Autismus und Freundschaften

Guten Tag!

Können autistische Menschen Freundschaften führen? Das ist eine Frage, die ich ausnahmsweise mal nicht mit einem klaren ja oder nein beantworten kann. Es ist wirklich schwierig, weil ich mir nicht mal bei mir selbst sicher bin. Grundsätzlich möchte ich daran erinnern: allein wegen Autismus ist einem Menschen nichts per se unmöglich. Es handelt sich immerhin um eine Spektrums-Störung, was bedeutet, dass jede/r AutistIn seine eigenen Stärken, Schwächen und Charaktereigenschaften, Interessen hat. Warum ist die Frage so schwer zu beantworten? Ein essenzielles Symptom des Autismus ist, dass wir Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion haben - was ja aber für eine Freundschaft unabdingbar ist. Hier kommt es auf die Schwere des Autismus, Unterstützung von außen, etc. an. Vielen Menschen im Autismus-Spektrum fällt es schwer, Freundschaften zu führen. Warum? 

Kontaktaufnahme

Das ist eine der Hauptschwierigkeiten... Wie baut man Kontakt zu einem Menschen auf, den man kennenlernen möchte, ohne direkt merkwürdig zu wirken? In welcher Intensität sollte man das Gegenüber anlächeln? Breites Grinsen oder lieber doch neutral? Sollte man es antippen oder vielleicht winken? Ansprechen oder doch lieber Zettel/Kommunikationskarte? Was würde sich als Gesprächseinstieg eignen? Habe ich darauf geachtet, dem Gesprächspartner in die Augen zu schauen?

Ich denke, ihr wisst worin das Problem liegt. Das was Neurotypen nebenbei und situationsabhängig spontan, individuell für jede neue Person entscheiden, erfordert für Autisten eine unfassbare Denkleistung. Wir müssen bewusst über jede einzelne Wahlmöglichkeit nachdenken, was dazu führen kann, dass die Person vielleicht schon weitergegangen ist, bevor wir überhaupt IRGENDETWAS davon umsetzen können. Oder sich vielleicht dann mit jemand anderem unterhält, wodurch wir dann wieder von neuem überlegen müssen, denn die Situation ist ja nicht mehr die Gleiche wie die, auf die wir uns vorbereitet haben gerade...

Sollen wir mit "offenen Karten" spielen?

Für die Autisten: das heißt in dem konkreten Fall: geben wir von Anfang an bekannt, dass wir die Diagnose Autismus haben, oder verschweigen wir es erst mal? Beides kann Vorteile haben. Der Nachteil von Offenheit in diesem Punkt: nicht jeder Neurotyp kommt gut mit Behinderungen/Besonderheiten einer anderen Person klar. Es kann passieren, dass ein Kontaktaufbau schon endet, bevor er richtig angefangen hat, wenn wir sagen, dass wir Autismus haben. Wichtig: bevor ihr in so einem Fall frustriert seid: wenn die Person nicht mit eurem Autismus klar kommt, dann ist sie es ohnehin nicht wert, mit euch befreundet zu sein. Ihr seid keine Monster, Aliens, etc. - wir haben nur eine andere Art zu denken und Reize sowie Gefühle zu verarbeiten. An sich nichts, weswegen man nicht mit uns befreundet sein könnte. Es gibt aber nun mal Menschen, die vlt. aus Vorurteilsgründen nicht mit Menschen mit Einschränkungen befreundet sein möchten. 

Es kann daher sehr hilfreich sein, direkt von Anfang an offen zu sein und die Diagnose preiszugeben (bitte nicht in den ersten drei Sätzen, eher so in den ersten vier Gesprächen). Damit kann man schon mal "abklopfen" wie die Person so tickt. Außerdem hat unser Gegenüber dann natürlich überhaupt erst die Möglichkeit, sich auf unsere Bedürfnisse und Besonderheiten einzustellen. Wenn es bekannt ist, kann die andere Person zum Beispiel von Anfang an versuchen, Ironie und Sprichwörter zu vermeiden und versteht auch, woran es liegt, wenn Missverständnisse auftreten.

Unterschiedliches Bedürfnis an Kontakt

Ich weiß nicht, wie es anderen AutistInnen geht, aber ich habe folgendes Problem: entweder mir sind Menschen egal, ich find sie einigermaßen okay, sie sind wichtige Kontaktpersonen (z. B. Kollegen, medizinische oder psychologische Mitarbeiter) oder es sind direkt Bezugspersonen. Nahezu alle Menschen mit denen ich befreundet bin, sind Bezugspersonen. Und zu denen brauche ich dann auch extrem viel Kontakt. Und wenn ich sage extrem viel, dann meine ich es auch. Neurotypen würden es auch als klammern bezeichnen. Ich mach das tatsächlich nicht mit Absicht - sie sind einfach meine Hauptansprechpartner, und da ist es ja ganz natürlich, dass ich häufig Kontakt zu ihnen suche. Leider habe ich es jetzt schon mehrfach erlebt, dass den Neurotypen dieser Umfang an Kontakt deutlich zu viel war. Für sie ist es anstrengend, jeden Tag zu schreiben/anderweitig zu kommunizieren. Hier treffen dann zwei verschiedene Bedürfnisse aufeinander, was es sehr anstrengend für beide Parteien macht. Das Problem ist: dadurch, dass sich schon einige abgewendet haben, weil es für sie zu viel Kontakt war, habe ich grundsätzlich Sorge, ich könnte die Person verlieren und klammer noch mehr. Zwickmühle. 

Häufige Missverständnisse

Außerdem besteht das hohe Risiko, dass zwischen neurotypischen und autistischen Menschen öfter Streitigkeiten auftreten, weil eben so unterschiedliche Bedürfnisse da sind und weil unsere Art zu kommunizieren eine andere ist. Wir nehmen Ironie z. B. des Öfteren wörtlich, wovon sich der Neurotyp dann möglicherweise veralbert vorkommen könnte.

Was könnte helfen, damit eine Freundschaft für beide Parteien gut funktioniert?

  1. Klare Spielregeln 
Es ist zwar einmalig vielleicht ein bisschen mehr Aufwand, aber es kann immens helfen, wenn für die gröbsten sozialen Situationen untereinander klare Spielregeln aufgestellt werden, an die wir uns halten können. Zum Beispiel weiß ich, dass ich zwischen 08:00 Uhr und 17:00 Uhr gar nicht erst darüber nachdenken muss, ob es gerade ein guter Zeitpunkt ist, meinem Kumpel zu schreiben, weil wir vereinbart haben, dass ich während seiner Arbeitszeit nicht schreibe. Zack - Energie für beide Parteien gespart. Er weiß dafür, dass es für mich immens wichtig ist, dass wir uns gute Nacht schreiben, und er hält sich auch daran. Außerdem gilt für uns beide die 5-min-Regel. Er gibt mir 5 min bevor er auflegen oder das Treffen beenden will, Bescheid. So kann ich mich darauf einstellen und bin von der spontanen Entscheidung nicht überfordert, dafür muss ich es schaffen, mich innerhalb der fünf Minuten zu verabschieden, damit wir dann auch wirklich auflegen kann. (Vorher war die Spielregel übrigens unklar - da dachte ich: 5 min und DANACH tschüss sagen... Er hat die Spielregel dann konkretisiert.)

        2. Ehrlichkeit über die Diagnose

Ein guter Freund/eine gute Freundin kann damit umgehen, dass ihr Autismus habt. Wie schon oben erwähnt - nur wenn sie von eurem Autismus wissen, können sie sich auch darauf einstellen und es wird für alle Beteiligten leichter und angenehmer.

        3. Unterstützung bei der Kontaktaufnahme von außen

Liebe AutistInnen - schnappt euch eine Vertrauensperson und übt mit ihr, wie ihr sinnvoll mit einer anderen Person in Kontakt treten könnt. Dafür eignen sich z. B. Rollenspiele sehr gut. Eure Vertrauensperson spielt die Person, die ihr ansprechen und kennenlernen wollt, und ihr spielt euch selbst. Dabei könnt ihr stressfrei erfahren, wie Menschen auf unterschiedlichste Arten der Kontaktaufnahme reagieren könnten und könnt euch in geschütztem Rahmen für die entscheiden, die ihr am besten findet und seid nicht in der spontanen Situation so stark überfordert.

Außerdem kann es helfen, wenn ihr eure Vertrauenspersonen beobachtet, wie die das machen und sie dann "kopieren". Natürlich müssen sie euch dann auch erklären, warum sie so gehandelt haben und nicht anders. Wenn ihr es dann in der Realität ausprobieren wollt, nehmt die Person mit. Sie kann im Bedarfsfall darüber aufklären, dass ihr Autismus habt und euch die Kontaktaufnahme schwer fällt, sie also nicht allzu stark irritiert sein sollen, wenn es noch nicht so hervorragend klappt wie erhofft. 

Fazit:

Es ist für uns tatsächlich nicht leicht, Freundschaften zu führen bzw. überhaupt erst einmal eine aufzubauen. Das bedeutet aber definitiv nicht, dass wir keine Freundschaften wollen - ganz im Gegenteil. Wir brauchen feste Freundschaften, Menschen auf die wir uns zu hundert Prozent verlassen können, denn denen können wir dann auch in schwierigen Situationen vertrauen. Wenn wir mit dem anderen Menschen aber offen umgehen und er zur toleranten Sorte gehört und sich auch ein bisschen auf unsere Besonderheiten einstellt, und wir Unklarheiten sofort besprechen, können auch AutistInnen wunderbare Freundschaften führen. Wir sind die loyalsten KameradInnen die ihr euch nur vorstellen könnt... 

Habt einen schönen Tag.
Anne

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