wenn man gerade lernt, den Gesichtsausdruck zu den Emotionen zu analysieren. In der Realität gucken die meisten Menschen dann aber leider nicht so überdeutlich, die meisten haben ihre eigene Variante eine Emotion auszudrücken. Manche Menschen zum Beispiel drücken ihre Gefühle so gut wie gar nicht über Mimik aus (Autisten zum Beispiel), andere lächeln zum Beispiel obwohl sie traurig sind, weil sie keine Lust haben, über ihre Empfindungen zu sprechen. (Dann haben wir natürlich erst Recht keine Chance.) Wir können uns nicht auf die in unserer persönlichen Datenbank eingespeicherten Bilder verlassen. 

Besondere Probleme, die sich durch die fehlende Fähigkeit ergeben

Autisten fallen vom Verhalten gegenüber ihrer Mitmenschen häufig unangenehm auf. Woran das liegt? Nun, ganz einfach. Wenn man nicht erkennen kann, dass eine Person gerade wütend ist - kann es eben passieren, dass man sie unbewusst auch noch provoziert. Wenn wir nicht erkennen, dass es der Person gerade nicht gut geht, können wir keine Rücksicht nehmen und verhalten uns in der Regel einfach ganz normal. Es ist ja nun weiß Gott nicht so, dass wir unsere Mitmenschen gern verletzen, etc. Wir haben es nur einfach ungleich schwerer, uns korrekt zu verhalten, weil korrektes Verhalten in dem Fall raten gleich kommt.

Außerdem ist es unglaublich anstrengend die ganze Zeit Informationen durch Mimik und Gestik ausgesetzt zu sein, die man aber überhaupt nicht verwerten kann. Es handelt sich hierbei tatsächlich um eine Art Fremdsprache. Neurotypen entnehmen Mimik und Gestik teilweise mehr als Worten! Man sagt ja teilweise auch "Blicke sagen mehr als tausend Worte". Sie sprechen die Sprache der Mimik und Gestik nahezu fließend. Uns dagegen fehlen dadurch extrem viele Informationen, die wir uns mühsam aus allen möglichen Kleinteilen zusammenpuzzlen müssen.  Natürlich versuchen wir zusätzlich den Gesichtsausdruck zu verstehen, leider habe ich schon ein paar Mal die Erfahrung gemacht, dass Menschen wie ein Stein gucken, wenn sie traurig sind oder Schmerzen haben. So einen Gesichtsausdruck haben wir aber nicht in der Datenbank und wissen darum erst Recht nicht, was gerade Phase ist. Es ist total furchtbar nicht zu erkennen, wie es unseren Lieblingsmenschen geht... 

Wie überbrücken wir dieses Problem?

Ich verlasse mich grundsätzlich eigentlich gar nicht auf Gestik und Mimik meines Gegenübers. Damit kann ich eh nichts anfangen. Am allermeisten orientiere ich mich anhand der Stimme. Aus der kann ich wesentlich besser herauslesen wie es der Person geht. Außerdem frage ich natürlich extrem viel nach. Es muss für Außenstehende manchmal echt strange wirken, wenn ich ständig frage "Wie geht es dir?" Es ist aber keine Floskel - ich will es wirklich wissen. Es ist zum Beispiel für mich auch super schwierig zu unterscheiden: ist jemand traurig oder ist er "nur" müde... Die Mimik bei den beiden Gefühlen sieht super ähnlich aus. 

Nächste Woche kommt eine Fortsetzung zu diesem Thema mit folgenden Fragen:
  • Wie können wir diese Fähigkeit verbessern?
  • Was können Neurotypen tun, um uns das Leben diesbezüglich ein bisschen leichter zu machen?
  • Welche Hilfsmittel können uns helfen? 
Habt einen schönen Tag!
Anne

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